Osteuropa Von Einhörnern und Freien Sendern
Öffentlich-rechtliche und kommerzielle Sender dominieren die Welt des Rundfunks. Doch das Radio hat mehr zu bieten als Mainstream-Musik und politisch angepasste Inhalte: Einige unabhängige Radiosender haben in Mittel- und Osteuropa viel bewirkt – und ihr Einfluss ist ungebrochen.
Seit 1923 hat sich die Welt gewaltig verändert: Viele Innovationen von damals sind heute alltäglich, wie zum Beispiel die Insulinbehandlung, der Hubschrauber oder Badeanzüge – und auch das Radio. Hundert Jahre, nachdem in vielen europäischen Ländern die ersten Sendungen ausgestrahlt wurden, ist das Medium noch immer quicklebendig. Insbesondere viele kleinere, spezialisierte Sender begeistern ihr Publikum.
Eine bunte Radiomischung
Einen Radiosender kann man auf verschiedene Weise betreiben. Die beiden verbreitetsten Arten sind öffentlich finanzierte und kommerzielle Sender. Letztere gehören häufig zu Medienunternehmen, die etwa auch Fernsehsender oder Zeitungen vertreiben. Oft hat das Management ein Mitspracherecht – sowohl was das Budget als auch was den Inhalt anbelangt. Diese Sender nutzen altbewährte Schemata bei ihrer Musikauswahl und dem allgemeinen Feeling, das sie in ihren Sendungen vermitteln: So spielen etwa „Oldie“-Sender die Popmusik der 1950er- bis 1970er-Jahre, während sich die Sender in den Städten an jüngere, urbane Hörer*innen richten. Aus wirtschaftlicher Sicht ist das sicherlich sinnvoll, doch gleichzeitig wirkt es ein bisschen zynisch – besonders, wenn man bedenkt, dass die Playlists von Leuten erstellt werden, die diese Musik gar nicht unbedingt mögen, sondern einfach wissen, was bei der Allgemeinheit – dem Mainstream – gut ankommt. Aber kann man Radioprogramm nicht auch anders gestalten?
Ja, man kann: Es gibt Sender, die sich den Prinzipien einer vermeintlich erfolgreichen Programmgestaltung widersetzen. Diese Stationen versuchen authentisch zu sein, andere Musik zu spielen und interessante Themen anzusprechen – auch die eher umstrittenen und schmerzhaften. Derartige Sender sind allerdings rar. Ich bin seit 30 Jahren Teil eines solchen Einhorns: dem in Prag ansässigen Radio 1. Und wann immer ich mit Menschen aus anderen Orten spreche, höre ich: „Oh, da wo ich herkomme, haben wir so einen Radiosender nicht.“
Meiner Erfahrung nach spielen Sender, deren Beiträge über das übliche Programmangebot hinausgehen, eine besondere Rolle im Kulturbereich und können ihn unglaublich bereichern. Allerdings ist es nicht einfach, solche Stationen zu betreiben, denn die Produktion von Radioprogrammen ist relativ kostspielig, Werbetreibende wollen Ergebnisse sehen und diese Sender sind oft zu klein, um das Interesse großer Kunden zu erregen. Und doch ist es möglich – und dann können solche Sender sogar historische Bedeutung erlangen: Einige Radiosender in Mitteleuropa sind mehr als nur ein Radio; ein paar Beispiele möchte ich hier vorstellen.
Vom Piratensender zum Freien Radio
Arbeitsplatz bei Radio 1 in Prag.
| Foto (Detail): © Jana Kománková
Radio študent – ein 1969 in Serbien gegründetes Studierendenradio – hatte einen wichtigen politischen Stellenwert im ehemaligen Jugoslawien, bevor das Regime von Josip Tito und seinem Nachfolger Ivan Stambolic 1987 zusammenbrach. Igor Vidmar, ein legendärer Musikveranstalter aus Ljubljana, gehörte früher diesem Sender an. „Radio študent war über seinen Einzugsbereich hinaus populär“, erinnert sich Vidmar. Dessen Musikprogramm inspirierte den staatlichen Rundfunk zu einer Rocksendung, die bis heute sehr beliebt ist. „Als der Punk aufkam, hat Radio študent den Anschluss allerdings verpasst“, bedauert Vidmar. „Die Sex Pistols habe ich tatsächlich zum ersten Mal im staatlichen Rundfunk gehört.“ Aber die Rolle des Radiosenders ging weit über die Musik hinaus. In den 1970er-Jahren wurden im Programm viele politische Themen besprochen, von denen der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Finger ließ. Damit trug der Sender zu mehr Meinungsvielfalt und Freiheit bei. Vidmar erinnert sich auch noch an den „eingebauten Verzug des staatlichen Rundfunks“ – was bedeutete, dass vermeintliche „Live“-Übertragungen immer etwas hinter der Echtzeit herhinkten, damit politisch unerwünschte Inhalte noch zensiert werden konnten. Bei Radio študent gab es diese Verzögerung nicht: Da es eng mit der Universität verbunden war, konnten die Behörden eine Sendung nicht einfach unterbrechen.
In den alten Tagen der Sendegeschichte war manchmal (viel) Rotwein im Spiel.
| Foto (detail): © Jana Kománková
Der ehemalige Ostblock hat aber durchaus noch dramatischere Momente in der Radiogeschichte erlebt. Einige Stationen fingen sogar als Piratensender an, was auch bei Radio 1 der Fall war. „Sie wollten eigentlich gar nicht schwarzsenden, aber es gab kein Gesetz, das den Rundfunk regelte“, erzählt Vladimír Vintr, der ehemalige Direktor von Radio 1 in Prag, das damals als Radio Stalin bekannt war. „Wir wollten die Behörden dazu bringen, uns eine Lizenz zu erteilen. Ursprünglich sollte es ein offizieller Sender und kein Piratensender sein“, berichtet auch die derzeitige Direktorin von Radio 1, Lenka Wienerová, über die Anfänge. Doch es dauerte eine Ewigkeit, bis sie die Lizenz erhielten. Und so beschlossen die Studierenden, im Rahmen einer Kunstausstellung in den schmutzigen, staubigen Katakomben unter dem ehemaligen Stalin-Denkmal im Prager Letná-Viertel auf Sendung zu gehen. Nachdem der Sender drei Tage lang illegal lief, wurde die Sendeausrüstung im Herbst 1990 beschlagnahmt und es bedurfte einer Menge an Petitionen, offenen Briefen und Druck – hauptsächlich seitens der Kunstszene – um sie zurückzubekommen. Doch dank Vintr und anderer engagierter Radiomacher*innen, Musiker*innen und Künstler*innen, die wütende Briefe an die Medien schrieben, durfte Radio 1 schließlich legal senden.
Radio 1 hat sogar eigene Plattenteller-Auflagen, wie durch eine durchsichtige Platte zu sehen ist.
| Foto (Detail): © Jana Kománková
Radio 1 wurde das erste Privatradio in Böhmen, und weitere sollten folgen. Auch wenn die Tschechische Republik und der Anzeigenmarkt dort klein sind, arbeitet der Sender heute gewinnbringend. Das Besondere an Radio 1 ist beispielsweise, dass es keine Morning Show im herkömmlichen Sinn gibt. Stattdessen gestalten derzeit mehr als 100 DJs das Programm mit – mit Inhalten und Engagement, wie es man bei anderen Sendern nur von den Abendspecials kennt. Die DJs bestreiten ihre Sendung oft gänzlich aus ihrer eigenen Musiksammlung und bringen ihre wertvollen Platten mit, um sie mit den Hörer*innen zu teilen. Diese Leidenschaft ist hörbar und das Publikum weiß sie zu schätzen – und zum Glück auch die Werbetreibenden. Und ja, es ist ein besonderes Gefühl, um sieben Uhr morgens ein zehnminütiges Stück von den Einstürzenden Neubauten aufzulegen.
In Österreich lehnten sich Ende der 1980er-Jahre einige Piratensender gegen die Monopolisierung der Rundfunklandschaft durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunksender ORF auf. Heute gibt es Radio Orange 94.0 in Wien sowie 13 weitere Freie Radios in ganz Österreich. Freie Radios sind das seltenste Rundfunkformat: In der Regel sind diese Sender gemeinnützig, gemeinschaftsorientiert, politisch unabhängig und wollen Themen und Musikrichtungen präsentieren, die nicht massenmedientauglich sind. Der Wert dieser Sender, auch wenn sie sehr selten sind, ist immens. Die Hörer*innen haben nicht nur das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, auch die Inhalte sind für ihr Alltagsleben relevanter als alles, was die großen kommerziellen Sender zu bieten haben. Interessanterweise war der Kampf gegen das Rundfunkmonopol in Österreich härter als in anderen Ländern, und dem Verband Freier Rundfunk Österreich zufolge wurde sogar „Klage gegen das Rundfunkmonopol […] beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingebracht […] Im November 1993 [stellte] der Gerichtshof klar, dass das Rundfunkmonopol einen Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Verbreitung von Informationen und Ideen darstellte.“
Internet oder nicht?
Werbung für Radio 1.
| Foto (Detail): © Jana Kománková
Einen UKW-Radiosender zu betreiben, ist ziemlich teuer, und vor einiger Zeit schien das Internetradio das Maß aller Dinge zu werden: Wer digital senden will, dem steht eine Riesenauswahl an Software zur Verfügung, sodass der Einstieg recht einfach erscheint. Für den eigentlichen Sendebetrieb zu bezahlen, erschien vielen überholt. Doch Lizenzgebühren sind nicht alles: Auch im Internet ist es eine kostspielige Angelegenheit, alle erforderlichen Gebühren an die Urheberrechtsorganisationen zu entrichten. Das macht das ganze Unterfangen deutlich schwieriger: Man zahlt Tausende allein dafür, dass man zehn Leuten online Songs vorspielt. Zudem kann man auch im Internet eigentlich nicht mehr wirklich schwarzsenden: Dank der neuesten Software ist es kinderleicht, diejenigen ausfindig zu machen, die illegal senden. Außerdem muss man entweder so betucht sein, dass man alles aus eigener Tasche finanzieren kann (und seine Playlists selbst an die Urheberrechtsorganisationen schicken, was eine Menge Arbeit ist), oder man muss einen beträchtlichen Teil der Sendezeit für Werbung freihalten. Doch wer würde für Werbung in einem Medium zahlen, das niemand hört?
Das bringt uns zurück zum UKW-Format und den regulären Radiosendern, die eine gewisse Reichweite haben und Einnahmen kreieren. Aber hören die Leute heutzutage überhaupt noch Radio? Ja, tun sie, und erstaunlich viele. Einer aktuellen Umfrage zufolge hören beispielsweise 92 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung jede Woche Radio – das sind mehr Menschen, als diejenigen, die den Fernseher einschalten (87 Prozent schauen jede Woche fern). Einer anderen Umfrage zufolge behielten die Leute während der Covid-19-Pandemie diese Gewohnheit bei und blieben ihrem angestammten Sender treu: 87 Prozent hörten terrestrisches, nur sechs Prozent digitales Radio. Und obwohl einige Medien den Eindruck erwecken, dass die ganze Welt nur noch Podcasts verfolgt, trifft das nur auf einen ziemlich kleinen Prozentsatz zu. Zugegebenermaßen steigt die Beliebtheit von Podcasts aber, ebenso wie der Musikkonsum auf digitalen Plattformen.
Unabhängig von der Plattform ist das Audioformat nach wie vor gefragt – zum einen, weil man es hören kann, während man zur Arbeit pendelt, zum anderen aber auch aufgrund der wahrgenommenen „Lücke“. Da die Sendungen kein Bildelement haben, sondern nur über das Gehör aufgenommen werden, arbeitet unser Gehirn beim Zuhören vermutlich ähnlich wie beim Lesen eines Buches – zumindest, wenn man dem Radioblog Shoutcheap Glauben schenken darf. Unsere Vorstellungskraft wird angeregt und wir entwickeln eine Affinität zu dem Medium, das diese Vorstellung ermöglicht. Aus irgendeinem Grund ist der Einfluss des traditionellen Radios, und insbesondere die Anziehungskraft kleiner, gemeinschaftsorientierter Radiosender, die den Leuten ein Gefühl der Zugehörigkeit verleihen, noch immer stark. Mögen sie lange bestehen bleiben.