Möglichkeit des Innehaltens
Flânerie: Eine Lebensform zur Unterbrechung der Verschuldung
Laufen. Sich berauschen. Sich im Rhythmus des Schicksals bewegen. Die Flânerie ist der anarchische Raum innerhalb der kapitalistischen Sphäre.
Der Einzelne definiert sich durch die Beziehungen, die zwischen ihm und den Kollektiven bestehen, denen er angehört. Deshalb stößt er selbst bei der Betrachtung des ihm Eigensten auf eine Reihe von Gefügen, die sowohl von mehreren Subjekten als auch von verschiedenen Diskursen, Phantasmagorien und Begierden durchdrungen sind. Die erste Person Singular ist also mit allen anderen verbunden. Vielleicht besteht der Irrtum gerade darin, sie ganz oben auf die Liste zu setzen, sie an die Spitze zu stellen, so als wäre sie das Allerwichtigste oder etwas, das alles darunter Liegende überlagert.
Das Ich, das Subjekt und sein Eigenname sind Teil eines Geflechts von Gruppierungen und Prinzipien, die sein Erleben, seine Lebensgeschichte und seine Ausdrucksformen abstecken: Wir können nicht alles sehen, fühlen und sagen, sondern nur soviel, wie unsere Umwelt hergibt. Wenn ich an meinen Körper denke, an meine Gefühle und meine Sprache, dann schreibe ich sie einem kapitalistischen Umfeld zu. Genauer gesagt, einer Lebensform, die von der Logik der Verschuldung bestimmt ist. Schulden verstehen sich in diesem Zusammenhang nicht nur als eine Geldsumme, die man sich geliehen hat und nun schuldet, sondern vor allem als eine moralische Verpflichtung einem anderen gegenüber.
Geldschulden sind unpersönlich: „Eine Schuld [lässt sich] anders als jede andere Form der Verpflichtung genau quantifizieren. Dadurch werden Schulden einfach, kalt und unpersönlich - und das macht sie wiederum übertragbar.“ Allerdings ist die Grundlage der Schuld, die als moralische Verpflichtung definiert wird, immer ein Subjekt, das in dieser persönlichen Erfahrung stets an jemanden oder etwas gebunden ist.
Bei wem macht das Ich Schulden? Vermutlich in erster Linie bei sich selbst. Wenn wir atmen und existieren, ist das anscheinend nicht ausreichend, um unser Dasein in der Welt zu behaupten. Das Identitätsprinzip beherrscht uns und stürzt uns in eine nie endende Verschuldung. Es stützt sich auf eine metaphysische Wertordnung, die vom kapitalistischen Umfeld selbst geschaffen wurde: Produktivität, Kapitalanhäufung, Schönheit, Wohlbefinden, Arbeit, Harmonie, Glück, Kultur, Jugend.
Bei wem macht das Ich Schulden? Vermutlich in erster Linie bei sich selbst. Wenn wir atmen und existieren, ist das anscheinend nicht ausreichend, um unser Dasein in der Welt zu behaupten.
Inmitten des Strudels von Verpflichtungen, an deren Erfüllung die Aufrechterhaltung unseres persönlichen Status quos abhängt, versucht das Ich unaufhörlich, die Fassung zu bewahren, doch die Müdigkeit ist allgegenwärtig und steht ihm ins Gesicht geschrieben. Trotzdem machen wir weiter, denn wir sind schließlich verschuldet. Wir sind Achilles bei seinem Versuch, die Schildkröte einzuholen, nicht nur was das Finanzielle, sondern auch was unsere Begierden anbelangt. Wir leihen uns ein Image, einen Lifestyle, einen Wunsch nach Sicherheit, Charme, Vollkommenheit – und jetzt müssen wir dafür bezahlen.
Die Zinsen sind hoch, die Schulden verschwinden nie. Was das Ich haben, tun oder besitzen muss, multipliziert sich schneller als das Einkommen, mit dem es seine Schulden bezahlt. Wir sind dazu verdammt, in der Schuld zu stehen, womöglich ist gerade sie der Grundstein unserer Identität. Ganz egal, wie viel wir produzieren: Es wird niemals genug sein, denn die Schulden möchten gar nicht getilgt werden, sie möchten überdauern, ihre Existenz sichern, ihre finstere Selbstverständlichkeit.
Verschuldet wirst du geboren, verschuldet wirst du sterben. Es ist, als würden wir uns durch sie definieren. Sie spielen mit uns, die Angst immer auf ihrer Seite. Wenn du sie abzahlst oder umschreibst dann ist es dir plötzlich unmöglich, du selbst zu bleiben, deine Neurose weiter auszuleben. Schulden sind Gesetz. Die Gefahr liegt im Exil, dem Ausschluss aus der Gemeinschaft, der elenden Schande, dem Tod. Was, so fragen wir uns, kann der Einzelne gegenüber seiner Umwelt ausrichten? Ist er in einem ewigen Kreislauf gefangen?
Augenscheinlich gibt es keinen Ausweg. Wenn wir uns allerdings mit der Unmöglichkeit des Wandels abfinden, dann tut sich ein Fluchtweg auf. Konzentrieren wir uns nicht auf die Kehrtwende, sondern auf den Bereich zwischen ihr und ihrer Abschaffung: eine Unterbrechung der Verschuldung. Sobald das Ich die Konzepte Individualität und Individualismus einmal hinten anstellt und seine Aufmerksamkeit allein auf sein Umfeld richtet, dann bemerkt es das Beziehungsgeflecht, in das es verwickelt ist. Das eingeflochtene Ich ist das Portal, das zur Unterbrechung führt.
Eine Unterbrechung der Verschuldung bedeutet, sein Inneres zum Stillstand zu bringen und damit den fortlaufenden Prozess der Bestätigung zu lähmen. Die Identifizierung des Ichs mit sich selbst muss pausiert werden, damit die anarchischen Kräfte und Räume im Kapitalismus entdeckt werden können. Die Unterbrechung geschieht nicht aus einem emanzipatorischen Impuls heraus – Schluss mit dem Heldentum! –, sondern möchte mit konkreten, verschwommenen und unauffälligen Taten eine teilweise Abkopplung von den Zielvorstellungen des Ichs erreichen. Erfahrungen, die dem Auge des Kapitals verborgen bleiben, für das Ich aber von großer Bedeutung sind. Es vereinigt sich mit der Unproduktivität, in der der Name auf Prestige und Selbstbestätigung verzichtet und sich anderen Dingen zuwendet: Überraschung, Bewegung, Kontakt.
Inmitten des Strudels von Verpflichtungen, an deren Erfüllung die Aufrechterhaltung unseres persönlichen Status quos abhängt, versucht das Ich unaufhörlich, die Fassung zu bewahren, doch die Müdigkeit ist allgegenwärtig und steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Mit dem Versuch, eine Anleitung zur Unterbrechung der Verschuldung im kapitalistischen System anzufertigen, tappt man in dieselbe Falle, die uns das Leben abstecken, klassifizieren und ordnen lässt. Das Ich unterbricht seine Verschuldung in einem bestimmten Umfeld, aber auch mithilfe bestimmter Dynamiken, die seinen Körper durchkreuzen. Es gibt keine Gesetzmäßigkeiten und keinen genauen Zeitpunkt für eine Unterbrechung, dafür allerdings gängige Strategien, die aber natürlich immer der Gefahr der Übernahme und Aneignung durch das Kapital ausgesetzt sind.
Eine Strategie zur Unterbrechung des verschuldeten Ichs ist der Spaziergang. Obgleich Ruhe oft mit Unbeweglichkeit gleichgesetzt wird, kann diese auch in fließenden Bewegungen wiedergefunden werden, in Vibrationen, Schwingungen, Fortbewegung. Wenn es spazieren geht, berauscht die Ruhe das Ich. Die Bewegung verlangt keine Kompensation oder Gegenleistung. Man geht, um des Gehens willen, überlässt sich zufälligen Begegnungen. Man verläuft sich solange, bis man nicht mehr weiß, dass man sich verlaufen hat. Walter Benjamin, Louis Aragon, Charles Baudelaire und viele andere haben dieser Unterbrechungsstrategie einen Namen gegeben: Flânerie.
Der Spaziergänger durchwandert dieselbe Stadt wie das verschuldete Ich. Dieselben Straßen und Räume rufen zwei ganz unterschiedliche Erfahrungen hervor. Der Unterschied besteht darin, dass der Flaneur ziellos herumstreicht und er die Welt nicht als Ware betrachtet. Er möchte nichts kaufen, schon gar nicht sich selbst. Dasein ohne Transaktion. Bejahung und Verneinung sind hinfällig. Der Wert schwindet mit dem Verlust der metaphysischen Parameter, die ihn stützen. Der Flaneur entledigt sich vorübergehend seines Ichs, ohne dieses zum Verzicht zu ermahnen. Bewegung statt Forderung.
Im Passagen-Werk unterscheidet Benjamin in seiner „Dialektik der flanerie“ zwei Arten von Menschen. Da ist: „einerseits der Mann, der sich von allem und allen angesehen fühlt, der Verdächtige schlechthin, andererseits der völlig Unauffindbare, Geborgene“. Der Unauffindbare ist der Flaneur, der den Verdächtigen, Verschuldeten unterbricht und ihm einen Tempowechsel verschafft, eine Pause von den Blicken und Erwartungen, die ihn unaufhörlich bedrängen. Es versteht sich von selbst, dass beide in ein und demselben Körper hausen.
Für den Flaneur ist die Straße kein Bild und keine Oberfläche, sondern eine Schwelle, die den Blick von den zahllosen Elementen der Landschaft ablenkt und in eine zweite Haut verwandelt. Diese durchwandert die unterschiedlichen Ebenen in einem kindheitsähnlichen Rauschzustand, in dem die Befremdung nicht danach strebt, sich aufzulösen. In den Worten Benjamins: „Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehen gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der bistros, der Läden, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke“.
Der Körper bewegt sich und ist doch still. Diese Ruhe ist die Unterbrechung der Verschuldung. Der Körper, das Subjekt, das Ich und sein Eigenname werden nicht mehr im Präsens oder Präteritum konjugiert.
Ist das Ich ein Zustand, so ist der Rausch sein Gift. Daher sollten wir uns nicht allein auf den Flaneur konzentrieren, sondern vielmehr auf die Tätigkeit der Flânerie, eine Handlung, die Ruhe in den vom Ich ausgefüllten Körper bringt und damit die Verschuldung unterbricht. Sie eröffnet die Möglichkeit des Innehaltens gegenüber der kapitalistischen Forderung nach Produktivität.
Laufen. Sich berauschen. Sich im Rhythmus des Schicksals bewegen. Die Flânerie ist der anarchische Raum innerhalb der kapitalistischen Sphäre, sie bedeutet die Entkräftung des Einen durch das Viele. Im Rhythmus der Schritte lösen sich Antlitz und Identität auf. Der Raum wird zum emotionalen Ausdrucksmittel. Der Okularzentrismus verschwindet vor dem Hintergrund der Sinnlosigkeit der Klassifizierung. Es besteht kein Verlangen nach Anerkennung, nach einer Präsenz vor sich selbst und vor anderen. Denn es gibt keine anderen, nur Verbindungen, Korrespondenzen, sympoietische Systeme, Zusammenschlüsse und Fließbewegungen. Niemand will besitzen oder besessen werden. Von Liebe können wir schon deshalb nicht sprechen, weil die Logik des Privateigentums nicht existiert. Das Verstummen des Spaziergängers unterbricht das Leben als Ware.
Der Körper bewegt sich und ist doch still. Diese Ruhe ist die Unterbrechung der Verschuldung. Der Körper, das Subjekt, das Ich und sein Eigenname werden nicht mehr im Präsens oder Präteritum konjugiert. Sie sind Gefüge, Konstellationen, mitten im Fluss des Lebens. Hier gibt es weder Geschichte noch Archiv. Wenn ein Geist auftaucht, dann nur, um ein wenig zu tanzen.
Alles ist offen; die eigentümliche Unentschlossenheit des Flaneurs. „Wie das Warten der eigentliche Zustand des unbeweglich Kontemplativen so scheint das Zweifeln der des Flanierenden zu sein. In einer schillerschen Elegie heißt es: »Des Schmetter(l)ings zweifelnder Flügel.« Das deutet auf denselben Zusammenhang von Beschwingtheit mit dem Gefühl des Zweifels, der so charakteristisch für den Haschischrausch ist.“ Und wo bleibt die Straße bei dieser Erfahrung? Sie ist jetzt mehr als bloßer Asphalt unter den Füßen.
Wenn also die Flânerie die Unterbrechung des verschuldeten Ichs darstellt, dann ist die Straße nicht mehr notwendig. Man kann auch im Sitzen flanieren. Wenn man zum Beispiel ein Buch liest, einfach weil man es möchte, und nicht um einer akademischen oder kulturellen Verpflichtung nachzukommen. Oder wenn man sich mit einer Freundin unterhält und sich vor Lachen schüttelt, denn wenn die Freundschaft eines ist, dann wohl eine schuldenfreie Beziehung. Auch im Kinosaal existiert die Flânerie. Manchmal geschieht es, dass man sich plötzlich mitten im Film wiederfindet und die Distanz zwischen Objekt und Subjekt verloren geht. Es gibt Momente, in denen man sich einen Film anschaut und zum Film wird. Wenn der Verstand aufhört, das Leben nach der Logik der kapitalistischen Verschuldung zu gestalten und zu strukturieren.
Wenn wir die Flânerie nicht als Charaktereigenschaft sondern als lebenswichtige Tätigkeit ansehen, dann können wir sie immer dann bewusst einsetzen, wenn wir sie gerade dringend benötigen. Wir sollten keine Vollzeit-Flaneure und Passantes mehr sein. Wir sollten trainieren, um den Rausch der Ruhe auch in die Sphäre des produktiven Lebens einzubringen. Lasst uns flanieren, um die Verschuldung des Ichs zu unterbrechen. Kehren wir erst dann zu ihr zurück, wenn wir es wollen.
- David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre. 1. Auflage. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012, S. 19.
- Walter Benjamin, „Der Flaneur“, zitiert nach den Gesammelten Schriften Walter Benjamins, Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Band V, Frankfurt am Main, 1991. S. 529, 535, 536, 1053.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in dem Buch Blickwinkel: marasmo, veröffentlicht vom Goethe-Institut Mexiko und Pitzilein Books.