Absoluter Nullpunkt
Meide die Frühjahrslorchel

ISS-Astronautin Christina Koch installiert eine neue Hardware für das Cold Atom Lab, eine experimentelle Physikanlage, die Atome auf fast den absoluten Nullpunkt (0 Grad Kelvin, minus 273 Grad Celsius) abkühlt. Foto: © NASA/JPL-Caltech

Rømer ist ein sauberer Mann. Exkremente beunruhigen ihn. Eine kleine Fliege hat sich in seiner Perücke verfangen. Fahrenheit beobachtet ihren Todeskampf. Rømer merkt nichts.

Enis Maci

1701 entwickelt Ole Rømer die Rømerskala.

Null Grad Rø bezeichnen den Schmelzpunkt von Salzlake, 60 Grad Rø den Siedepunkt von Wasser.

1708 besucht Daniel Gabriel Fahrenheit Ole Rømer in Kopenhagen. Graupel peitscht schräg durch die Gassen. Das große Bombardement ist acht Jahre her. Wo einmal Häuser waren, klaffen Löcher. Karies, der Städte anfällt. Fahrenheit klappt den Kragen hoch. Nur knapp weicht er dem Inhalt eines Nachttopfs aus. Die Hand, die ihn ausleerte, verschwindet hinter einem rußverschmierten Giebel. Daniel Gabriel Fahrenheit hat Scheiße am Schuh. Seiner Vorfreude tut das keinen Abbruch.

Ole Rømer zeigt ihm seine Apparate.

Sie trinken Kaffee. Rømer ist seit drei Jahren Bürgermeister von Kopenhagen. Er fand heraus, dass die Lichtgeschwindigkeit endlich ist. Er veranlasste die Einführung des gregorianischen Kalenders in Dänemark. Den Ausbau der Kanalisation. Die Einführung von Straßenlaternen. Rømer ist ein sauberer Mann. Exkremente beunruhigen ihn. Eine kleine Fliege hat sich in seiner Perücke verfangen. Fahrenheit beobachtet ihren Todeskampf. Rømer merkt nichts.

Rømer kann mit seiner Skala nicht einmal die Temperatur anzeigen, die in diesem Moment in Kopenhagen herrscht, denkt Fahrenheit. Man müsste die kälteste mögliche Temperatur herstellen, denkt er. Einen tatsächlichen Nullpunkt. Mit diesem Plan fährt er zurück nach Danzig.

Drei Jahre nach Fahrenheits Besuch bricht die Pest in der Hansestadt Kopenhagen aus. Der Handel mit gefälschten Gesundheitspässen floriert.

Fahrenheit besucht das Grab seiner Eltern. Sie starben vor Jahrzehnten an einer Pilzvergiftung. Ja, beide. Wie sich Mutters Soße in den Hirnfalten des Fruchtkörpers verlor. Wie das Kind Bauchweh vortäuschte, um dem Pilz zu entkommen. Und ihm gerade deshalb nicht entkam.

Fahrenheit ist Kaufmann. Er ist Glasbläser. Er ist kein königlicher Wissenschaftler und auch kein Staatsdiener. Er ist nur ein Hustler. Aber was für einer!

Drei Eichpunkte sind besser als zwei, denkt er. Quecksilber ist besser als Weingeist.

Nachts träumt Fahrenheit von Pestärzten mit Schnäbeln aus Eis. Durch seine Knochen kriecht Salmiak. Feine Kanäle ziehen sich durch den Kalk, wie ein Myzel, hinterlassen von Ameisen, die Pilze züchten. Ein Schauer rieselt seinen Nacken entlang. Fahrenheit stellt sich vor, jemand schüttet flüssiges Metall in seinen Mund. Für einen Moment rahmt das erstaunte O seiner Lippen einen silbrigen Mond. Tausend Stiche, weder heiß noch kalt, und dann – piekt der Pestarzt ihm ins Gesicht. Die Haut gibt nach. Knochen splittern. Was von Fahrenheit bleibt, ist eine Pflanze aus erkaltetem Metall. Aus seinen Eingeweiden greifen dünne Filamente um sich. Sein Herz: ein Klumpen. Aber Gerda kommt und kommt nicht. Niemand weint ihn wieder ganz. Niemand schüttelt ihm das Wörtchen Ewigkeit aus dem Scrabble‑Sack.

1728 bricht ein großes Feuer in Kopenhagen aus. Die Apparate Rømers, die Gasfunzeln und Drähte und Salzlösungen, die er auf seinem großen intarsienverzierten Schreibtisch aufzubewahren pflegte, sie sind verschwunden. Sie existieren nur noch in der Erinnerung jener, die sie sahen. Fahrenheit mischt eine Kältepackung. Ihr genaues Rezept ist nicht überliefert. Sie misst 255 Grad Kelvin.

150 Jahre später sitzt der junge Baron K. am Sekretär seines Urgroßvaters und kritzelt seinen Vorschlag für eine thermodynamische Wärmeskala nieder. Aber das ist eine andere Geschichte.

Null Grad Fahrenheit hat nie den kältesten möglichen Punkt bezeichnet.

Die endgültige, die absolute Stille, die einsetzt, wenn alles gefriert. Nichts bewegt sich. Nur in Daniels Hirnfalten zittert ein letztes Echo.


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Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter – Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.  

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