Stadtentwicklung in Ägypten  Die Hauptstadt Kairo zwischen Vision und Krise

Citadel of Saladin, Cairo
Citadel of Saladin, Cairo © CC BY-SA 2.0 via flickr.com

Trotz Regierungswechsel nach der Revolution des 25. Januars 2011 hat Ägypten immer noch auf vielen Ebenen mit sozialen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen: eine seit Jahren kriselnde Tourismusbranche, Inflation, Währungsdevaluierung und der Abbau von Subventionen sind nur einige Beispiele.  Zur gleichen Zeit leidet die Lebensqualität in der bevölkerungsreichsten Stadt des Landes und des Kontinents Kairo immer mehr.
 

Die Stadt kämpft weiterhin mit einem immensen Bevölkerungswachstum und sozialer Ungleichheit. Das Interview mit der Städtebauexpertin Franziska Laue gibt Aufschluss über die aktuellen Entwicklungen und ihre Bedeutung für die ägyptische Gesellschaft.

Wie hat sich die Stadt Kairo in den letzten Jahren entwickelt? 

Wenn wir über die Zeit nach der Revolution 2011 sprechen, dann muss Kairo sich eigentlich schon seit Jahrzehnten mit dem natürlichen Bevölkerungswachstum und der Landflucht auseinandersetzen. Das natürliche Bevölkerungswachstum liegt ungefähr bei 2,5% bis 3%, wobei ägyptische Städte um 4% jährlich wachsen. Laut der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sind es alle acht Monate knapp eine Millionen mehr Menschen durch natürliches Bevölkerungswachstum. In Kairo spricht man von einer Bevölkerungszahl von ca. 18 bis 20 Mio. Einwohner im Grossraum Kairo. Kairo gehört somit zu den sogenannten Megacities, Städte mit über 10 Mio. Einwohnern. Die Stadt hatte seit jeher als Hauptstadt eine Magnetfunktion und ist insbesondere zwischen den 1970er und 1990er Jahren enorm gewachsen und ist nun die größte Stadt des Landes.

Dieses enorme Wachstum führte unter anderem dazu dass der reguläre Wohnungsmarkt die steigenden Bevölkerungszahlen nicht mehr absorbieren konnte. Informelle Siedlungen sind in diesen Jahren enorm gewachsen, so dass heute im Großraum Kairo laut GIZ geschätzt 80% des neueren Wohnbestandes informell ist. Laut GIZ sind es 9,5 Mio. Einwohner von den sogenannten 18 bis 20 Mio. die im Großraum Kairo in informellen Siedlungen leben.

Es gibt allerdings noch andere Dynamiken, die eine Rolle spielen. Dazu gehören mindestens drei parallele Entwicklungen: Zunächst ist es die offizielle Planung von Stadterweiterung, Stadtquartieren, durchgeführt durch die lokalen Planungsentitäten mit ministerieller Beteiligung. Eine besondere Aktivität ist die Neuplanung von ganzen Städten – Ägypten verfolgt die Politik von neuen Städten unter anderem als Antwort auf diese starken Verdichtungen und Problematiken in bestehenden Städten. Als zweite Dynamik gibt es den lokalen und internationalen privaten Bausektor, der Wohnraum für die mittlere und obere Einkommensschichten baut. Hier sind insbesondere die „Gated Communities“ außerhalb der Kernstadt von Kairo (wie z.B. 6th of October, Shourouk City oder New Cairo) zu erwähnen. Dieser Trend hält seit Mitte der 2000er Jahre weiterhin an. Die dritte Dynamik bezieht sich auf Bevölkerungsgruppen die sich Wohnraum, angeboten auf dem formellen Markt, nicht leisten können. Dieser inoffizielle, parallele Wohnungs- und Bausektor wird auch als informeller Wohnungsmarkt bezeichnet. Hier geht es um beispielsweise junge Familien, zu einem wichtigen Teil auch um Bevölkerung, die aus ländlichen oder strukturschwachen Gebieten nach Kairo kommen. Die findet leichter Wohnraum in den nicht formell geplanten als in den formellen Gebieten.

Ist es also für die ärmeren Bevölkerungsschichten schwieriger geworden?

Naja, Wohnraum zu finden, ja und nein. Der Vorteil von Kairo ist ja, dass es eigentlich keine großartigen geographischen oder topographischen Grenzen gibt außer das Delta und der Wüstenrand, also keine natürlichen Grenzen, die einen Wachstum stoppen. Somit ist eigentlich Raum vorhanden. Daher ist es rein räumlich einfach, sich sozusagen an eine bestehendes Nachbarschaft am Stadtrand anzudocken. Dies kann bei der dritten Dynamik informell passieren, also ohne dass offizielle Planung oder offizielles Bodenrecht geklärt sein können. Logischerweise stellt sich hier ein großes Bündel an Fragen, beispielsweise von (Bau-)Standards, Lage, Anbindung, Versorgung ,Verwaltung, Rechtslage und der Lebensqualität. Verbunden damit stellt sich natürlich die Frage, wie verpflichtet sich dann die lokale Stadtverwaltung, das Governorat, die offiziellen Akteure überhaupt diese informellen Gebiete mitzuversorgen, oder gar erst einmal anzuerkennen.

Steht hinter der Stadtentwicklung Kairos eine politische Strategie bzw. ein Plan für die gesamte Infrastruktur?

Für Kairo gab es ja schon diverse Pläne, unter anderem den „Cairo 2050“ Plan, aus Mubarak Zeiten. Dieser Plan beinhaltet ja auch eine signifikante Umstrukturierung einiger zentraler und peripherer Gebiete von Kairo. Beispielsweise beinhaltetet der Plan die Vision eine große Stadtachse zu den Pyramiden zu planen, was signifikante Bereiche in Giza komplett betroffen hätte. Das hätte auch große Bereiche informeller Wohngebiete mit beeinträchtigt. Die Revolution 2011 kann daher als eine wichtige Zäsur gesehen werden. Ich glaube, ganz wichtig in der Planung ist, das nach 2011 die Zivilgesellschaft eine größere Rolle gespielt hat. Gerade zwischen 2011 und 2013 hat man gespürt, dass offizielle Stellen zivile Akteure und Vereine/NGOs zusammengearbeitet haben. Ein Beispiel ist das Umweltministerium. Auch sind im Bereich Stadtentwicklung und Architektur sogenannte „Community Architects“, also engagierte Architekten, Planer und soziale Unternehmen stärker in einen Diskurs  miteingetreten und sichtbar geworden. Zudem gab es Nachbarschaften wie Miit Oqba in Giza, die sich dann bemüht haben selber Lösungen zu finden. D.h. in der Planung spürte man eine erste Umorientierung.

Allerdings könnte man mit den politischen Umstürzen im Sommer 2013 wiederum noch einmal eine Zäsur nennen. 2011 bis 2013 gab es vermehrt Kooperationen auf der akademischen und internationalen Ebene, man hat das Thema informelle Siedlungen in partizipativen Prozessen weiter voran getrieben. Doch mit 2013 wurde dies wieder erschwert. D.h. Planungen jenseits der Masterplanung, die noch in der Umorientierungsphase waren, wurden wieder schwieriger.

Dann wurde 2014 ein neues Ministerium ins Lebens gerufen: das Ministry of Urban Renewable and Infomal Settlements (Ministerium für Stadterneuerungen und informelle Siedlungen). Erstmals gab es ein Ministerium, das auf höchster Ebene für informelle Siedlungen zuständig war. Allerdings existerte dieses Ministerium nur 14 Monate. Nach einer Umstrukturierung 2015 ging es in dem Ministry of Housing auf.

Bis dahin gab es dieses ambitionierte Vorhaben durch dieses Ministerium, die informellen Siedlungen zu einer Anerkennung und zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Man wollte nun wichtige Infrastrukturen und Lebensumstände verbessern. Darunter war auch das Thema Müll und da ging es gerade auch um die „Zabaleen“, die Lebensumstände, und auch der ökonomische Status dieser informellen Müllsammler. Und das generell die Fähigkeiten dieser Bevölkerung der informellen Siedlungen und das Wissen und die Rechte gefördert werden.Nach der Auflösung ist der Fokus auf informelle Siedlungen und der politische Wille mit informellen Siedlungen zu arbeiten nicht mehr so sichtbar wie vorher.

Informelle Siedlungen sind nicht angemeldete Wohngebiete, richtig?

Es gibt eine Gemeinsamkeit bei allen informellen Siedlungen, und zwar, dass sich die Existenz in der einen oder anderen Form nicht mit dem bestehenden (Planungs-)Recht deckt. Dabei sind zwei Varianten zu nennen. Die Gebiete, die auf öffentlichem Land liegen. Dazu gehört der Prozess des Einsiedelns auf Land, das den Bewohnern nicht gehört. Die Gebäude selber können jedoch einem bestimmten Standard entsprechen; z.B. Stahlbetonbauten mit gebranntem Ziegel oder Betonziegel und mehrstöckig. Das können Gebiete sein, die offen geblieben sind, z.B. für industrielle Zwecke oder andere Zwecken (z.B. Friedhof, Kläranlagen, etc.). Dies betrifft beispielsweise informelle Nachbarschaften östlich des Nils. Das bedeutet eigentlich, dass in dem Moment der Ansiedlung kein Bedarf auf Seiten der Stadt bestand. Somit wurde das Land besetzt. In manchen Fällen haben sich in diesen Gemeinden oder Dörfer, aus beispielsweise Oberägypten, neue Gemeinden im Grossraum Kairo entwickelt.  

Diese informelle Form der Ansiedlung führt dazu dass sich lokale Verwaltungen nicht verpflichtet sehen, beispielsweise das Gebiet zu versorgen, von technischen Infrastrukturen wie Abwasserversorgung bis zur Wasserversorgung, Stromversorgung, Müllversorgung, bis zu sozialen Infrastruturen wie Schulen oder Gesundheitszentren. Somit hat das Gebiet einen verwalterischen und versorgerischen Nachteil. Für die Versorgung findet die Nachbarschaft wiederum informelle Lösungsansätze. Hier finden sich ebenso zivilgesellschaftliche Akteure, die diese Versorgungslücken helfen zu schließen.

Das alles hat ja auch unmittelbaren Einfluss auf die Verkehrslage in Kairo und das diese sehr dicht ist, bekommt man in Kairo sehr schnell zu spüren. Sind die neuen Städte als Lösung für die Verkehrsprobleme gedacht?

Die Kernstadt Kairo hat tatsächlich ein Verkehrsproblem, jedoch nicht allein aus baulichen und rein räumlichen Gründen, sondern auch wie Mobilität verstanden wird und was dafür getan wird. Die Planung von neuen Städten gehört natürlich zu den strategischen Überlegungen im Bestand eine gewisse Erleichterung zu schaffen. Jedoch ist in Kairo ja nichts einfach. Weder die Planung, noch die Gründe. Selbst wenn das Governorat Kairo vor hat, mehr U-Bahn oder mehr öffentlichen Nahverkehr zu bauen. Es gibt stets auch Gegenbewegungen in lokalen Nachbarschaften und somit ist es enorm schwer, sich in einer so dermaßen konsolidierten Stadt wie Kairo, dann noch mit einem Fluss dazwischen, der natürlich auch noch mal intern eine natürliche Grenze bietet und der den Verkehr durch gewisse Nadelöhre führt. Alternativen wären Tunnel oder Fly-over, also Strukturen, um den Verkehr neu zu regulieren. Letztendlich hat sich ja die Stadt oder das Governorat auf der Basis über Jahrzehnte eher eines verkehrsfreundlichen Leitbildes entwickelt. Wenn man für viele Autos plant, dann kommen auch immer mehr Autos hinzu und somit gibt es keine stärkere Infrastruktur für Schienenverkehr oder andere Formen. Das ist ein Teil dieses Zeitgeistes und von Planungsrichtlinien, wie man sie auch aus Europa oder Nordamerika kennt. Wie reguliert man also diese ganze Frage des Verkehrs und wer agiert dagegen, wenn man die Intention hat, den motorisierten Verkehr zu verringern? Ist es überhaupt möglich, gibt es eine Lobby, die stark genug ist, dass es erst gar nicht erst dahin geht? An sich müsste es eine Art komplett Neustrukturierung des ganzen Verkehrssystems geben. Und es bedarf einer neuen Mobilitätskultur.
 
Franziska Laue ist Studiengangskoordinatorin und Lehrende des Master of Science Integrated Urbanism and Sustainable Design der Universität Stuttgart in Zusammenarbeit mit Ain Shams Universität in Kairo. Zurzeit arbeitet und forscht sie zum Thema Klimaanpassungsstrategien im urbanen ariden Kontext. Sie hat im Bereich Stadtentwicklung u.a. in Aleppo (2005, 2007-2011) und Kairo (2013) gearbeitet.