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Blaue Episoden aus der Geschichte der Frauenbewegung

helle Figuren auf blauem Hintergrund © Laura Marija Balčiūnaitė

Ich habe meinen Frieden mit der Farbe Blau gemacht und sie im Laufe der Jahre mehr und mehr in mein Leben zurückkehren lassen. Gleichzeitig bin ich auch weitergezogen und habe einen neuen Begleiter gefunden: Violett.

Brigit Arop

  1. Das Zuhause meiner Kindheit ist in meiner Erinnerung komplett blau. Tatsächlich gab es nur eine fast vollständig blaue Küche, die nach der Renovierung um die Jahrhundertwende fertiggestellt wurde. Da ich mir nicht sicher bin, ob das Zimmer wirklich so blau war, wie ich es erinnere, oder ob meiner Erinnerung es blauer darstellt, als es wirklich war, bitte ich meine Mutter, mir einen Bildbeweis zu schicken – und sie findet zwei Fotos: Eines von sich, wo sie ein hellblaues T-Shirt und einen Rock mit blauen Blumen trägt, ein anderes von mir, wie ich aus irgendeinem Grund in der Küche schlafe. Ich trage eine blaue Jeans-ähnliche Hose, eine türkisfarbene Bluse mit Schulterträgern, ein indigoblaues Kopftuch mit Nierenmuster und als bequeme Ablage für meinen Kopf gibt es noch ein tiefblaues Kopfkissen aus Fleece.
  2. Bei meinen Recherchen zur Geschichte der Freundschaft zwischen Frauen fallen mir zufällig zwei Treffpunkte ins Auge, die sich auf die Farbe Blau beziehen und mich aufgrund völlig irrelevanter Zusammenhänge in eine strudelartige Besessenheit stürzen: Die britische Blaustrumpfgesellschaft (Bluestocking Society) und der Blaue Salon im Hôtel de Rambouillet.
    helle Figuren auf blauem Hintergrund I | © Laura Marija Balčiūnaitė
  3. Als ich Maggie Nelsons Buch „Bluets“ zum ersten Mal las, war es der Corona-Frühling 2020 und meine Freundin T und ich waren mit unseren Freunden zu ihrem Landhaus nach Matsalu gefahren. Ich verschlang den größten Teil des Buches impulsiv wie ein hungerndes Tier und begann dann, aufgrund der bereits gelesenen Menge, geizig zu werden. Insgeheim hoffte ich, Nelsons nächste blaue Korrespondentin zu werden, ihr von blauen Erinnerungen zu erzählen, wie die im Walpurgisfeuer brennenden Kabel oder das Meer im April.
  4. Die literarischen Salons im Paris des 17. Jahrhunderts boten den Frauen der damaligen Oberschicht ein gemütliches Nest, in dem sie ihren literarischen Bestrebungen in Gesellschaft anderer Frauen nachgehen konnten. Der damals übliche literarische Stil, Préciosité genannt, zeichnete sich unter anderem durch ausgelassene, teils herzerwärmende Wortpirouetten aus, was wohl auch der Grund dafür ist, dass diese Bücher nicht mehr gelesen werden. Einer der berüchtigtsten literarischen Salons fand in einem Raum in der Residenz der Madame von Rambouillet statt, der liebevoll „Blauer Salon“ genannt wurde. Diese wöchentlichen Treffen gingen als die ersten ihrer Art in die Geschichte ein, bei denen Männer und Frauen gleichberechtigt teilnehmen und ihre Gedanken äußern konnten. Wenn man so will, können die Treffen dieser Damen als Vorläufer späterer Frauenclubs angesehen werden, denn danach begannen auch Frauen der Oberschicht in anderen Teilen Europas, ihr soziales Leben und ihr Interesse an Kultur neu zu organisieren. helle Figuren auf blauem Hintergrund II | © Laura Marija Balčiūnaitė
  5. Unter der Leitung von Elizabeth Montagu begannen Londons intellektuelle Frauen mit literarischem Interesse Mitte des 18. Jahrhunderts, ähnlich wie die Damen des Blauen Salons, zusammen Zeit zu verbringen. Dieser Salon stand auch Männern offen, so auch dem Botaniker Benjamin Stillingfleet, der, weil er nicht reich genug war, sich die in der Oberschicht üblichen schwarzen Strümpfe zu leisten, stets mit blauen Strümpfen auftrat und damit der gesamten Gruppe den geschichtsträchtigen Namen „Blaustrumpfgesellschaft“ verlieh. Im Laufe der Zeit wurden auch gebildete Frauen außerhalb der Gesellschaft in London und anderswo, die intellektuelle Ambitionen zeigten, als Blaustrümpfe bezeichnet. Obwohl diese Bezeichnung als eine positive Entwicklung zu sehen ist, wird sie oft ironisch verwendet mit einem herablassenden Beigeschmack.
  6. Irgendwann in meinen frühen Teenagerjahren begann ich, Blau zu verabscheuen: Ich wollte keine blauen Kleider mehr tragen, mit blauen Stiften schreiben oder mit meiner Mutter in einer blauen Küche leben. Während Maggie Nelson ihr Buch damit beginnt, ihre Liebe zur Farbe Blau zu bekunden, verabschiedete ich mich ähnlich nachdrücklich von der Farbe Blau und auch von meiner Mutter – eine kraftvolle Unabhängigkeitserklärung, die wahrscheinlich zum Standardrepertoire jedes Kindes gehört, um seine Andersartigkeit und Abgrenzung von genau der Person zu zeigen, die ihm am nächsten ist. Ich habe versucht, eine neue Farbe für mich zu finden. Habe mit Rosa, Rot, Gelb und Grün experimentiert, ohne Erfolg. helle Figuren auf blauem Hintergrund III | ©Laura Marija Balčiūnaitė
  7. Natürlich ist zu beachten, dass sowohl die Treffen der Blausockengesellschaft als auch die des Blauen Salons auf den Kreis der Frauen der Oberschicht beschränkt und daher elitär waren – eine Kritik, die auch über spätere feministischen Bestrebungen geäußert wurde, die stillschweigend andere Erfahrungen als die der weißen Cis-Frauen der Mittelschicht ausschlossen.
  8. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden feministische Clubs als „Bewusstseinsbildungsgruppen“ (consciousness-raising groups) bezeichnet, in denen Frauen zusammenkamen, um Erfahrungen zu Themen auszutauschen, die normalerweise als Tabu galten (z.B. weibliche Sexualität, Abtreibung, Gewalt vom Partner usw.). bell hooks schrieb in dem Buch „Communion: The Female Search for Love“ über die komplexen Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern und wies darauf hin, wie die patriarchale Gedankenwelt den Wettbewerb zwischen ihnen normalisiert und woher solche nicht unterstützenden und nicht solidarischen Beziehungsdynamiken kommen. Indem sie das Konkurrenzverhalten zwischen Frauen dekonstruiert, vergleicht sie die verschiedenen Pfade, über die eine Frau zu unterschiedlichen Zeiten zu einer Feministin wurde. Sie schreibt, sie selbst wurde zu einer Feministin, nachdem sie in ihrer Jugend an Diskussionsgruppen von Frauengruppen teilnahm. Dort habe man sich getroffen, um über Beziehungen zwischen Frauen zu diskutieren: wie sie sich selbst und andere sehen, wie man sich verhält und was man fürchtet, oder was man an anderen Frauen nicht ausstehen kann oder von ihnen erwartet. Der Zweck dieser Gruppen bestand darin, den versteckten Sexismus von Frauen zu kritisieren, welcher eine aufrichtigere Art des Umgangs miteinander verhinderte – Schwesternschaft sollte nicht nur bedeuten, mithilfe einer gemeinsamen Opferposition eine gemeinsame Sprache zu finden, sondern Wege der Solidarität aufzuzeigen und sich gegenseitig zu unterstützen. bell hooks Kritik ist natürlich weiterhin nicht veraltet und legt nahe, dass Frauengruppen, die sich in welcher Form auch immer treffen, in der heutigen Zeit nicht an Relevanz verloren haben, da das Verlernen unsichtbarer sexistischer Verhaltensweisen und das Finden von Solidarität untereinander in jeder Generation wiederholt wird. светлые фигуры на синем фоне IV | © Laura Marija Balčiūnaitė
  9. Ich habe meinen Frieden mit dem Blauen gemacht und ihn im Laufe der Jahre mehr und mehr in mein Leben zurückkehren lassen. Gleichzeitig bin ich auch weitergezogen und habe einen neuen Begleiter gefunden: Violett. Dieses Abschied nehmen hindert mich jedoch nicht daran, gelegentlich die Sehnsucht zu verspüren, mich wieder komplett in Blau zu hüllen, vom Kopftuch bis zur Jeans-ähnlichen Hose, Indigo zu umarmen und dessen schützende Umarmung zu spüren. Vielleicht werden viele von uns die Farbe vermissen, mit der wir aufgewachsen sind? Zum Glück ist Blau immer noch in meiner Nähe, in Reichweite von Lila.

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