Die Menschen im Gazastreifen erleben den desaströsten Krieg und die schlimmste humanitäre Krise seit Jahrzehnten. Familien werden durch Tod und Vertreibung auseinandergerissen, Städte werden durch israelische Angriffe weitgehend dem Erdboden gleichgemacht, und inmitten knapper Nahrungsmittel und nicht vorhandener lebensnotwendiger Güter kommt es zu Hungertoten. Inmitten all dieses Schreckens versuchen viele trotzdem die festive Stimmung des Ramadan zu erschaffen.
Die strahlende Lichterkette am Zelt von Iman Salah zeigt an, dass der Fastenmonat Ramadan begonnen hat. Die 38jährige hat ihre Ramadan-Deko schon vor Monaten gekauft. Sie war damals gerade aus Gaza ins Flüchtlingslager Nuseirat geflohen und hatte unmittelbar darauf erfahren, dass ihre in der Stadt verbliebenen Angehörigen bei einem der unzähligen israelischen Luftangriffe ums Leben gekommen sind. Um ein Zeichen zu setzen, hat Iman die Ramadan-Lichter gekauft, in der Hoffnung, der Krieg werde bis zur Ramadanzeit vorüber und die Normalität wieder eingekehrt sein. Die Lichterkette war eigentlich für die fluchtartig verlassene Wohnung bestimmt gewesen, aber über deren derzeitigen Zustand weiß Iman nach wie vor nichts.Jedes Jahr zur Ramadanzeit pflegen Muslime in aller Welt die jahrhundertealten Bräuche und begrüßen bei Familienzusammenkünften mit feierlicher Dekoration in festlicher Atmosphäre den Fastenmonat. Millionen Menschen freuen sich auf die ausgelassene und fröhliche Stimmung während des Ramadan. Doch bei den Bewohnern von Gaza, die momentan die schlimmste humanitäre Katastrophe seit Jahrzehnten erleben, mag sich die Feststimmung nicht so recht einstellen. Die Trauer um getötete Angehörige und die Angst um diejenigen, die noch am Leben sind, überwiegen. Tod und Vertreibung haben die Familien auseinandergerissen. Die Stadt ist durch israelische Luftangriffe schwer beschädigt. Die Lebensmittel sind knapp. Es fehlt am Nötigsten. Viele Menschen hungern. Einige verhungern.
Und trotzdem versuchen viele, irgendwie doch ein bisschen Ramadan-Euphorie zu erhaschen.
Während sie ihre Lichterkette anbringt, erzählt Iman: „Mein Herz ist schwer. Echte Freude kann ich bei dem, was ich tue, nicht empfinden. Aber es muss sein, wegen der Kinder.“ Sie zeigt auf ihren neunjährigen Sohn und sagt: „Der hat in den letzten Monaten genug Schlimmes erlebt. Ich tue, was ich kann, um ihn ein wenig glücklich zu machen.“
©Mohamed Solaimane
„Wir werden uns nicht selbst aufgeben.“
Iman erinnert sich an die Mühe, die es gekostet hat, die wenigen Laternen und Lichter zu ergattern, um das Zelt zu schmücken. Sie erzählt, dass ein paar Händler in Rafah und Khan Yunis die Ramadan-Deko vom Vorjahr verkauft haben, zu horrenden Preisen. In ganz Gaza war so gut wie nichts zu bekommen.Weil Israel die Wareneinfuhr streng kontrolliert, mangelt es im Gazastreifen an allem. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs ist davon betroffen. Die Zahl der Bewohner, die verhungern, steigt stetig, weil Essen für viele Menschen nicht erhältlich oder schlichtweg nicht erschwinglich ist.
Deshalb war es für Iman extrem schwierig, auch nur ein klein wenig Feierlichkeit in ihrem Zelt zu verbreiten. Was sie dazu benötigte, war wegen des Kriegs schwer zu bekommen. Batterien sind kaum zu kriegen und kosten zehn Mal so viel wie vor dem Krieg. „Bezahlen konnte ich das bloß“, erklärt sie, „weil wir nur zu zweit sind. Für die meisten anderen Familien ist das gar nicht möglich.“
Mitten in Imans Zelt hängt nun eine große Ramadan-Lampe. Rechts davon hängt eine Lichterkette. Die linke Seitenwand des Zelts hat Iman mit leuchtend bunten Papierfähnchen geschmückt und über dem Eingang des Zelts ist eine Banderole mit dem Schriftzug „Gesegneter Ramadan!“ angebracht.
Iman trägt ein festliches Gewand, das sie extra für den Ramadan gekauft hat, und berichtet mit trauriger Stimme: „Noch nie haben wir solch ein Leid und solch ein Elend erlebt. Niemand hätte gedacht, dass es eines Tages so hart und so schlimm werden wird. Aber jetzt sind wir hier und wir versuchen durchzuhalten. Israelische Bomben diktieren uns, wer sterben muss und wer leben darf. Aber unsere Moral und unseren Geist lassen wir uns nicht nehmen. Wir werden uns nicht selbst aufgeben.“ Und sie schließt mit den Worten: „Ich könnte mit meinem Sohn dasitzen und zuschauen, wie sie uns an Verzweiflung und Resignation sterben lassen, wenn sie es mit Bomben und Raketen schon nicht schaffen. Aber ich werde das nicht zulassen.“
„Die Leute sind wach.“
1,7 Millionen der 2,3 Millionen Menschen im besetzten Gazastreifen sind auf der Flucht. Das Leid der Bevölkerung ist überall deutlich sichtbar und spürbar. Doch mittendrin versuchen Leute, die Lebensfreude der Fastenzeit und die Fröhlichkeit der Ramadan-Nächte aufrecht zu erhalten.Schnüre mit bunten dreieckigen Fähnchen und Bändern hängen an den dicht nebeneinander stehenden Zelten der Flüchtlinge. An manchen Eingängen hängen kleine Laternen. Manche Familien treffen sich, ungeachtet aller Gefahren, unmittelbar vor Sonnenaufgang, um gemeinsam die Morgenmahlzeit einzunehmen, so wie es seit Hunderten von Jahren der Brauch ist.
In Rafah, dem Ort im Gazastreifen, der momentan mit über 1,4 Millionen Flüchtlingen aus allen Nähten platzt und zum jüngsten Ziel der israelischen Luftangriffe geworden ist, haben sich drei junge Männer zusammengefunden, um die jahrhundertealte Aufgabe zu übernehmen, als Ramadan-Trommler in den frühen Morgenstunden die Runde zu machen, um die Menschen mit rhythmischem Versgesang und Trommelschlag zur Morgenmahlzeit und zum Morgengebet zu wecken.
Und so schlängelt sich nun in einem der Lager auch der 21jährige Youssef Abu Hamid zwischen den Zeltschnüren der unzähligen Flüchtlingszelte hindurch und singt einen der traditionellen Weckrufe der Ramadan-Trommler: „Wacht auf ihr Schlafenden! Ewige Lobpreisung! Speist zum Morgen, das bringt Segen!“
Dann fügt er noch, passend zum Krieg, ein paar selbst erdichtete Reimzeilen hinzu: „Ihr auf der Flucht, versucht‘s zu schaffen, indem ihr frohen Mutes seid! Im Ramadan besiegen wir die Traurigkeit! Kommt zur morgendlichen Mahlzeit! Der Krieg geht keine Ewigkeit!“ Dann intoniert der junge Mann bekannte Sufi-Lobpreisungen auf den Propheten, begleitet vom an- und abschwellenden Klang der Trommel.
Die Bewohner des Camps lauschen andächtig. Vorneweg schreitet der 22jährige Mohammed mit einer großen Laterne in der Hand, damit die Gruppe den Weg zwischen den Zelten finden kann, um Jung und Alt dazu zu bringen, aus den Zelten zu kommen und ihnen freudig zuzuschauen und zuzuhören. Der Dritte im Bunde ist Moatasem, 25 Jahre alt. Er begleitet mit wohlklingenden Trommeltönen das anmutige Zusammenspiel von Youssefs Gesang und Lobpreisungen.
Youssef, der schon seit vier Jahren als Ramadan-Trommler in den Straßen von Gaza unterwegs gewesen ist, sagt: „Dieses Jahr geht es nicht darum, die Leute zu wecken. Die Leute sind wach. Sie können überhaupt nicht schlafen, wegen der Detonationen und der inneren Unruhe. Es geht darum, die unerschütterliche Tradition aufrechtzuerhalten und so die Atmosphäre der Angst und der Verzweiflung zu zerschlagen. Die Leute brauchen das.“
Moatasem klinkt sich ins Gespräch ein: „Der Ramadan in diesem Jahr und der Ramadan letztes Jahr, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Letztes Jahr sind wir zwischen Häusern herumgelaufen. Jetzt laufen wir zwischen Zelten herum. Letztes Jahr waren die Menschen glücklich. Heute sind sie so weit davon entfernt, glücklich zu sein, wie nur irgendwas.“
Dieser Artikel erschien in Zusammenarbeit mit Egab.
März 2024