Zahlenspiele Statistik-Poesie
Begebt euch mit Jörn Müller in einen Stau und schaut was passiert, wenn Statistiken eigensinnig werden: Äquatorumrundungen, gestapelter Stau und Tabellen-Minimalismus.
Ich stehe im Autobahnstau – Vollsperrung. Ich weiß nicht, wie lange ich hier bereits stehe. Die Jahreszeiten, Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte ziehen an mir vorbei. Autos überall – vor mir, hinter mir, rechts und links. Zeit und Raum dehnen sich, weiter und weiter. Festgeschnallt auf dem Rücksitz die Generationen. „Wie lange noch?“, fragen sie – und: „Ist es noch weit?“ Ein alter fränkischer Kaiser beugt sich durchs offene Fenster und raunt: „Zahlen bitte!“Zahlen? – Na gut: Wären alle Staus, die es laut ADAC-Staubilanz im Jahr 2023 in Deutschland gab, hintereinander gereiht, stünden vor und hinter mir Autos in einer 877.000 Kilometer langen Autoschlange. Das sind beinahe 22 Äquatorumrundungen. Oder, bei der Gesamtlänge von 13.155 Autobahnkilometern, die es 2023 in Deutschland gab: Würde man die 877.000 Staukilometer des Jahres 2023 gleichmäßig auf dem deutschen Autobahnnetz verteilen, wäre jeder einzelne Autobahnkilometer mit einem Stapel von knapp 67 Staus belegt. Unter mir, in einem Sportwagen in der 32. Ebene dieses Stapels, läuft überlaut im Autoradio Verkehrsfunk.
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Lauter Nullen
Im Jahr zuvor, 2022, hat sich das deutsche Autobahnnetz um 17 Kilometer verlängert. Darüber informieren das Bundesministerium für Digitales und Verkehr und das Fernstraßen-Bundesamt in einem Werk mit dem Titel „Längenstatistik der Straßen des überörtlichen Verkehrs“. In der Tabelle „Längenänderungen an Bundesautobahnen“: lauter Nullen. Nach Bundesländern sortiert, listet die Tabelle Zugänge durch Neubau oder Aufstufungen und Abgänge durch Abstufungen auf – sowie „sonstiges“, das sind beispielsweise Korrekturen von Messfehlern. Laut Tabelle gab es lediglich in Hessen 16 Kilometer und in Sachsen zwei Kilometer Neubau sowie in Schleswig-Holstein einen Kilometer sonstigen Zugang. In Hamburg wurden zwei Kilometer abgestuft. Davon abgesehen enthalten 78 der 85 Zellen dieser Tabelle den Wert Null. Ich sehe die Nullen vor mir, gestapelt in Zeilen und Spalten. Nichts bewegt sich – wie die Räder der Fahrzeuge im Stau. Eine Umweltaktivistin fährt auf ihrem selbstgebauten Lastenfahrrad vorbei und winkt mir freundlich zu.© Bundesministerium für Digitales und Verkehr/Fernstraßen-Bundesamt
Tausend Jahre Stau
Im Jahr 2023 betrug, ebenfalls laut ADAC, die Staudauer auf deutschen Straßen 427.000 Stunden. Nähme ich es auf mich, diese Zeit der Staudauer stellvertretend für alle 2023 im Stau stehenden Personen abzusitzen, bräuchte ich dafür beinahe 49 Jahre. Hätte sich dieser Stau 2023 aufgelöst, stünde ich dort seit dem Jahr 1974. In diesem Jahr fand in der Bundesrepublik Deutschland (es gab damals noch zwei deutsche Staaten) die Fußball-Weltmeisterschaft statt. Gerd Müller – ich bin nicht mit ihm verwandt – schoss im Endspiel.das entscheidende Tor, durch das die bundesdeutsche Mannschaft Fußball-Weltmeister wurde.Während ich warte, werde ich Dichter – Readymade-Lyrik aus dem Autobahn- und Straßenjargon von ADAC, Bundesverkehrsministerium und der Bundesanstalt für Straßenwesen:
Längenänderungen:
Aufstufung, Abstufung, Messfehler
Verkehrsflächen, Asphaltdeckschicht
überörtlicher Verkehr
Kaltrecycling, Schaumbitumen
RoDeO Beton
temperierte Straße
Staudauer
Hinter mir hupt es. Der Stau ist beendet, es geht weiter. Gerd Müller überreicht mir einen Strauß blaulilafarbener Kornblumen als Dank fürs Ausharren. Da vorne kommt schon die Ausfahrt. Die Ausfahrt kommt. Es regnet Beton und Asphalt.