Einzelne Autor*innen können einen Stilbegriff prägen. Doch was genau bedeutet es, einen Stil zu haben und warum hat der Name Kafka Einzug in die Umgangssprache gefunden wie sonst niemand? Ein Blick in Richtung Kunst und Philosophie macht den Begriff des Stils transparent.
Es gibt nicht viele Literaten aus vergangenen Jahrhunderten, die uns regelmäßig im Alltag begegnen. Literaturwissenschaftler*innen wissen, was sie meinen, wenn sie von Döblins inneren Monologen, von dichter Kleist’scher Prosa oder einer unheimlichen Hofmann’schen Figur sprechen. Doch fernab von Literaturseminar und Universität (und manchmal auch dort) werden wir ganz unverhofft an einen Autor des frühen 20. Jahrhunderts erinnert, der uns genau gesehen und akribisch über uns geschrieben zu haben scheint: Franz Kafka. Der Wiedererkennungswert seiner Texte liegt zweifelsohne in seiner Darstellung der absurden Ausweglosigkeit unserer modernen Welt begründet, in die er seine Protagonisten stürzt und in der sie normalerweise untergehen. Wir kennen diese Welt nur allzu gut und wenden diese ‚kafkaeske‘ Lesart auf unsere eigene Lebensrealität an, sicherlich in der Hoffnung, dem Untergang dadurch doch noch irgendwie zu entgehen. Doch was macht Kafkas Perspektive aus, die aus seinen Allegorien heraus schnurgerade auf unser Leben blickt?
Der Blick aus der Ferne
Es ist leichter, einen Stil bei anderen Menschen wahrzunehmen als bei sich selbst. Wenn man wissen möchte, wie man aussieht, braucht man einen Spiegel oder eine Kamera; ohne diese Hilfsmittel besteht keine Möglichkeit, sich so zu sehen, wie andere einen ganz selbstverständlich sehen können. Literatur kann solch ein Spiegel sein, den man benutzt, um sich selbst zu erkennen – „ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“, wie Kafka glaubte. Unser Selbst entsteht erst durch genaue äußere Anschauung, wobei zu große Nähe hinderlich ist. In der geschichtlichen Rückschau der deutschsprachigen Literatur haben wir gleichermaßen keine Probleme, eine Epoche als Ausdruck bestimmter wiedererkennbarer Merkmale zu sehen. Ob Barock, Sturm und Drang, Biedermeier oder Neue Sachlichkeit: Aus der geschichtlichen Distanz sehen wir in den so umrissenen Zeiträumen mehr Verbindendes als Trennendes, und die allermeisten Epochen wurden und werden folgerichtig erst nach ihrem Ende als Einschnitte in die Zeit erkannt.
Musik, Malerei, Kino — ein Begriffsrepertoire
Was genau ist ein literarischer „Stil“, den wir intuitiv beim Lesen (er)finden und den Autor*innen zuschreiben? Einerseits verwendet insbesondere die Literaturkritik gerne Metaphern aus der Musik: Ein Buch hat einen gewissen „Rhythmus“ und ein Erzähl-„Tempo“, ein Satz eine „Melodie“, Sprache einen „Klang“, der Schriftsteller*innen wiedererkennbar werden lässt, obwohl sie mit derselben Sprache als Grundlage arbeiten. Andererseits macht die wiederholte Zuwendung zu einem kleinen Kreis von Sujets zum Beispiel visuelle Künstler*innen unverwechselbar, wenn sich gleichzeitig eine eigene Art und Weise des Sehens und Malens bei ihnen ausbildet: van Goghs Landschaften, Degas‘ Tänzerinnen und Gauguins Südseeszenen sind sofort als Werke ihrer Schöpfer erkennbar. Bei manchen Filmschaffenden haben wir genau diese Verbindung einer bestimmten Perspektive auf die Welt und ihrer künstlerisch stilsicheren Umsetzung auf der Kinoleinwand: Werner Herzogs außergewöhnliche aber bedeutungsleere Natur, besonders sein metaphysisch aufgeladener Dschungel; Sally Potters Stilwillen, gekoppelt an ihren ironischen Blick auf die Gesellschaft; Quentin Tarantinos comic-schrille Gewalt, die auf eine ausufernde Katharsis abzielt – nicht umsonst werden in französischen Filmtheorien solche Regisseur*innen als
auteurs bezeichnet. Diese Beispiele unterscheiden sich stilistisch teils stark und doch besteht eine Verbindung zwischen ihnen: Sie alle zielen auf die Suche nach Sinn im Angesicht der technischen Moderne, der industriell produzierten Gewalt, der Vereinzelung, der Konfrontation mit dem Neuen bei ständiger Überprüfung tradierter Lebensentwürfe – nichts anderes verfolgte Kafka, wenngleich oft um einiges schonungsloser.
Philosophie als schöne Literatur
Ein stark individualisierter, künstlerischer Stil entwickelt sich augenscheinlich nur in Verbindung mit einem eigenen Weltbild, das die Formen und Ziele von Kunst und Literatur in hohem Maße mitbestimmt. Auch in einer bestimmten traditionellen Bedeutung des Wortes Philosophie lässt sich nur durch eine konkrete sprachliche Ausdrucksform zu einem gesicherten Verständnis der Dinge und der Welt finden. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ – auch wenn erst Wittgenstein konsequent die logisch-philosophischen Schlussfolgerungen aus dieser Einsicht zieht, so haben trotzdem schon von Sokrates und Plato über Kant und Hegel bis zu Nietzsche und Heidegger viele erkannt, dass Sprache die Grundlage der Erkenntnis und ihre Form entscheidend ist. Daher sind Philosoph*innen mehr als andere dazu gezwungen, ihr eigenes Stilbewusstsein auszuprägen und zu trainieren, um überhaupt etwas zu ihrer Disziplin beitragen zu können. Das gilt ebenso für die politische Philosophie Hannah Arendts im 20. Jahrhundert wie für Peter Sloterdijks aktuelle Diagnosen der Brüche der Moderne – und gerade mit Sloterdijk kommen wir nahezu selbstverständlich zurück zu Kafka.
Was ist „kafkaesk“?
Wie kein zweiter verstand sich Kafka darauf, die Absurdität moderner Lebenssituationen und ihrer Auswirkungen auf die Psyche in Sprache zu formen und die Paradoxien unserer modernen Welt in seinen Erzählungen messerscharf zu umreißen. Dies gelang ihm, weil er durch seine Anstellung in der Arbeiter-Unfall-Versicherung eine außergewöhnliche und umfassende Orientierung über die zeitgenössische Bürokratie und menschlichen Schicksale hatte. Seine Figuren überraschen damit, dass sie erst einmal versuchen, die grotesken Umstände zu verstehen, in die sie ohne eigenes Verschulden hineingeraten sind. Zudem wissen sie sich angesichts der Hoffnungslosigkeit zumindest vorläufig mit der Situation zu arrangieren, ob als unbeachteter Hungerkünstler auf einem Jahrmarkt, als unwissender Angeklagter bei Gericht oder als überflüssiger Landvermesser. Einen offensichtlichen Ausweg bietet Kafka weder seinen Protagonisten noch seinen Leser*innen an, es geht ihm nicht darum, das Gute und Schöne zu zeigen oder gar entspannende Unterhaltung zur Beruhigung anzubieten. Seine Texte wollen das gefrorene Meer in uns wie eine Axt bearbeiten, um uns empfänglicher für eine Welt zu machen, gegen die wir uns aus Selbstschutz immer mehr abschließen. Dass Kafka mit „kafkaesk“ ein eigenes Wort verdient hat, liegt daran, dass er uns nicht in Ruhe wegdämmern lässt, sondern uns wie ein Defibrillator ins Leben zurückschockt.