Wir
Wohlstand ist auch Sicherheit
Ich hoffe, dass wir uns in Zukunft auf die Strukturen konzentrieren, die den Krieg führen. Denn Krieg ist in erster Linie ein chauvinistischer Kampf um Macht.
Seit der Corona-Pandemie sind wir Zeug*innen der anhaltenden Unterdrückung von Frauen geworden. Die Pandemie führte dazu, dass Frauen eine unbezahlte, aber autarke Einheit bilden mussten, die neben anderen täglichen Aufgaben gleichzeitig als Mitarbeiterin im Home Office, Hauslehrerinnen und Elternteil fungierte, ohne Zeit für Selbstverwirklichung und Erholung und oft auch für berufliche Aktivitäten zu haben. Der daraus resultierende Stress, der von Sozialarbeiter*innen beobachtete erhöhte Alkohol- und Drogenkonsum von Männern und Frauen sowie die schwierige finanzielle Situation bildeten den Nährboden für eine Zunahme häuslicher Gewalt gegen Frauen. Auch war es angesichts der Beschränkungen besonders schwierig, dieser zu entkommen. Nun aber stehen wir vor einer neuen Krise, die hätte verhindert werden können.
Dieser Frühling, der normalerweise mit Blumen und Schmetterlingen einhergeht, wurde durch den Krieg, der im Februar in Europa begann, verändert. Innerhalb der zwei Monate hat niemand gewonnen, aber alle haben verloren: Neben den körperlichen Opfern wurden Häuser, ukrainischsprachige Bücher ebenso wie der Glaube an die Güte der Menschen und die Vorstellung, dass Gewalt in der heutigen Kultur ein Tabu ist, zerstört.
Der Krieg hat nicht auf den Moment gewartet, in dem die Koffer mit dem Nötigsten gepackt waren. Als die ersten Bomben fielen, waren die Menschen noch auf den Straßen unterwegs, lernten in der Schule und entspannten sich in ihren Sommerhäusern. Auf ihrer Flucht nahmen sie nur das Nötigste mit und ließen die Erinnerungen zurück, die uns glücklich machen - Familienalben oder Kinderzeichnungen.
Obwohl die baltischen Länder schon seit Jahren von Russland als Sicherheitsbedrohung sprechen, hat der Rest des Westens dies nicht ernst genommen. Der autoritäre Staat Russland hat jahrelang unermüdlich am Aufbau eines mächtigen, auf Traditionen basierenden Staates gearbeitet, der die Teilhabe und das Engagement von Frauen in der Gesellschaft stark einschränkt. Dieser Autoritarismus zeigt sich auch in der estnischen Politik, wo Konservatismus anstelle von Ritterlichkeit aus irgendeinem Grund vor allem arrogante Faulheit bedeutet und den bevormundenden Wunsch beinhaltet, Frauen zu gehorsamen Sklavinnen zu machen, die bei Bedarf Nahrung oder eine Gebärmutter liefern.
Am Jahrestag der Gründung der Republik Estland begann in der Ukraine der größte militärische Konflikt Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Auswirkungen der damit einhergehenden humanitären Krise werden wir definitiv noch Jahre später spüren. Millionen haben die Ukraine verlassen, Zehntausende sind gestorben, und ein Ende des Krieges scheint trotz des großen Friedenswunsches des Westens nicht in Sicht.
Zwischen Anfang März und Ende April kamen mehr als 30.000 Kriegsflüchtlinge in Estland an, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Nicht nur Fremde sind nach Estland gekommen, sondern auch Menschen, die schon vorher hier gearbeitet und gelebt haben. Das Gleiche gilt für die Familien der hier arbeitenden Menschen und die Verwandten der estnischen Bürger*innen. Daher ist davon auszugehen, dass die estnisch-ukrainische Gemeinde auch nach dem Krieg recht groß bleiben wird, denn vor allem für Familien mit Kindern ist es sinnvoller, erst dann in die Heimat zurückzukehren, wenn die Kämpfe beendet, die Häuser und Schulen aus den Trümmern wieder aufgebaut sind und man sicher sein kann, dass man nicht hungern und frieren muss.
Im Fall des Ukrainekrieges sehen wir typische Aspekte der Migration. Die Medien haben berichtet, dass die Menschen in ihre Heimat zurückkehren wollen, obwohl die Städte zerbombt und verwüstet sind und es an Strom, Medikamenten, militärischer Ausrüstung und Lebensmitteln mangelt. Die Leichen – sowohl Russ*innen als auch Ukrainer*innen – liegen in Leichenhallen und auf Straßen. Während der Schwerpunkt auf der Trauer um die Ukrainer*innen liegt, hoffe ich, dass wir auch der russischen Schülersoldaten gedenken, die als reines Kanonenfutter starben.
Da ich in einem Land lebe, in dem die Regierung fast alles gekürzt und privatisiert hat, war es positiv zu sehen, wie sie in schwierigen Zeiten zusammenrückte. Noch wichtiger ist, dass die Menschen nicht nur zu Paketrobotern freundlich sind, sondern auch zu Kriegsflüchtlingen. Es gibt unglaublich viele Menschen, die Ukrainer*innen in ihren Häusern Unterschlupf bieten. Der zusätzliche Haushaltsplan sieht ein Ende der Abhängigkeit von russischem Erdgas, die Erhöhung der Unterhaltssubvention, die Finanzierung von Leistungen für Kriegsflüchtlinge und die Stärkung der Sicherheit vor. Ich habe jedoch den Eindruck, dass der Schwerpunkt auf der Rüstungsindustrie liegt und Bildung und psychische Gesundheit vernachlässigt wurden. Obwohl an einer ukrainischsprachigen Telefonberatung Eluliin (dt. Lebenslinie) gearbeitet wird, die im Mai an den Start gehen soll, besteht nach wie vor ein großer Mangel an Psycholog*innen, die sowohl Ukrainer*innen als auch Est*innen helfen können.
Die Krise hebt auch den seit Jahren bestehenden Mangel an Lehrer*innen hervor. Mit der Aufnahme von Kindern, die aus der Ukraine geflohen sind, stehen die estnischen Schulen vor einer schwierigen Aufgabe: Wie können sie integriert werden? Dreißig Jahre der Wiedererlangung der Unabhängigkeit haben gezeigt, dass unser Engagement für unsere eigene russischsprachige Gemeinschaft fast vollständig gescheitert ist. Die Konfrontation hat sich einfach als politisch sehr nützlich erwiesen.
Es ist leichter zu verstehen, dass man helfen muss, wenn die Krise einen selbst direkt betrifft. Doch unsere Gesellschaft wäre viel lebendiger, wenn wir uns täglich um die Bedürftigen kümmern und sie wahrnehmen würden. Der Krieg hat das Leiden der einheimischen Arbeitslosen und der Menschen, die am Rande der Armut leben, nicht verringert, ganz zu schweigen von den Menschen in anderen Konfliktgebieten auf der ganzen Welt.
Dieser Frühling, der normalerweise mit Blumen und Schmetterlingen einhergeht, wurde durch den Krieg, der im Februar in Europa begann, verändert. Innerhalb der zwei Monate hat niemand gewonnen, aber alle haben verloren: Neben den körperlichen Opfern wurden Häuser, ukrainischsprachige Bücher ebenso wie der Glaube an die Güte der Menschen und die Vorstellung, dass Gewalt in der heutigen Kultur ein Tabu ist, zerstört.
Der Krieg hat nicht auf den Moment gewartet, in dem die Koffer mit dem Nötigsten gepackt waren. Als die ersten Bomben fielen, waren die Menschen noch auf den Straßen unterwegs, lernten in der Schule und entspannten sich in ihren Sommerhäusern. Auf ihrer Flucht nahmen sie nur das Nötigste mit und ließen die Erinnerungen zurück, die uns glücklich machen - Familienalben oder Kinderzeichnungen.
Obwohl die baltischen Länder schon seit Jahren von Russland als Sicherheitsbedrohung sprechen, hat der Rest des Westens dies nicht ernst genommen. Der autoritäre Staat Russland hat jahrelang unermüdlich am Aufbau eines mächtigen, auf Traditionen basierenden Staates gearbeitet, der die Teilhabe und das Engagement von Frauen in der Gesellschaft stark einschränkt. Dieser Autoritarismus zeigt sich auch in der estnischen Politik, wo Konservatismus anstelle von Ritterlichkeit aus irgendeinem Grund vor allem arrogante Faulheit bedeutet und den bevormundenden Wunsch beinhaltet, Frauen zu gehorsamen Sklavinnen zu machen, die bei Bedarf Nahrung oder eine Gebärmutter liefern.
Am Jahrestag der Gründung der Republik Estland begann in der Ukraine der größte militärische Konflikt Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Auswirkungen der damit einhergehenden humanitären Krise werden wir definitiv noch Jahre später spüren. Millionen haben die Ukraine verlassen, Zehntausende sind gestorben, und ein Ende des Krieges scheint trotz des großen Friedenswunsches des Westens nicht in Sicht.
Zwischen Anfang März und Ende April kamen mehr als 30.000 Kriegsflüchtlinge in Estland an, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Nicht nur Fremde sind nach Estland gekommen, sondern auch Menschen, die schon vorher hier gearbeitet und gelebt haben. Das Gleiche gilt für die Familien der hier arbeitenden Menschen und die Verwandten der estnischen Bürger*innen. Daher ist davon auszugehen, dass die estnisch-ukrainische Gemeinde auch nach dem Krieg recht groß bleiben wird, denn vor allem für Familien mit Kindern ist es sinnvoller, erst dann in die Heimat zurückzukehren, wenn die Kämpfe beendet, die Häuser und Schulen aus den Trümmern wieder aufgebaut sind und man sicher sein kann, dass man nicht hungern und frieren muss.
Im Fall des Ukrainekrieges sehen wir typische Aspekte der Migration. Die Medien haben berichtet, dass die Menschen in ihre Heimat zurückkehren wollen, obwohl die Städte zerbombt und verwüstet sind und es an Strom, Medikamenten, militärischer Ausrüstung und Lebensmitteln mangelt. Die Leichen – sowohl Russ*innen als auch Ukrainer*innen – liegen in Leichenhallen und auf Straßen. Während der Schwerpunkt auf der Trauer um die Ukrainer*innen liegt, hoffe ich, dass wir auch der russischen Schülersoldaten gedenken, die als reines Kanonenfutter starben.
Da ich in einem Land lebe, in dem die Regierung fast alles gekürzt und privatisiert hat, war es positiv zu sehen, wie sie in schwierigen Zeiten zusammenrückte. Noch wichtiger ist, dass die Menschen nicht nur zu Paketrobotern freundlich sind, sondern auch zu Kriegsflüchtlingen. Es gibt unglaublich viele Menschen, die Ukrainer*innen in ihren Häusern Unterschlupf bieten. Der zusätzliche Haushaltsplan sieht ein Ende der Abhängigkeit von russischem Erdgas, die Erhöhung der Unterhaltssubvention, die Finanzierung von Leistungen für Kriegsflüchtlinge und die Stärkung der Sicherheit vor. Ich habe jedoch den Eindruck, dass der Schwerpunkt auf der Rüstungsindustrie liegt und Bildung und psychische Gesundheit vernachlässigt wurden. Obwohl an einer ukrainischsprachigen Telefonberatung Eluliin (dt. Lebenslinie) gearbeitet wird, die im Mai an den Start gehen soll, besteht nach wie vor ein großer Mangel an Psycholog*innen, die sowohl Ukrainer*innen als auch Est*innen helfen können.
Die Krise hebt auch den seit Jahren bestehenden Mangel an Lehrer*innen hervor. Mit der Aufnahme von Kindern, die aus der Ukraine geflohen sind, stehen die estnischen Schulen vor einer schwierigen Aufgabe: Wie können sie integriert werden? Dreißig Jahre der Wiedererlangung der Unabhängigkeit haben gezeigt, dass unser Engagement für unsere eigene russischsprachige Gemeinschaft fast vollständig gescheitert ist. Die Konfrontation hat sich einfach als politisch sehr nützlich erwiesen.
Krieg ist männlich
Ich hoffe, dass wir uns neben der Gewalt gegen Frauen auch auf die Strukturen konzentrieren werden, die den Krieg in Zukunft führen. Krieg ist ein chauvinistischer Kampf, um die eigene wirtschaftliche Vormachtstellung durch Gewalt zu vergrößern. In der Geschichte gibt es nicht viele Beispiele dafür, dass weibliche Staatsoberhäupter oder weiblich geprägte Regierungen Kriege begonnen haben. Beispiele für Männer im Krieg gibt es viele, und die gegenwärtige Aggression ist ein weiteres Beispiel. Wenn es mehr Frauen in der Politik gäbe, würde es weniger Kriege geben. Doch wir selbst reproduzieren das Patriarchat, indem wir Männer wählen und ihnen das Wort erteilen. Das ERR-Meinungsportal zeigt beispielsweise, dass es in acht von zehn Fällen Männer sind, die über Krieg sprechen. Aber wenn wir Frauen die Möglichkeit geben, sich an der Politik zu beteiligen, machen wir die Welt zu einem gesünderen und gleichberechtigteren Ort für alle. Wir müssen uns darauf konzentrieren, ein feministisches Verständnis dafür zu schaffen, dass es bei der Sicherheit nicht so sehr nur um Verteidigungswaffen, Drohnen und Cybersicherheit geht, sondern auch um das grundlegende Wohlergehen: Wohnung, Nahrung, Zugang zur Gesundheitsversorgung, Bildung. Und die Freiheit des Denkens ist nicht weniger wichtig als die Sicherheit der Grenzen.Es ist leichter zu verstehen, dass man helfen muss, wenn die Krise einen selbst direkt betrifft. Doch unsere Gesellschaft wäre viel lebendiger, wenn wir uns täglich um die Bedürftigen kümmern und sie wahrnehmen würden. Der Krieg hat das Leiden der einheimischen Arbeitslosen und der Menschen, die am Rande der Armut leben, nicht verringert, ganz zu schweigen von den Menschen in anderen Konfliktgebieten auf der ganzen Welt.