Şeyda Kurt Mit dem Auto in die Ferien
Als Kind fuhr Şeyda Kurt mit ihren Eltern in den Ferien oft mit dem Auto quer durch Europa. In ihrem Essay beschreibt sie eine Erinnerung an eine Autobahnfahrt, die sie bis heute beschäftigt.
Auf der Autobahn begann ich, an Wunder zu glauben, zwischen tonnenschweren Blechmonstern, die sich in Höchstgeschwindigkeit jagen. Jede Unaufmerksamkeit, jeder marginale Fehler könnte zu einer Katastrophe führen. Wie soll man das überleben? Es bleibt mir unbegreiflich, welchen irren Gesetzmäßigkeiten dieses System folgt. Nun fahre ich aber einen Smart, den Wagen meiner Mutter. Automatik. Mehr Go-Kart als Auto. Höchsttempo 130 Stundenkilometer. Es gibt wohl kaum einen anderen Wagen, der ungeeigneter für Autobahnfahrten ist. Würde es sich um die Kaufentscheidung meiner Mutter handeln, würde ich darin bereits eine Verweigerung lesen, doch es war ein Geschenk ihres Bruders. Meine Mutter fährt nie auf Autobahnen. Niemals. Sie bevorzugt jede noch so umständliche Fahrt durch die Innenstadt. Und jedes Mal, wenn ich unter Höchstanspannung die Autobahneinfahrt hinaufeile, zieht diese Geschichte an meinen Augen vorbei, die sie nicht müde wird zu erzählen:Einmal, auf dem Rückweg von den Sommerferien in der Türkei, ich war noch ein Kleinkind, und es passierte wohl bei Bulgarien, krachten wir mit einem LKW zusammen. Unser Auto wurde zu einem Papierknäuel. Es ist ihre Erinnerung, nicht meine, und doch verschieben sich bei jedem vorbeifahrenden LKW auf der Autobahn meine Knochen. Meine Mutter sagt: „Du warst damals vier oder fünf Jahre alt.“ Ich frage: „Warum erinnere ich mich nicht dran?“ Meine Mutter sagt: „Du warst vielleicht noch gar nicht geboren, deine Schwester war vier Jahre alt.“ Sie sagt auch: „Es schneite und unser Auto kam auf Glatteis ins Rutschen.“ Ich frage: „Aber war das nicht in den Sommerferien?“ Meine Mutter sagt: „Nein, es war der 30. September, dieses Datum vergesse ich nie, meine Zähne klapperten vor Angst und Kälte.“
In meiner Erinnerung hingegen gibt es keine Kälte, sondern nur erhitzten Asphalt. Die Fahrten durch Europa, an die ich mich erinnere, changierten zwischen Eile und Stillstand. Es gab kein Dazwischen. Trockene Münder. Gereizte Zungen. Meine Mutter sagt: „Bis wir in der Türkei ankamen, hatte dein Vater keine Haare mehr auf dem Kopf.“ Ich riss sie ihm als Kind in der tobenden Langeweile auf dem Rücksitz vom Kopf. Heute treibt mich die Nervosität auf der Autobahn fast dazu, meine eigenen Haare zu fressen. Jeder Stau ist mir lieber als das Rasen. Stau bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, ein Papierknäuel zu werden, geringer ist. Ich habe Zeit, um den Himmel zu begutachten und an Wunder zu glauben. War es Winter? War es Sommer? Meine Mutter sagt: „Du warst da noch gar nicht geboren.“ Ich antworte: „Meine Knochen sagen etwas Anderes.“