Buchkritik #1
Armin liest SGL

Den Anfang macht Armin mit seiner Rezension von Simoné Goldschmidt-Lechner und Ich kann dich noch sehen (an diesen Tagen). Das Buch erscheint am 2. Mai 2024 in einer deutsch-englischen Version bei Rohstoff, einem Verlagsprojekt von Matthes & Seitz.

Zu sehen ist das Portrait eines jungen Mannes mit braunen kurzen Haaren, Dreitagebart und Ohrring, der auf einem Bett liegt. Oben rechts in der Ecke ist ein halbtransparentes Hashtag-Zeichen und darüber in weiß das Wort Vorzeichen zu sehen. Unten rechts in der Ecke befindet sich das Logo des Goethe-Instituts. © Armin Djamali
Simoné Goldschmidt-Lechner ist bereits durch ihren Debütroman Messer, Zungen (2022) mit kurzen, dichten Kapiteln und abstrakten Figuren aufgefallen. Ihre Novelle Ich kann dich noch sehen (an diesen Tagen)/ Days you’ll find me (in a place I like to go) liest sich schnell, eher wie ein Sog. Wir können das Buch drehen, zwischen deutsch und englisch abwechseln, auch hier schlägt die Autorin ähnlich wie in ihrem Romandebüt solidarische Netzwerke transatlantischer Bündnisse: Der Text betont Vielstimmigkeit, funktioniert nicht mit einer einzigen Sprache.

Auf dichten 70 Seiten begleiten wir Rahel zum Polizeirevier, wo sie eine Vergewaltigung anzeigt. Finn, ihr längster und innigster Freund seit Kindheitstagen, steht an ihrer Seite. Wenn Rahel am Ende des Flurs ein Klavier hört, greift Finn sie am Oberarm, denn ihr Täter ist Pianist, und seine Melodien folgen ihr bis in die Gegenwart. An einigen Stellen arbeitet die Autorin mit einer namenlosen Stimme aus dem Off, gelegentlich mit Gedankenfetzen, oft sind es seine Worte, zeitlich unbekannt. Niemals wirkt die Täterstimme raum-einnehmend, es bleibt Rahel, die uns ihre Geschichte erzählt. Zusammen mit der Protagonistin fantasieren wir davon, die Tasten aus seinem Klavier zu entreißen, sie ihm vorzuhalten, Rahel so ein Stück Gerechtigkeit zurückzugeben. Aber es geht in der Novelle auch um das Unbehagen der Protagonistin, Hilfe bei denen zu suchen, die rassifizierte Menschen oft im Stich lassen. Zurückzugehen zur selben Polizei, die Finn als Jugendlichen in Handschellen mitgenommen hat. Ständig kreisen Rahels Gedanken um den 16-jährigen Mouhamed Dramé, der mit fünf Schüssen in einer psychischen Krise getötet wurde. Reale Opfer werden Teil der Novelle, nicht nur durch Einschübe und Zwischenkommentare, auch die Zeugnisse von Gewaltbetroffenen werden ein Stück von Rahels Geschichte.
 
Durch die Kriminalisierung anderer Opfer weiß die Protagonistin, dass Gesetz nicht Gerechtigkeit bedeutet. Neben dem Täter spricht Rahel auch Lesende indirekt an, glaubt, dass Leute sich wundern werden, warum sie nach der Vergewaltigung mehr an Finns Verhaftung aus der Jugend zurückdenkt als die Jahre zuvor.

SGL begeistert mit ihrer Novelle, denn sie schafft es, die ernsten Themen von sexualisierter Gewalt und rassistischer Polizeibrutalität in eine kurze Erzählung zu bringen und beidem gerecht zu werden, dabei noch zentrale Fragen nach Formen von Widerstand und Schuld zu stellen. Der Text kritisiert die Tendenz der Gesellschaft, marginalisierten Betroffenen die Schuld an der Gewalt an ihren Körpern zuzuweisen und ist eine Rückgesinnung auf das Wesentliche: Siblinghood.