Angst vor Stillstand
Das Stocken bei Goethe

Aderlassgeräte aus dem 18. und 19. Jahrhundert © Dorotheum Wien

Der Kreislauf galt als Ideal, das Stocken als Bedrohung. Zu Lebzeiten Goethes kreiste oder stockte Vieles: Geld, Waren, Ideen, Blut und andere Körpersäfte – auch in der Dichtkunst.
 

Andreas Ströhl

Während im 18. Jahrhundert Automaten – feinmechanische Apparate und Uhrwerke – als Metapher zur Beschreibung von Systemen herangezogen wurden, und im 19. Jahrhundert die Maschine und ihre Mechanik, dienten bis ins 17. Jahrhundert der Körper und seine Organe als Modell für die das komplexe Zusammenwirken vieler Teile in einem größeren Ganzen. Das Stocken von Körpersäften bedeutete Stillstand und Tod.

Der Blutkreislauf war zwar schon im 13. Jahrhundert vom arabischen Arzt Ibn an‑Nafis beschrieben worden. Doch erst, als sein englischer Kollege William Harvey 1628 den Blutkreislauf in Europa erneut entdeckte, wurde er dort Allgemeingut – und eine Metapher, die bald auch zur Beschreibung anderer komplexer Systeme herhielt. Der Kreislauf des Blutes veranlasste die Herausbildung neuer Theorien auch in anderen Wissenschaftsbereichen, beispielsweise für die merkantile und monetäre Zirkulation. In einem Wörterbuch des 18. Jahrhunderts heißt es etwa unter dem Eintrag „Umtrieb“: „Der Umtrieb des Blutes, dessen Umlauf, Circulation, Kreislauf. Der Umtrieb des Geldes, da es oft aus einer Hand in die andere getrieben wird; der Umlauf, Kreislauf. Eine Waare kommt in Umtrieb, wenn sie stark gekauft und wieder verkauft wird“. (Johann Christoph Adelung)

Die erste Darstellung des wirtschaftlichen Kreislaufs 1758 durch François Quesnay, Leibarzt von Ludwig XV. und Begründer der physiokratischen Volkswirtschaftslehre, wurde begeistert aufgenommen. Selbst die kommunikationstheoretischen Konzepte und Medientheorien, die im 20. Jahrhundert entstehen, basieren auf der anatomischen und dann volkswirtschaftlichen Vorstellung vom Kreislauf, vom geschlossenen Ringtausch.

Stocken als Bedrohung

Die Goethezeit (etwa 1770–1830) betrachtete den Tausch auf allen Ebenen als den Normalfall. Die Abweichung davon aber, also das Stocken der Tauschvorgänge, wurde als Ereignis, als Bedrohung angesehen. Die unterschiedlichen Kreisläufe sind stets vom Stocken bedroht. Tatsächlich kommt es kaum je zum Äußersten: Ein ins Stocken geratenes Gespräch erscheint als gesellschaftliche Unmöglichkeit, als Verstoß gegen eine hohe Norm. Angesichts der Gefahr der Unterbrechung der Kommunikation wird diese gern besonders schnell und intensiv geführt.

Friedrich Schillers Appell, „das stockende Geld in Umlauf [zu] bringen“, setzt bei Karl Marx die Vorstellung eines pekuniären Kreislaufs voraus, der ins Stocken geraten kann. „In den Anfängen der Arbeitsteilung“, bemerkt Adam Smith in Der Wohlstand der Nationen, „muß der Tausch häufig noch sehr schleppend und stockend vor sich gegangen sein“. Das Stocken ist also nicht nur auf Tauschvorgänge sprachlicher und finanzieller Art, sondern auch auf den gesamten Warentausch bezogen und auch bereits dem Tausch – nicht erst dem Umlauf – zugeordnet, der die kleinste Einheit des zirkulären Prozesses darstellt.

Stocken bedeutet laut Adelung: „Aufhören sich zu bewegen und dicke werden, wo es besonders von flüssigen Körpern für gerinnen, gestehen üblich ist.“ Hier wird neben der tauschhindernden Wirkung, wenn die Beweglichkeit vermindert ist, Adelung zufolge die kaufmännische Bedeutung dieser Begriffe offensichtlich: „Aufhören sich zu bewegen. Das Wasser stockt, wenn es nicht abfließt. […] Besonders figürlich. Das Geld stockt, wenn es nicht circulieret, wenn dessen Um- oder Kreislauf gehemmet ist. Stockungen in dem Umlaufe des Geldes verursachen.“

In der Goethezeit kreist Vieles: Geld, Waren, Ideen, Blut, andere Körpersäfte, sprachliche Äußerungen.
 
In die Welt weit,
Aus der Einsamkeit,
Wo Sinnen und Säfte stocken,
Wollen sie dich locken.

„Sie“ sind die Geister; interessant macht diese Stelle aus Goethes Faust vor allem ihr Verweis auf die Körpersäftelehre. Sie blühte in der Goethezeit, verbunden mit der Temperamentenlehre (Adolph Freiherr von Knigge, Christoph Wilhelm Hufeland), als Humoralmedizin. Außerdem ist das Stocken mit Einsamkeit korreliert, mit einem Verstoß gegen die seinerzeit gültige Verpflichtung zur Geselligkeit. Die Dickflüssigkeit, deren Extrem das Stocken ist, äußert sich als melancholische oder phlegmatische Konstitution unter anderem in Wechselbeziehung zur Einsamkeit.

Das Stockende ist das Naturhafte

Und natürlich ist auch das Lebensalter von Bedeutung. Wenn „der Winter unsers Lebens unser Haar mit Schnee bedeckt, und nun das Blut langsamer durch die Adern rollt“ (Knigge), so ist das Stocken nahe. Mit dem Verlangsamen des Blutstromes und der Tendenz zum Verdicken der Körpersäfte sinken die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Tausch. Das tatsächliche Stocken aber ist auf biologischer Ebene der Tod. Nach Adelung korrelieren „gerinnen“ und „verderben“ mit „Fäulnis“ (Milch) und „Tod“ (Blut): „Unterbrechung des Wechsels zwischen innrem und äußerm Reiz – zwischen Seele und Welt“. (Novalis)

Das Stocken auf physiologischer Ebene ist für den Organismus ebenso fatal wie das Stocken auf merkantiler für die Volkswirtschaft oder auf sprachlicher für die Gesellschaft: „Alles Blut sammelt sich in den innern größern Gefäßen, der Pulsschlag stockt, das Herz wird überfüllt und kann sich nicht frei bewegen. Also das wichtigste Geschäft der Zirkulation wird gestört.“ (Hufeland). „Stockung“ ist nach Christoph Wilhelm Hufeland „lebensverkürzend“. Aufgrund der aufgezeigten Analogien dürfte es keinesfalls verwundern, dass Bernd Mahl zufolge „Hufeland […] begeisterter Smithianer“ war.

Absterben und Stocken geschehen von selbst; beide sind vom handelnden Subjekt unabhängige, eigenaktive Vorgänge. Das Subjekt hingegen belebt und versetzt in Umtrieb, wobei das Objekt passiv ist. Die Ruhezustände des Leblosen und Stockenden erscheinen also als die gegebenen und natürlichen, als diejenigen nämlich, die sich ohne äußeres Zutun und von selbst einstellen.

Das Stockende ist das Naturhafte, „das eigentlich stockende Barbarische“ (Goethe), also das Unkultivierte, in dem kein Tausch geschieht. „Der Mensch liebt Veränderung […]; das Stillestehen […] ist lange Weile […].“ Und Langeweile verursacht „Stockungen des Bluts“ (Hufeland). Ein Teufelskreis! „Die leblose Natur verändert sich zu langsam.“ (Christian Garve)

Deshalb hilft die Gesellschaft kunstvoll nach: Bewegung und Veränderung sind mit Tausch korreliert. Dieser ist ein Kulturphänomen. Das Stocken hingegen wird in Wechselwirkung mit der Natur gesehen. Als Gefährdung des Tausches und im Hinblick auf seine kommunikative Funktion ist das Stocken auch eine kulturelle Bedrohung.

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