Nachhaltigkeit in den Favelas Von unten nach oben
Von wegen Armut, Verschmutzung und Kriminalität – ein Projekt in Rio de Janeiro vernetzt verschiedene Initiativen in den Favelas, die versuchen, ihre Nachbarschaften grüner und sozialer zu gestalten.
Ein Abwasserprojekt aus dem Norden, ein Aufforstungsprogramm aus der Metropolregion Rio de Janeiros, ein Umweltmuseum im Westen, eine Recyclinginitiative aus dem Zentrum", Clara Ferraz zählt eine Reihe an Nachhaltigkeitsprojekten in Rio de Janeiro auf. Vor ein paar Jahren wussten sie noch wenig voneinander. Das Sustainable Favela Network versucht das zu ändern. Ferraz arbeitet seit drei Jahren für die brasilianische NGO Catalytic Communities, die das Netzwerk betreut. Sie hat Umweltwissenschaft studiert und engagiert sich deshalb besonders für das Projekt.„Es dreht sich alles um Vernetzung”
Sie ist etwas zu spät für das Videointerview, da sie noch gearbeitet hat. Erst gibt es Probleme mit der Internetverbindung, doch dann klappt es. Schon vor der Pandemie hat sie den Großteil ihrer Arbeit digital erledigt. Sie koordiniert die Planung von Vorträgen, Gruppentreffen, die Kommunikation mit Veranstaltungsorten: „Es dreht sich alles um Vernetzung.“Bei den Treffen des Sustainable Favela Networks tauschen sich Vertreter*innen aus ganz Rio über ihre Arbeit aus. | Foto: Thiago Dias © CatComm
Das Sustainable Favela Network wurde 2017 ins Leben gerufen. Als erstes großes Projekt entwickelten sie eine interaktive Karte Rios, auf der lokale Umweltorganisationen eingezeichnet sind. Daraus bildeten sich verschiedene Austauschformate zwischen den Projekten. Ferraz erinnert sich an einen Workshop einer Initiative zu Lebensmittelverschwendung, die sich dafür einsetzt, keinen Abfall beim Kochen zu produzieren. „Die Menschen kommen aus den verschiedensten Ecken.“ Allein 2020 haben sich 120 Menschen online an den Treffen des Netzwerks beteiligt. In Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themengebieten, wie beispielsweise Wasserversorgung, Solarenergie oder nachhaltiger Bildung, tauschen sie sich regelmäßig aus.
Die Favelas zusammenbringen
„So viel wie letztes Jahr hatten wir noch nie zu tun“, erzählt Theresa Williamson. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin von Catalytic Communities in Rio de Janeiro, wo sie lebt und arbeitet. Momentan ist sie in den USA, doch da sich die ganze Welt momentan nur auf Bildschirmen sieht, ist das Nebensache. Sie spricht schnell und klar: „Unsere Arbeit besteht darin, die Menschen in den Favelas zu finden, die wichtige Arbeit leisten, um dann zu sehen, wie wir ihnen helfen können. Ganz einfach.“ Seit 2000 gibt es die Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Initiativen und Projekte aus den Favelas in Rio zusammenzubringen und zu unterstützen.Theresa Williamson vor den Mitgliedern des Sustainable Favela Networks | Foto: Antoine Horenbeek © CatComm Catalytic Communities sieht sich in einem dialektischen Austausch mit den Menschen aus den Favelas. „Es ist ein gemeinschaftlicher Prozess, bei dem wir uns gegenseitig bestärken. Wir haben ein gemeinsames Ziel: die Weiterentwicklung der Nachbarschaften und eine vollständige Integration in die Stadt“, sagt Williamson. Dabei ist es ihnen wichtig, dass die Favelas ihre Eigenständigkeit und kreativen Dynamiken beibehalten.
23 Prozent der Einwohner*innen Rios leben in Favelas: informelle Siedlungen, die häufig mangels passender Übersetzung als Slums oder Armenviertel betitelt werden. Dabei ist „Favela“ eigentlich der Begriff einer im Nordosten Brasiliens verbreiteten, robusten Kletterpflanze – die Namensgeberin der ersten Siedlung. Entstanden sind die ersten Favelas als Gemeinschaften aus Afro-Brasilianer*innen gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Abschaffung der Sklaverei in Brasilien.
Clara Ferraz bei einem Austauschtreffen des Sustainable Favela Networks. | Foto: Thiago Dias © CatComm
Eine Biogasanlage für die ganze Nachbarschaft
Eines der Projekte, die das Sustainable Favela Network unterstützt, liegt Ferraz besonders am Herzen. Als eine der kleinsten Favelas liegt Vale Encantado, „verzaubertes Tal“, umschlossen von Wald am Rande des Nationalparks, der sich mitten in Rio befindet. „Es gibt viele Stimmen, die behaupten, die Bewohner*innen schaden der Biodiversität des Waldes“, erklärt Ferraz. „Obwohl die anliegenden Villenviertel ein viel größeres Problem darstellen.“ Die Stadtverwaltung versuche deshalb, die Anwohner*innen des Vale Encantado zu vertreiben. Um zu zeigen, dass sie entgegen ihrer Anschuldigung einen wichtigen Faktor zur Erhaltung der Natur bilden, starteten die Bewohner*innen Nachhaltigkeitsprojekte. Zwei Biogasanlagen sollen die selbstständige Versorgung der Nachbarschafft sichern. Eine der Anlagen wird mit Essensresten einer aus vielen Familien gegründeten Kochgemeinschaft gefüllt. Sie entwickelt neue Rezepte mit der wildwachsenden Jackfrucht, die in Vale Encantado stark verbreitet ist. Aus dem Abfall erzeugt die Biogasanlage wiederum Strom, um den Herd zu befeuern, auf dem das Essen gekocht wird. Die andere Anlage ist an Abwasserkanäle angeschlossen, bald soll sie die Abwasserentsorgung der ganzen Gemeinschaft regeln.Die nährreiche Jackfrucht wächst wild in Rio de Janeiro. | Foto: © CatComm Für die Zukunft wünscht sich Ferraz, dass die konkreten Forderungen des Netwerks zu mehr nachhaltigem Handeln in der Stadt umgesetzt werden. Nächstes Jahr wollen sie vermehrt im öffentlichen Raum sichtbar werden und die Regierung miteinbeziehen: „Damit sie ihren Job hier richtig machen. Nachhaltige Favela-Projekte sollen gefördert werden – und zwar nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben – genau wie durch unser Netzwerk.“
Im Vale Encantado bereiten die Bewohner*innen Gerichte mit Jackfrucht her. | Foto: © CatComm
Kreative Ideenmaschinen
Es gibt ähnliche Projekte weltweit, die Gemeinschaften verknüpfen und deren Selbstbestimmung fördern. „Unser Modell lässt sich nicht eins zu eins übernehmen, da jede Gemeinschaft anders aufgebaut ist, doch die Idee, Beziehungen herzustellen und Vertrauen zwischen Initiativen aufzubauen, kann überall eingesetzt werden”, so Ferraz. Auch Williamson sieht eine große Chance in der Unterstützung von informellen Siedlungen: „Wenn sie einmal gefestigt sind, müssen wir sie unterstützen. Wir sollten sie nicht verdrängen.“ Catalytic Communities sieht die Favelas nicht als ein Problem, sondern als eine kreative Ideenmaschine, die immer wieder selbst mit innovativen und nachhaltigen Projekten und Lösungen aufkommt.Wie kann der Städteboom zum Ökowunder werden?
Überall auf der Welt wachsen Städte nahezu unkontrolliert. Bis 2050 könnte sich die Stadtbevölkerung weltweit fast verdoppeln. Hinzu kommen Verkehrschaos, energieintensive Baumaterialien wie Stahl und Beton, die Verdrängung von Ökosystemen. Dabei haben Städte eigentlich das Potential, besonders nachhaltig zu sein, da sich die Bewohner*innen Infrastruktur auf engem Raum teilen, was wiederum Ressourcen und Energie spart. In den Reportagen zum Thema Städteboom schauen verschiedene Autor*innen sich drei Lösungsansätze an und fragen, wie eine nachhaltige Urbanisierung möglich ist.