Vorzeichen
Ein Konzept von Dr. Maha El Hissy, Kuratorin des Projekts

Das Projekt Vorzeichen wird von der freien Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Maha El Hissy kuratiert. © Lina Burcu

In der Musik spricht man bei einer Art der mehrstimmigen Liedkomposition von einem Kanon. Jemand singt und gibt den Ton vor. Andere Stimmen wiederholen zeitversetzt dieselbe Melodie. Ob als exakte Nachahmung oder Variation – im Kanon singen bedeutet stets und ständig eine Abhängigkeit von einem Ursprung, einer Quelle. Der Literaturkanon erhebt ein ideelles Korpus von Texten nach ästhetischer Richtschnur zu allgemeingültigen, autoritären, zeitüberdauernden Referenzen. Welche Titel als Klassiker gelten, ist alles, bloß nicht neutral. Vielmehr reflektieren Kanons Machtstrukturen, die Autor*innen zu Kultfiguren und ihre Werke zu Klassikern küren. Auch wird ihnen eine Bedeutung als Ikonen beigemessen, die den ständigen Wandel sozio-politischer Diskurse überdauern soll.

Mit einem einheitlichen Kanon gehen zudem zwangsläufig Ausschlüsse einher, und zwar auch unter Lesenden. Nur wer kanonische Texte weißer (meist toter) Männer gelesen hat, kann zu bestimmten Lesegemeinschaften gehören und an ihren Diskussionen teilhaben. Alle anderen werden bei der Rezeption eines Kunstwerks als Außenstehende imaginiert und sind schlechthin nicht mitgemeint. Lesende sind aber genauso wenig homogene Gruppen wie Schreibende.  

Lange Zeit haben wissenschaftliche und kulturelle Institutionen im Ausland den deutschsprachigen Kanon in Form von Leselisten in Bibliotheken oder Lehrcurricula übernommen. Wohlgemerkt, diese Reihe wird für die internationale Kulturinstitution kuratiert, die die deutsche Sprache und Literatur im Ausland vertritt und kaum zufällig den Namen eines vor fast zwei Jahrhunderten verstorbenen Dichters trägt. 

Das Jahr 2020 führte eine Wende herbei. Zwar ist Kanonkritik weder im Literaturbetrieb noch in der -wissenschaft neu. Dennoch verstärkten die rassistischen Morde in Hanau, die Ermordung von George Floyd durch einen weißen Polizisten und die Black Lives Matter Proteste die Auflehnung gegen hegemoniale Strukturen – und dies auch in Lehrcurricula und der Verlags- und Kulturbranche. Im angloamerikanischen und -sächsischen Raum waren es vor allem Studierende, die Kanonkritik als Plädoyer für die Dekolonisierung von Lehrinhalten formulierten. In Deutschland fordert Jeannette Oholi ein, „die Literaturgeschichte zu stören“, indem Schwarze deutsche Literatur als Literaturtradition gelesen wird. Im Jahr 2021 kritisierten Kulturschaffende und Wissenschaftler*innen in verschiedenen Ländern in einem Offenen Brief, dass kein Buch einer nicht-weißen Person für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden war, trugen konkrete Ideen und Empfehlungen an den Literaturbetrieb heran, den der Brief als #AllzuWeiss einschätzt. 
 
Vorzeichen setzt an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Literaturbetrieb, Theorie, Analyse und Praxis ein. Die Reihe zielt nicht darauf ab, einen Kanon kritisch zu hinterfragen, indem sie durch eine getroffene Auswahl an Autor*innen, Speaker*innen und Themen einen neuen, etwa einen Gegenkanon, vorschlägt. Stattdessen sollen in Lesungen, Vorträgen und Interventionen erstens die Vielzahl an Texten, Schreibformen, Ästhetiken, Diskursen, Denkfiguren und Topoi beleuchtet werden, die jenseits hegemonialer Kanonisierungsprozesse entstehen. In der Musik markieren Vorzeichen zu Beginn oder auch innerhalb einer Musikkomposition, etwa ein ♯ oder ein ♭, eine Verschiebung innerhalb des Notensystems hin zu einer anderen, neuen Tonart. In Analogie dazu sollen durch das Ensemble von Texten und Stimmen Denkanstöße gegeben werden, die die Vorstellung von einem einheitlichen,  geschlossenen Textkorpus zerstören.

Zweitens möchte die Reihe Kanonkritik praktizieren, indem der Fokus auf das Lesen als machtkritische Praxis gelegt wird. Nicht nur die Frage, wen oder was, sondern auch wie wir lesen, ist hier von Belang. Empathisches, engagiertes, aktivistisches oder solidarisches Lesen ist nichts weniger als Ausdruck einer politischen Haltung. Auch lässt sich über die Frage, für wen ein Text nicht geschrieben ist, Machtkritik üben. Als „unexpected readers“ bezeichnet Elaine Castillo, wie nicht erwartbare Lesende in einer Dominanzgesellschaft, etwa rassifizierte Menschen, Texte gegen den Strich zu lesen und Machtdynamiken aufzudecken vermögen.
 
Dass Literaturkritik als kollektiver und kollaborativer Akt zu neuen Erkenntnissen und Genres für das Lesen führen kann, haben die vier Verfasserinnen der Ferrante Letters aufgezeigt. Im gemeinsamen Schreiben und gegenseitigen Rezipieren beim Nachdenken über Elena Ferrantes Neapolitanische Saga sehen die Autorinnen Potential für eine feministische Literaturkritik. Die Briefe als persönliche und private Textgattung vermitteln hier öffentliche Botschaften und dabei wird deutlich, wie ein zugewandtes und gleichzeitig durchlässiges Wir sich formieren kann. Ein Wir, das Dissonanzen und Meinungsverschiedenheiten aushält und sich sogar durch ebendiese kennzeichnet. 

Als (Vor-)Lesende können Schriftsteller*innen in Zeiten verengter Sphären Räume für Texte schaffen. So lasen die Autor*innen Eva Menasse, Deborah Feldman, Sasha Marianna Salzmann, Tomer Dotan-Dreyfus, Julia Franck und Dana Vowinckel auf der Frankfurter Buchmesse 2023 aus Adania Shiblis Roman Eine Nebensache, der mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet werden sollte. Auch im Buchhandel zeigte sich das gemeinsame Vorlesen als solidarische Geste, etwa in Form eines partizipativen, mehrsprachigen Community Reading aus dem Werk der palästinensischen Autorin. 
 
Erst ein vergleichendes Lesen, das Werke und überhaupt das Schreiben immer relational und in Beziehung zu anderen expliziten wie impliziten Referenzen und Texten setzt, kann eine machtkritische Lesehaltung hervorbringen. Als „kontrapunktische Lektüre“ bezeichnet Edward Said ein Leseverfahren, das besonders Gegenstimmen miteinbezieht und die Gleichzeitigkeit von Geschichte(n) jenseits vorherrschender Machtzentren anerkennt.

Auch wenn das literarische Schaffen der Gegenwart im Mittelpunkt der Reihe steht, so soll dennoch in die Vergangenheit geblickt werden, um literaturgeschichtliche Kontinuitäten zu beleuchten. Oft erscheint das Schreiben aus marginalisierter Sicht quasi geschichtslos, was zum Teil dem Umstand geschuldet ist, dass auch vergriffene oder nicht verlegte Werke als Teile von unsichtbaren Archiven gleichwohl kulturgeschichtlich bedeutsam sind.
 
Die Reihe umfasst drei Formate. Für Lesebegeisterte bieten Buchclubs seit jeher Möglichkeiten für gemeinsames, regelmäßiges, meistens kostenloses Lesen. In diesem Sinne lädt Vorzeichen bis Ende des Jahres 2024 acht Mal Autor*innen zum „International Online Book Club: Meet the Author“ ein, um gemeinsam mit ihnen über ihr Schreiben zu sprechen. Die Lesungen werden von der Kuratorin der Reihe moderiert.

In sechs weiteren Veranstaltungen, die an der Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft und -betrieb geplant sind, sollen Speaker*innen, etwa Wissenschaftler*innen, Verleger*innen oder Übersetzer*innen, mit einem Fachpublikum ins Gespräch kommen. In diesen Treffen werden Ausschlüsse von Texten und Akteur*innen näher betrachtet sowie die Arbeit gegen Kanonisierungsprozesse und Marktdruck diskutiert. Die Events finden jeweils in Kooperation mit einer akademischen Institution statt. 
 
Schließlich sollen über einen Open Call Kritiker*innen identifiziert werden, die Bücher für Instagram Book Reviews vorschlagen und besprechen. Gerade in den sozialen Medien kommen neue Formen des Lesens von und des Sprechens über Literatur ins Spiel, welche in Chats, Kommentaren und anderen Austauschforen wiederum mehr Lesarten hervorbringen.