Ungleichheit Frauen an die Bassgitarre!
MeToo und mangelnde Gleichberechtigung in Bezahlung und Stellenbesetzung sind auch in der Jazzbranche ein großes Thema. Leider werden diese Missstände bisher nicht ausreichend angegangen, meint unsere Autorin Sophie Emilie Beha.
Eigentlich müsste dieser Text überflüssig sein, steht doch der Jazz wie kaum eine andere Kunstform für Offenheit, Toleranz und Integration. Eigentlich müssten diese Merkmale den idealen Nährboden bilden für einen diversen und gleichberechtigten Jazz, dessen Wurzeln in einer künstlerisch-politischen Auflehnung gegenüber struktureller Unterdrückung und Diskriminierung liegen. Eigentlich.
Nach wie vor nicht ausgeglichen: Genderverhältnisse
Wirft man allerdings einen Blick auf die Jazzlandschaft, fällt schnell auf, dass die Genderverhältnisse alles andere als ausgeglichen sind: In ganz Deutschland gibt es nur drei Frauen, die eine Instrumentalprofessur an einer Hochschule innehaben. In den vier Big Bands des öffentlich-rechtlichen Rundfunks spielen nach wie vor nur zwei Musikerinnen – neben 64 Männern. Und vor kurzem kommentierte die Sängerin Donya Solaimani das Herbstprogramm der Jazzförderung Rhein-Ruhr auf Social Media: „Auf diesem Konzertflyer sind mehr Martins (3!) als Frauen“.
Diese Diskrepanz lässt sich auch mit weiteren Zahlen untermauern: Die Studie Frauen in Kultur und Medien des Deutschen Kulturrats wertete 2016 Daten der Künstlersozialkasse (KSK) aus und kam dabei für die Gruppe „Jazz- und Rockmusiker*innen“ auf einen Frauenanteil von zehn Prozent. 2016 nahmen rund 2.000 Jazzmusiker*innen an einer Onlinebefragung teil, die die sozioökonomischen und berufspraktischen Rahmenbedingungen für Jazz als Berufsfeld untersucht hat. Die Ergebnisse wurden in einer ersten Studie der Deutschen Jazzunion 2016 präsentiert, die 2022 eine Neuauflage mit Fokus auf geschlechtsspezifische Unterschiede erhielt. Beide Studien belegen ein gravierendes Ungleichgewicht: 20 Prozent der Jazzmusiker*innen sind Frauen (andere Gender als die des binären Systems wurden in der Studie nicht erfragt). Frauen machen also nur ein Fünftel der Jazzmusiker*innen in Deutschland aus. Außerdem fiel auf, dass nur zwölf Prozent der Instrumentalist*innen Frauen waren, dafür aber 86 Prozent der Sänger*innen ausmachten. Die Hälfte der Sängerinnen gab außerdem an, ein Nebeninstrument zu spielen – bei den meisten ist es Klavier.
Es ist kein Zufall, dass Frauen im Jazz noch immer sehr oft Sängerinnen oder Pianistinnen sind. Schon im Jahr 1991 hat die Musikwissenschaftlerin Freia Hoffmann die historischen Hintergründe dafür untersucht. Im 18. und 19. Jahrhundert galten nur Musikinstrumente als angemessen für Frauen, die ihren „schönen Körper“ entsprechend präsentieren konnten, expressive Körperbewegungen galten als unschicklich. Deshalb wurde es Frauen hauptsächlich erlaubt, zu singen und Klavier zu spielen. Daran hat sich offenbar nicht viel geändert: Musikinstrumente, die mit ausladenden Gesten assoziiert werden – Bassgitarre oder Schlagzeug – werden deutlich seltener von Frauen gespielt. Die ungleiche Verteilung zeigt, dass noch immer Instrumente mit bestimmten Stereotypen besetzt sind. Da Stereotype Normen stabilisieren und aufrechterhalten, werden dadurch bestehende Machtverhältnisse zementiert.
„Früh übt sich, wer ein Meister werden will“: Ausbildung und Bezahlung
Es mag zunächst Hoffnung wecken, dass an Musikschulen mehr Mädchen als Jungen Unterricht nehmen. Sobald es aber um Teilhabe, Etablieren und letztlich Karriere geht, dreht sich der Spieß um: In Ensembles – egal ob Schulband oder Profi-Trio – spielen weniger Mädchen und Frauen. „Mit dem steigenden Grad der weiteren Professionalisierung sinkt der Anteil der Frauen unter den Musikstudent*innen, Band-Leader*innen, Dozent*innen oder Professor*innen im Jazzbereich immer weiter“, schreibt Urs Johnen in Gender.Macht.Musik. Geschlechtergerechtigkeit im Jazz. Das ist kein individuelles Jazz-Phänomen, sondern ein Spiegelbild der Gesellschaft.
Diese Schere der Ungerechtigkeit öffnet sich noch weiter, wenn man die ungleiche Bezahlung von Jazzmusiker*innen mitdenkt. Laut besagter Jazzstudie von 2016 verdienen hauptberufliche Jazzmusikerinnen etwa 25 Prozent weniger als ihre Kollegen – diese Kluft klafft weiter als der durchschnittliche Gender-Pay-Gap in Deutschland von 18 Prozent. Die ungebrochene strukturelle Unterdrückung von Frauen ist zweifellos zutiefst in den patriarchalen, hegemonialen Strukturen unserer Gesellschaft verankert.
MeToo und Machtmissbrauch
Selbstverständlich existieren Machtverhältnisse im Jazz genauso wie andernorts in der Gesellschaft. Im Juli 2023 hat ein Statement der Musikerin, Songwriterin und Aktivistin Friede Merz die Jazzszene in Deutschland kräftig wachgerüttelt: Merz veröffentlichte ein Statement in ihrem Blog, in dem sie auf strukturellen Machtmissbrauch in der Musikbranche hinweist. Sie thematisiert sowohl die problematischen Strukturen an Musikhochschulen als auch in der freien Szene und beschreibt, wie Gewalt, Übergriffe und Grenzverletzungen Diskriminierungen begünstigen und schützen. Als Teil des Statements veröffentlichte Merz auch einen MeToo-Fall, den die Komponistin und Pianistin Julia Kadel auf einem Panel beim Darmstädter Jazzforum als „sehr großen und wertvollen Moment, den wir seit langem brauchen“ beschrieb. „Vorfälle solcher Art stellen für uns alle keine Überraschung dar“, sagte die Hochschulprofessorin und Schlagzeugerin Eva Klesse dazu in einem Interview. „Es ist total wichtig, Diskussionen dazu anzustoßen.“ Trotzdem blieb das Statement bislang ohne weitreichende Folgen. Es solidarisierten sich zwar zahlreiche Musiker*innen der freien Szene mit Friede Merz und den von ihr gestellten Forderungen, allerdings blieben Reaktionen und Rückhalt von Institutionen, Jazz-Verbänden und Einrichtungen der Szene weitgehend aus.
Das alles zeigt, welch weiter Weg noch vor Veranstalter*innen, Musiker*innen, Hochschulen, Verbänden, Labelbetreiber*innen und Musikjournalist*innen liegt. Jazz in Deutschland ist noch immer eine in erster Linie weiße, cis-männliche, patriarchale, klassistische Musikszene. Die Missstände sind bekannt, aber auch zahlreiche Lösungsansätze. Damit sich bestehende Verhältnisse ändern, reicht der – an vielen Orten vorhandene – gute Wille nicht aus. Wenn Jazz nicht aus der Zeit fallen möchte, muss die Szene über Symbolpolitiken und Alibiversuche hinaus ihr eigenes System in Angriff nehmen. Sie kann strukturelle Themen wie Machtmissbrauch und Gendergerechtigkeit nicht länger ignorieren.