Erinnerung und Macht Die erfundene „mãe preta“

Rassismus – Drei Porträts historischer Schwarzer brasilianischer Persönlichkeiten sind auf Bannern zu sehen.
Porträts historischer Schwarzer Persönlichkeiten aus Brasilien | Foto (Detail): Amanda Perobelli © picture alliance

Das Foto einer Schwarzen Frau an der Küchenwand meiner weißen brasilianischen Großmutter wirft viele Fragen auf. Meine Großmutter nennt die Frau ihre „mãe preta“. Doch wer war sie wirklich? 

Inwiefern verweist Abwesenheit auf Machtstrukturen? Diese Frage gilt einem Foto, das stets an der Küchenwand meiner brasilianischen Großmutter in Deutschland hing und eine ältere Frau namens Nhá Maria zeigt, die meine Großmutter ihre mãe preta – „Schwarze Mutter“ – nennt. Meine deutsche Familie stellte sich stets vor, Nhá Maria habe meine weiße Großmutter, die als Tochter deutscher Einwander*innen bis zu ihrem 21. Lebensjahr in Brasilien lebte, großgezogen. Gespräche mit meiner Großmutter offenbarten jedoch, dass sie kaum je etwas über Nhá Maria gewusst hat. Nhá Maria war weder Hausangestellte noch Kindermädchen der Familie. Sie lebte einfach im selben Viertel und war, den Erzählungen nach zu folgen, für ihre Heilkräfte und Fürsorge in der Nachbarschaft bekannt. Was bewegte meine Großmutter also dazu, Nhá Maria als mãe preta zu bezeichnen?

Der Kulturtheoretiker Stuart Hall inspiriert mich, die tiefere Bedeutung des Fotos – und der willkürlichen Bezeichnung mãe preta – in jenem zu suchen, was nicht sichtbar ist und worüber meine Großmutter und Familie lediglich fantasieren. Das Foto verleiht der Unkenntnis über die Geschichte von Nhá Maria Ausdruck. Jene Unkenntnis bildet den Nährboden für koloniale Denkweisen und transportiert diese in die Gegenwart. Um mit der Reproduktion kolonialer Macht zu brechen, gilt es, weiße koloniale Vorstellungen aufzuspüren, sie zu enthüllen und sie dadurch zu entkräften.

Die Dringlichkeit von Transformation

In der kolonialen Errichtung Brasiliens erfuhren versklavte Mütter eine doppelte Ausbeutung. Einerseits arbeiteten sie auf den Plantagen und im Herrenhaus, der casa grande. Gebaren sie selbst ein Kind, wurden sie andererseits als Milchammen für die Kinder ihrer „Herren“ versklavt. Der Missbrauch ihrer Mutterschaft – ihrer Milch und Zuneigung – sicherte somit das biologische Fortbestehen einer rassistisch organisierten Gesellschaft. Auf den während der Kolonialzeit entstandenen Fotos und Darstellungen der mãe preta wird ersichtlich, wie das Motiv der Schwarzen Sklavin, die ihrem kleinen weißen „Herrn“ die Brust gibt, zudem einer Romantisierung und Fetischisierung unterzogen wurde. Die Figur der mãe preta erscheint als das Kernstück der wirtschaftlichen, biologischen und sozialen Produktion und Reproduktion der kolonialen Gesellschaftsteilung.

„Der Missbrauch ihrer Mutterschaft – ihrer Milch und Zuneigung – sicherte somit das biologische Fortbestehen einer rassistisch organisierten Gesellschaft.“

Wie die im Jahr 1994 verstorbene brasilianische Anthropologin Lélia González zeigte, findet aber Unterdrückung nie ohne Widerstand statt. González verstand mães pretas als Frauen, die Wissen und Werte ihrer afro-brasilianischen Herkunft an die Kinder ihrer Unterdrücker*innen weitergaben, ihnen das Sprechen beibrachten und so auf unsichtbare Weise tiefe Spuren in der gesellschaftlichen Formierung Brasiliens hinterließen. Dieser Perspektivwechsel ist fundamental für dekoloniale Transformation: Obwohl Nhá Marias Spuren nicht unmittelbar erfassbar sind, hing ihr Foto all die Jahre da und erinnerte uns an zum Schweigen gebrachte Geschichten Schwarzer Brasilianerinnen.

Das Foto

Auf der Rückseite des kleinen Rahmens ist auf Portugiesisch zu lesen: „Ich schicke dieses Porträt in guter Freundschaft mit Nhá Barbara (meiner Großmutter). In Sehnsucht, Nhá Maria.“ Das um 1960 aufgenommene Foto zeigt eine ältere Frau, die vor ihrem kleinen Haus sitzt, ihren traurig und stolz wirkenden Blick auf die Kamera richtet und eine Statue der brasilianischen Nationalpatronin Nossa Senhora Aparecida in ihren Händen hält.
Nhá Maria: die Geschichte einer Frau, die nie erzählt wurde. Nhá Maria: die Geschichte einer Frau, die nie erzählt wurde. | Foto: Privatarchiv Alma Kaiser
Die deutschen Vorfahr*innen meiner Großmutter waren im Jahr 1881 – in einer Zeit, in der Brasilien die Einwanderung mehrerer Millionen weißer Europäer*innen mit dem Ziel einer ‚Verweißlichung‘ der Bevölkerung verfolgte – nach Brasilien ausgewandert. Erst 1888 schaffte Brasilien die Sklaverei ab, sodass meine Großmutter 1930 als Tochter eines deutschen Einwanderers und einer Brasilianerin deutscher Herkunft in ein sicherlich rassistisches Umfeld hineingeboren wurde. Sie wuchs teils auf einer Fazenda de café im Inland auf, wo sie in den 1940er-Jahren Nhá Maria kennenlernte. Auf meine Frage, warum meine Großmutter Nhá Maria als mãe preta bezeichnet, antwortete sie, dass Nhá Maria sie und die ganze Nachbarschaft segnete und mit ihren Heilkräften umsorgte. Mehr wusste sie mir nicht zu berichten und bemerkte: „Das Interesse, das du an ihr [Nhá Maria] hast ... Niemand war an ihr interessiert, als sie noch lebte.“

Weiße Fantasien

Das bis heute aufbewahrte Foto zeugt von einer freundschaftlichen Bekanntschaft zwischen einer Schwarzen Frau und einem weißen Mädchen im Brasilien der 1940er-Jahre. Gleichzeitig erzählt es auch von der Unkenntnis über die Geschichte jener Frau, da – wie meine Großmutter selbst bemerkt – sich Zeit ihres Lebens keiner für sie interessierte. Unkenntnis – all jenes, was wir nicht hören und sehen (wollen) – bildet den Nährboden für Fantasien über das, was wir sehen. Mit Stuart Hall vermute ich, dass sich meine Großmutter in ihrer Unkenntnis über Nhá Maria die koloniale Vorstellung der mãe preta aneignete, um ihrer Faszination für diese Schwarze ältere Frau Raum zu geben. Die Folge ist, dass meine deutsche Familie eine Art exotische Legende um Nhá Maria als Kindermädchen meiner Großmutter entwickelte – obwohl sie dies nie gewesen war.

In ihrer Vorstellung reduzierte meine Großmutter Nhá Maria auf drei Eigenschaften: Schwarzsein, Weiblichkeit und spirituelle Fürsorge. Eine solche Reduktion einer Person auf ihre Eigenschaften ist Stuart Hall zufolge typisch für die Entwicklung eines Fetisches, der wiederum eine häufige psychologische – und unbewusste – Reaktion auf ein Tabu ist. Innerhalb des rassistischen Umfeldes, in dem meine Großmutter und Nhá Maria lebten, war ihre Freundschaft ein Tabu. Ich vermute, dass meine Großmutter durch die unbewusste Fetischisierung von Nhá Maria als mãe preta die Bekanntschaft einer Schwarzen Frau in der Umgebung ermöglichen wollte.

Weil keiner je hinterfragte, wer der Mensch Nhá Maria gewesen war, konnte sich die zum Foto zugehörige koloniale Fantasie meiner Großmutter bis heute zu einer Legende weiterentwickeln. Das Foto verdeutlicht, dass der realen Geschichte Nhá Marias keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wir wissen nicht, wie ihr Leben tatsächlich verlief. Gleichzeitig entwickelten sich Vorstellungen – Fantasien – um ihre Identität, die kolonialen Denkweisen entsprechen und sie in die Gegenwart transportieren. Eine mehr oder weniger erfundene mãe preta, die es de facto nicht gegeben hat.

Spuren

Solange wir die Abwesenheiten der Geschichten Schwarzer Frauen in den Familienarchiven weißer Familien nicht hinterfragen, reproduzieren wir die koloniale Objektifizierung Schwarzer Frauen in der Gegenwart. Freundschaft und Innigkeit können insofern die Reproduktion von Macht verschleiern. Weil die Intimität zwischen dem weißen Baby und seiner versklavten Milchamme zentral für die Reproduktion von kolonialer Macht war, ist die Verwendung des Begriffs mãe preta vonseiten meiner Großmutter für die Beschreibung ihrer Freundschaft zu Nhá Maria problematisch. Gerade weil meine Großmutter Nhá Marias Geschichte nicht kennt, reproduziert sie durch diesen Begriff die koloniale Romantisierung unterdrückter Schwarzer Frauen in Brasilien.

Meine Auseinandersetzung mit ihrem Foto ist der Anfang in eine andere Richtung: Dieses Bild wird nie wieder einfach stumm an einer Küchenwand in Deutschland hängen. Dennoch erzählt das Foto noch immer nicht Nhá Marias Geschichte. Abwesende Geschichten können nicht von jenen erzählt werden, die sich zu Lebzeiten der betreffenden Person nicht für sie interessierten oder sie gar zum Schweigen brachten. Dieser Gedanke macht das Foto zu einem Archiv des Widerstands: Nhá Marias Geschichte bleibt für immer ihre eigene.


Dieser Artikel erschien zuerst in der Ausgabe „Macht“ des Humboldt-Magazins.