Koloniales Erbe in der Philosophie Dekolonisierung der westlichen Philosophie

Statue eines Philosophen mit rotem Verkehrskegel auf dem Kopf
Philosophie und Dekolonisierung | Foto (Detail): © mauritius images / Lorenzo Dalberto / Alamy / Alamy Stock Photos

Dank eines gesteigerten postkolonialen Bewusstseins muss sich die westliche Philosophie heute der Frage stellen, inwieweit sie epistemologisch zu einer Unterdrückung des globalen Südens und zu einer Diskriminierung oder sogar Versklavung seiner Bevölkerung beigetragen hat. Hier wird vorgeschlagen, das Individuum als zentralen Begriff der westlichen Philosophie zu dekonstruieren und durch die von verschiedenen Theoretiker*innen des globalen Südens verwendeten Begriffe des Dividuums und der Dividuation zu ersetzen.
 

Dank einer gesteigerten postkolonialen Achtsamkeit erkennen westliche Philosophien ihre Prägung durch historische Anthropologien und ethnokulturelle Annahmen von der menschlichen Individualität. Die postkoloniale Kritik geht von der These aus, dass der Kolonialismus kein Postkolonialismus und damit nicht vorüber ist, und will sich demzufolge mit nicht-westlichen Perspektiven und einem breiteren Spektrum philosophischer Konzepte auseinandersetzen, um verschiedene Formen des Selbstverständnisses zu berücksichtigen. Sie beruht auf der Erkenntnis, dass die akademische Philosophie im Zuge der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts auf Grundlage spezifischer kultureller Parameter entwickelt wurde. Zudem setzt sie sich kritisch mit der auch von Rassentheorien beeinflussten benachteiligenden Differenzierung zwischen Personen auseinander. Darüber hinaus unterbreitet sie neue Konzepte, um ein umfassenderes Bild von der menschlichen Existenz in der Welt zu zeichnen.

1. Epistemischer Imperialismus

Mit Begriffen wie „epistemischer Imperialismus“ (Ndlovu-Gatsheni, 2018) oder „Hegemonien des westlichen Denkens“ fordern einige Theoretiker*innen aus afrikanischen Ländern eine „Entkolonisierung des Denkens“ und eine Berücksichtigung des Beitrags „Anderer“ zum Verständnis von der Welt. Der hier diskutierte Vorschlag einer „Entkolonisierung“ der Philosophie bezieht sich nicht nur auf die Geschichte der westeuropäischen Kolonialpolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert und den „Scramble for Africa“ – den Wettlauf um Afrika. Er zielt auch auf das philosophische Selbstverständnis des globalen Nordens und sein epistemisches Fundament ab.

Bei einer erneuten Lektüre der deutschen idealistischen Denker stellt der nigerianische Philosoph Emmanuel Chukwudi Eze fest, dass Hegel den Kolonialismus offenbar „als vorteilhaft für Afrika betrachtete, weil Europa dem Kontinent Vernunft, Moralvorstellungen, Kultur und Sitten gebracht und auf diese Weise zu seiner Geschichtswerdung beigetragen hat. (...) Für Hegel waren Afrikaner*innen Untermenschen“ (10). Eze hinterfragt das Verhältnis zwischen dem europäischen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und der Tatsache, dass die „Ideale“ der europäischen Moderne von ihrer „historischen Umsetzung“ getrennt wurden. (…) Durch die dialektische Negation Afrikas konnte Europa sich selbst und seine diesbezügliche Geschichte als (…) Ideal der Menschlichkeit postulieren und präsentieren. Die Europäer*innen sahen eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen sich selbst und den Menschen in Afrika vor, um auf diese Weise die entsetzliche Ausbeutung und Abwertung der Afrikaner*innen zu rechtfertigen“ (13).

In diesem Zusammenhang ist auch das zentrale Konzept von Kants Kritik der Urteilskraft, der sensus communis oder „Gemeinsinn“, zu hinterfragen. Seine Kritik beruht nicht nur auf der Annahme einer selbstverständlichen Form der Anerkennung, die weitere Möglichkeiten der Wahrnehmung und Bewertung ausschließt, sie entpuppt sich zudem als Beurteilung auf Grundlage der Rasse, weil sie bestimmten Menschen nicht-europäischer Herkunft, wie beispielsweise Irokesen, den „Gemeinsinn“ abspricht.

Darüber hinaus geht Kants Kritik auch mit einer ersten philosophischen Rassentheorie einher. Während er seine Forderung nach der Anerkennung eines „moralischen Gesetzes in uns“ auf Newtons deterministische Naturgesetze stützt, ist seine Anthropologie der Versuch, eine „spezifisch menschliche, innere Natur“ (Eze, 108) zu finden und so eine Hierarchie der Rassenunterscheidung nach Hautfarben zu entwickeln, in der Weiße an der Spitze und Schwarze oder Olivgelbe am unteren Ende stehen.

Aus diesem Grund legen Philosoph*innen aus dem globalen Süden Wert auf die Feststellung, dass die genannten deutschen Philosophen ihre Auffassungen vom menschlichen Individuum auf die bürgerliche Kultur stützen und das Wahlrecht über das Eigentum am Selbst und an Grund und Boden legitimieren. Das moralische Gesetz erweist sich im Zusammenhang mit dem Freiheitsbegriff als dem Verhältnis des „possessiven Kapitalismus“ vorbehalten, wie Macpherson kritisch anmerkt.

2. Problematisierung des Individuums

Kritische Aussagen zum Begriff des Individuums stammen hauptsächlich von postkolonialen Denker*innen wie Stuart Hall. Er vertritt die Auffassung, dass westliche Vorstellungen nicht den hybriden Identitäten großer Teile der Weltbevölkerung gerecht werden, die sich zur Migration und Anpassung an fremde Kulturen gezwungen sehen und in ihrem Überlebenskampf eine Deindividuation erfahren. Nach Angaben des kamerunischen Wirtschaftswissenschaftler Francis B. Nyamnjoh gehen Forschende in Kamerun und Botswana davon aus, „dass Afrikaner*innen nicht nur an Rechten und Freiheiten als Individuen, sondern auch an Rechten und Anerkennung als soziale und kulturelle Solidargemeinschaften interessiert sind“ (2001, 29). Einige afrikanische Philosoph*innen verweisen darauf, dass Begriffe wie „Menschenwürde“ an erster Stelle der namibischen Verfassung stehen und einen höheren Stellenwert als Individualität genießen.

Der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos geht sogar so weit, dem globalen Norden vorzuwerfen, einen „Epistemizid“ des nicht-westlichen Wissens zu begehen und bis heute eine tiefe Kluft zwischen Bereiche des Seins und des Nicht-Seins zu schlagen. Er setzt sich mit Nachdruck für eine Ästhetik der Epistemologien des Südens (Aesthetics of the Epistemologies of the South, 2020) ein, die über die Nord-Süd-Dichotomie hinaus „dritte Werte“ entwickelt, wie „tiefe Verflechtungen“ und „ästhetische Durchdringungen“ zwischen den gewaltsam getrennten Kontaktzonen.

Und D. A. Masolo bekräftigt, dass die „Leben und Identitäten von Personen durch die Bandbreite ihrer interaktiven Beziehungen bestimmt werden. (…) Eine Person kann innerhalb kurzer Zeit an Zusammenkünften von drei oder mehr – wissenschaftlichen, ethnischen, kommerziellen, freizeitorientierten oder religiösen – Organisationen teilnehmen und dabei mühelos in jeweils unterschiedliche Rollen schlüpfen. (297).

3. Das Gegenkonzept der (De-in)dividuation

Wie uns die heutige kritische Perspektive lehrt, ist das gegenwärtige Weltwerden als ein erweiterter „Grundsatz der Relativität“ zu verstehen, der nicht länger auf der Atomphysik oder auf Newtons Physik beruht. Dieser Grundsatz zwingt uns dazu, Perspektiven aus unterschiedlichen Blickwinkeln einzunehmen und auf mehrere Ebenen zu übertragen.

Erkenntnisse über die freiwillige oder unfreiwillige Teilhabe einzelner Personen an biotischen Massen und ökologischen Gefügen, an Weltgesellschaften und technologischen Praktiken machen deutlich, dass menschliche Subjektivierungen neu definiert werden müssen. Aktuelle Erkenntnisse zeigen, dass wir schon immer unter dem Einfluss einer wechselseitigen Durchdringung – von Sprachen, Bildern, Technologien und gesellschaftliche Strukturen – standen, sodass die Idee der Untrennbarkeit sowohl im biologischen, als auch im sozialen und kulturellen Bereich zu hinterfragen ist. Wir erkennen, dass unsere Selbstidentität als ungeteilte Einheit eine fehlgeleitete Negation der notwendigen, das Leben ausmachenden Teilhabe bedeutet und wir nun vor der Aufgabe stehen, unsere möglicherweise widersprüchlichen Formen der Teilhabe zu erkunden und miteinander zu vereinbaren.

Vor allem aus der aktuellen postkolonialen Perspektive und angesichts gesteigerter kultureller Interferenzen in der globalisierten Welt scheint eine Erneuerung der westlichen Vorstellungen vom Individuum dringend geboten. Sie sind durch einen Begriff zu ersetzen, der weder Trennung noch Privilegien und epistemologische Dualismen impliziert, sondern stattdessen auf mobile Beziehungen oder sogar auf wechselseitige Konstitutionen von Personen, Kulturen, Gesellschaften, ökologischen Gefügen etc. hindeutet.

Mehrere Anthropolog*innen und Ethnolog*innen teilen die Auffassung, dass sich Kulturen des globalen Südens nicht nach westlichen Vorstellungen von der Familie und vom Individuum analysieren lassen. Die englische Ethnologin Marilyn Strathern (1988, 13) und andere Anthropologen wie Marshall Sahlins oder Viveiros de Castro verwenden den von Gilles Deleuze geprägten Begriff des „Dividuums“ für nicht-duale Beziehungen zwischen Personen und ihrem weiteren Familienkreis in Gesellschaften des globalen Südens. Der indische Soziologe Arjun Appadurai beschreibt mit „Dividuen“ Personen aus der Arbeiterklasse des globalen Südens und ihren nichtindividuellen Kampf um minoritäre Selbstbestimmung. Andere verweisen auf unsere zunehmende Einbindung in digitale Technologien, um hervorzuheben, dass es nicht länger eine klare Abgrenzung zwischen einzelnen Personen und ihren Chatgruppen oder sozialen Medien gibt.

Der antillische Philosoph Edouard Glissant setzte sich bereits in den 1980er-Jahren für eine „Entindividualisierung“ (1990, 211) und eine unbedingte Aufgabe einheitlicher Kulturbegriffe ein. Sein Konzept beruht auf der Überzeugung, dass Personen und kulturelle Werke ihre inhärente und unerkannte Verflechtung mit Anderen aufzeigen müssen, indem sie sich den auferlegten westlichen Normen widersetzen.

Sie sollten eine Verbindung zu ihrem historischen Vermächtnis indigener, Schwarzer und durch die Kolonialmächte auferlegten Ausdrucksformen herstellen und komplexe Netzwerke nach dem Vorbild des karibischen Archipels errichten. Auf diese Weise sollten sie als Modell der Pluriversalität für die Welt in ihrer Gesamtheit („Tout-Monde“) dienen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich hervorheben, dass der Begriff des „Dividuums“ oder der mehr prozessorientierte Begriff der „Dividuation“ nicht nur dazu beitragen, Erkenntnisse über die zwangsläufige Gemeinsamkeit unseres Daseins auf diesem Planeten zu gewinnen. Sie stehen auch in Verbindung mit unseren Bemühungen, unsere Dividualisierung in inklusive Teilhabeprozesse zu übertragen. Und sie sehen sogar eine Bündelung von Potenzialen in „condividuellen“ Gefügen vor, die sich einer kapitalisierten Vereinnahmung und öko(techno)logischen Ausbeutung widersetzen. Nichtsdestotrotz ist Dividuation nicht mit Spaltung oder Vereinheitlichung gleichzusetzen, denn dank ihres besonderen Partizipationsmodus unterscheiden sich die einzelnen Formen der Dividuation klar voneinander. Es gibt keine identitären Dividuen. Allerdings ist es nicht leicht, sich selbst als Dividuum anzuerkennen: Schließlich setzt das dividuelle Bewusstsein voraus, dass wir Querverbindungen als Gelegenheit für ein Weltwerden durch bewusste „Condividuationen“ begreifen.



Bibliografie

De Sousa Santos, Boaventura. 2020. Towards an Aesthetics of the Epistemologies of the South. In Boaventura de Sousa Santos and Maria Paula Meneses (eds.). Knowledges born in the Struggle. New York/London: Routledge, 117-125.

Emmanuel Chukwudi Eze, Introduction, in: ib., Postcolonial African Philosophy. A critical Reader, Cambridge: Blackwell Pub., 1997, 8-9.

Glissant, Edouard. 1990. Poétique de la relation, Paris: Gallimard.

Glissant, Edouard. 1999. Traktat über die Welt. Heidelberg: Wunderhorn.

Hountondji. Paul. 1981. Que peut la philosophie? In: Présence Africaine, no. 119. Dakar/Paris.

Jameson, Frederic. 2000. The Jameson Reader, Oxford : Blackwell

Macpherson, C,B. 1967. Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt/M : Suhrkamp.

Masolo, D.A. Some Misreading Abstractions about Identity, in: Eze, 283-300.

Ndlovu-Gatsheni, Sabelo J. 2018. Epistemic freedom in Africa: deprovincialization and decolonization. Boca Raton, FL : Routledge, an imprint of Taylor and Francis, 2018

Nyamnjoh, F. B. 2004. Global and Local Trends in Media Ownership and Control: Implications for Cultural Creativity in Africa. In Situating Globality: African Agency in the Appropriation of Global Culture, edited by Wim van Binsbergen, 57–89. Leiden/Boston: Brill.

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Serequeberhan, Tsenay. The critique of Eurocentrism, in: Emmanuel Ch. Eze, 139-161.

Strathern Marilyn. 1988. The Gender of the Gift (Los Angeles: Univ. of California Press.
Viveiros de Castro, Eduardo. 2016. Die Unbeständigkeit der wilden Seele, Berlin/Wien: Turia + Kant.