Alles gut geregelt Bürokratie
Wie handhabt eine Familie die Medienzeiten der Kinder am sinnvollsten? Anhand von – zunächst einfachen – Regeln. Betrachtungen zur Bürokratie von Maximilian Buddenbohm.
Ich erinnere mich an die Zeit vor etwa zehn Jahren, als die Kinder kleiner waren und wir Eltern dachten, wir müssten vieles für sie regeln. Etwa die Medienzeiten, wieviel Zeit sie pro Tag an Bildschirmen verbringen durften. Ich erinnere mich ungern, denn das war das Streitthema schlechthin, nicht nur in unserer Familie. Und ich kann mit einigen Jahren Abstand sagen: Wenig Themen im Leben hingen mir jemals so zum Hals heraus, wie diese nie endenden Diskussionen über Medienzeiten damals. Wenig Wörter sind mir dermaßen unsympathisch, Medienzeit, mir wird heute noch anders bei der Erwähnung. Es war ein Thema, das man nicht ignorieren konnte, denn die Kinder wollten 24 Stunden an ihren Geräten hängen, wir Eltern wollten etwas anderes: deutlich weniger. Und wir Eltern hatten auf der Seite der Vernunft zu stehen, dort gehört man als Erwachsener hin.Wir haben also damals Regeln beschlossen, was hätten wir sonst tun sollen?
Manchmal taten wir das quasidemokratisch im Familienrat, denn man ist pädagogisch ambitioniert und möchte vieles richtig machen, also etwa die Kinder einbeziehen und ihnen wie nebenbei Abstimmungen und Kompromisse beibringen, Regelwerke und Kooperation. So stellt man sich das vor.
Es fing mit einer einfachen, einleuchtenden Regel an
Es fing im Familienrat stets mit einer einfachen, einleuchtenden Regel an, mit einem simplen Gebot wie etwa: „Ihr dürft anderthalb Stunden pro Tag.“ Das konnten sich alle merken, das war anwendbar und schnell entschieden. Ein kurzer Moment der Klarheit. Diese Regel musste aber aus guten Gründen weiter ausdifferenziert werden. Etwa zwischen den beiden Söhnen, immerhin ist einer zwei Jahre älter als der andere, das machte etwas aus, das konnte nicht ohne Folgen für das Regelwerk bleiben. Es musste auch Unterschiede geben zwischen den Schultagen einerseits, den Wochenenden und Feiertagen mit viel mehr Freizeit andererseits. Unter besonderer Berücksichtigung auch der verschiedenen Ferienzeiten, die anders zu betrachten waren, darauf kamen wir dann ebenfalls. Wie wir zu viert überhaupt auf viel kamen. Es gab auch verhaltensorientierte Sonderregeln, denn wer erzieht, neigt zu mehr oder weniger schmutzigen Deals. Wenn du dieses oder jenes machst oder nicht machst, darfst du etwas länger oder kürzer am Handy spielen, und dergleichen für einen Moment sinnvoll wirkende Vereinbarungen mehr. Es war im Grunde von Anfang an undenkbar, dass es jemals bei einer einfachen Regel bleiben konnte.Ich habe die meisten der grauenvollen Diskussionen aus dieser Zeit verdrängt, aber ich erinnere mich noch gut an einen besonders gelungenen Familienrat. Vielleicht war es der letzte dieser Art, bevor die Söhne schließlich Teenager wurden und wir die Hoffnung auf gelingende Erziehung sowieso aufgaben. Es war ein Familienrat, in dem wir alles noch einmal gründlich besprochen und durchdefiniert haben. Es war ein guter Tag, wir waren strukturierter als sonst, friedlicher auch, wir führten ein konstruktives Gespräch.
Immer weitere sinnvolle Definitionen, Varianten und Besonderheiten
Wieder gingen wir von einer schlichten Grundregel aus, längst war sie mit den Jahren immer großzügiger geworden. Zu dieser Regel fielen allen Familienmitgliedern wie immer weitere Definitionen, Varianten und Besonderheiten ein, die alle gut und sinnvoll klangen. Bis wir schließlich bei einer zweistelligen Zahl von Regeln waren und meine Frau sagte: „Das müssen wir jetzt aber mal aufschreiben.“ Und sie stand auf und holte einen Zettel und einen Stift.Ich erinnere mich an diesen Zettel. Ich sehe ihn noch vor mir, es war ein ausgerissenes Din-A5-Blatt, kariert. Mit aufgemalten Sternchen vor jedem Punkt. Ich erinnere mich, dass wir diese Regeln, es waren zum Schluss 18 Paragrafen, teils mit mehreren Unterabschnitten, nie mit Leben gefüllt haben. Nicht einen einzigen Tag lang. Wir hatten die Grundregel bis zur völligen Unanwendbarkeit durchbürokratisiert. Sie kennen das von anderen Themen, nehme ich an.
Es war zu kompliziert. Obwohl wir alle Bestimmungen, Ausnahmen und Sonderfälle im Gespräch logisch und einvernehmlich von der Grundregel abgeleitet hatten. Es war wohl, was das Gespräch betrifft, unser vernünftigster Familienrat jemals. Es war aber auch im Ergebnis der sinnloseste. Was vielleicht, fällt mir gerade auf, übertragen heißt, dass auch die beste Regierung … aber nein, das führt hier zu weit.
Bis zur völligen Unanwendbarkeit durchbürokratisiert
Niemand hat sich jedenfalls in der Folgezeit auch nur annähernd merken können, was wann richtig und wie anwendbar war. Wir haben an diesem Tag nicht das einzig richtige, funktionierende und rational untermauerte Modell gefunden, das unser Zusammenleben und die Medienzeiten verbindlich geregelt hätte, nein. Wir haben uns vielmehr im weiteren Verlauf der Medienerziehung jeden Tag erneut und normal herumgestritten, wie alle anderen Familien auch.Wir können aus dieser Szene etwas für die Gesellschaft ableiten: Auf jeder Stufe der Bürokratisierung, bei jedem Regelschritt, der in einen Prozess eingebaut wird, bei jedem Unterparagrafen, den jemand meint, ergänzen zu müssen, bei jeder zwölften Sonderregel, die jemand unter eine Grundregel schreibt, gibt es immer jemanden, der es zumindest einen Moment lang ernsthaft sinnvoll findet, was er da macht.
Manchmal lese ich einen Brief, etwa vom Finanzamt, der mich auf eine Sonderregel zu einer Ausnahme bei der Anwendung des Unterparagrafen eines Gesetzes hinweist, und dann denke ich kurz, wenn ich den spontanen Ärger über die Auswüchse des überbordenden Regelwahnsinns dieses Staates erfolgreich einen Moment niedergekämpft habe, in einem Anfall von jäher Klarsicht, dass ich doch längst verstanden habe, wie es zu dieser Wucherung kommen konnte.
Wir sind es, die die Bürokratie jederzeit neu einführen würden
Ich habe doch verstanden, dass nicht ein System schuldig ist, sondern dass wir es sind, dass also auch ich, dass sogar meine Familie die Bürokratie jederzeit neu einführen würde, wenn es sie auf einmal nicht mehr gäbe. Ich habe doch schon vor Jahren verstanden, dass ich den Menschen, der diesen Brief an mich schrieb, nicht als Täterin oder Täter eines ominösen Systems sehen müsste, sondern als Bruder, als Schwester im Geiste, als einen von meiner Art. Wirklich, ich weiß das gut. Aber noch nie, das gebe ich zu, ist es mir gelungen, das im Ernst so zu sehen. Und ich werde es auch, nachdem ich gleich die letzte Zeile getippt haben werde, auch sofort wieder vergessen, so viel steht fest.Das ist eine einfache, einleuchtende Regel.