Adoleszenz mit Radio „You do right“

„You do right“ – die Band Can 1971 in Hamburg
„You do right“ – die Band Can 1971 in Hamburg | © picture alliance / Jacques Breuer

Was hat Dich geprägt? Das Radio! Der Hamburger Musikjournalist Jürgen Ziemer erzählt, wie er in den 1970ern und 1980ern mit dem Radio aufgewachsen ist: mit den Beatles, Karlheinz Stockhausen, Krautrock und Antihits.
 

Als Kind saß ich oft stundenlang vor einem alten Röhrenradio und drehte am Regler. Es gefiel mir, wie der Zeiger mühelos über die smaragdgrün illuminierte Sender-Anzeige glitt, mit all den Namen fremder Städte: Paris I, Berlin-Ost, Mailand, Monte Carlo. Jede Drehung am Rad brachte neue Klänge. Schwermütige Streicher, brachiale Blasorchester; manchmal schrieen mich aus dem Lautsprecher die Beatles an: „I wanna hold your hand!“ Oft wurde auch nur geredet. Es gab Sendungen für Gastarbeiter, in unterschiedlichen Sprachen, andere richteten sich in hessischer Mundart an die Landbevölkerung. Und dazwischen rauschte, knackste und pfiff der alte Holzkasten wie ein dickköpfiges Haustier, das sich nicht einfach so herumschubsen lässt.

Das Röhrenradio hatte seine besten Jahre schon hinter sich und stand im Haus meiner Großeltern, wo ich damals oft die Nachmittage verbrachte. Ich fühlte mich als Herrscher dieses Kastens, der mich durch sein magisches Auge geduldig anblickte. Magisches Auge – ist das nicht ein wunderbarer Name für eine Elektronenröhre, die mit grün pulsierendem Licht die Stärke des Sender-Signals anzeigt? In den Siebzigern waren die Zeiten vorbei, wo sich die ganze Familie abends andächtig vor dem Radio zur Unterhaltungs- und Informationsaufnahme versammelte. Längst hatte in dieser Hinsicht das Fernsehen übernommen.

Für mich war das Radio eher ein magischer Kaninchenbau, in den ich immer wieder und immer tiefer hineinkroch. Ich suchte nicht, sondern wollte überrascht werden! Einmal landete ich bei einem Programm für zeitgenössische Klassik. Der sehr ernste Sprecher kündigte ein Stück an, dessen Titel äußerst gruselig klang: Gesang der Jünglinge im Feuerofen von Karlheinz Stockhausen. Irrlichternde Stimmen, elektronische Geräusche und viel gespenstische Stille – ich verstand nichts und war doch tief beeindruckt.

Wenn mir ein Song gefiel, drückte ich blitzschnell die rote Rec-Taste.

Zum zwölften Geburtstag schenkten mir meine Eltern einen Radiorekorder von Philipps – ein enormer Schritt in Richtung Unabhängigkeit. Das Ding war nicht besonders hübsch, aber schmal genug, um auf den Tisch zu passen, an dem ich nach der Schule meine Hausaufgaben erledigte. Wenn mir ein Song gefiel, drückte ich blitzschnell die rote Rec-Taste – und trotzdem fehlten hinterher kostbare Sekunden vom Anfang des Songs. Doch ich lernte dabei in doppelter Hinsicht: einerseits für die Schule – es machte Spaß, die Hausaufgaben mit Musik zu erledigen – andererseits für mein zukünftiges popkulturelles Leben.

Eine der wichtigsten Institutionen war der Pop Shop von SWF 3, ein mutiger Pionier des deutschen Jugendradios. Im Hessischen Rundfunk servierte Werner Reincke die Hitparade International, deren Spitzenpositionen ich auswendig lernte, um damit auf dem Schulhof zu glänzen. Doch mit fortschreitender Pubertät genügte mir das nicht mehr. Ich wollte tiefer in die Sache einsteigen, herausfinden, was es mit dem Phänomen des Krautrock auf sich hat. Bereits die Namen von Bands wie Amon Düül, NEU! oder Kraftwerk klangen fremd und verlockend. Einmal hörte ich im Pop Shop ein Stück von Can. Ein Rhythmus wie aus einer Voodoo-Zeremonie rollte aus dem Radio, getragen von hypnotischem Trommeln und einem Basslauf, der sich ständig wiederholte. Dazu sirrende elektronische Geräusche und eine heisere Stimme, die immer wieder „You do right“ sang. Fast so, als wolle mir der Sänger Mut machen: Alles gut, Junge, mach weiter so, du bist auf dem richtigen Weg.

Ich singe nicht für euch, ihr vollgestopften Allesfresser.

Eine andere Sendung, die ich als Teenager liebte, trug den Titel Für wen singen wir? – Antihits aus Deutschland. Da ging es um Liedermacher und Protestsänger, manche waren so lustig wie Ulrich Roski, andere kämpften kompromißlos für die Sache des Sozialismus. Beides schien mir angebracht und sinnvoll. Der Titelsong der Sendung – die um die Mittagszeit lief, also keinesfalls im späten Nachtprogramm – stammte von Franz Josef Degenhardt. Im Stil einer kirchlichen Litanei, begleitet von einer düsteren Orgel, attackierte der gelernte Rechtsanwalt das deutsche Bürgertum und seine Geschichtsvergessenheit mit rhetorischem Furor: „Ich singe nicht für euch, ihr vollgestopften Allesfresser mit der Tischfeuerzeug-Kultur. Ihr, die ihr eure Frauen so wie Steaks behandelt und vor Rührung schluchzt, wenn eure fetten Köter sterben. Die ihr grinst, wenn ihr an damals denkt, wie über einen Herrenwitz“.

An manchen Tagen landete ich aber auch bei den US-amerikanischen Streitkräften und ihrem Sender AFN, der von Wiesbaden aus die in Hessen stationierten GIs mit Musik und Infos versorgte. Meine englischen Sprachkenntnisse waren damals noch recht rudimentär, doch mir gefiel die rostige Stimme des legendären Radio-DJs Wolfman Jack und sein Markenzeichen, ein langgezogenes Wolfsgeheul. Aus heutiger Sicht wäre ich eigentlich lieber mit John Peel aufgewachsen, doch den konnte man nur im Norden Deutschlands empfangen, über den britischen Soldatensender BFBS.

Ab Ende der Achtzigerjahre veränderte sich meine Beziehung zum Radio. Natürlich gab es immer noch tolle Sendungen wie Klaus Walters Der Ball ist rund oder den bayerischen Zündfunk. Doch die öffentlich-rechtlichen Sender ruderten nun zunehmend zurück, weil sie fürchteten, der „Dudelfunk“ der neuen privaten Sender würde ihnen die Hörerschaft wegnehmen. Dadurch wurden sie selbst zum Dudelfunk und strichen genau die Sendungen und Programme, die bisher für Unverwechselbarkeit und Qualität gesorgt hatten. Der Kaninchenbau, in dem ich mich als Kind und Jugendlicher so gerne verlor, wurde zugeschüttet durch aufgeregtes Moderator*innen-Geplapper und die „Megahits der 80er, 90er und das Beste von heute“. Ein kleiner Trost sind heute Internetsender wie ByteFM, die das Radio noch einmal neu erfinden, oder zumindest reaktivieren möchten. Interessant, dass viele der DJs und Moderator*innen schon etwas älter sind, so wie ich auch. Als sehnten wir uns zurück nach den Geistern jener Zeiten, als im Radio experimentiert und ausprobiert wurde, und wir dabei eine Menge fürs Leben lernen konnten.