Zahlenspiele Statistik-Poesie

Statistik-Poesie
Statistik-Poesie | © Unsplash / Girl with red hat

Begebt euch mit Jörn Müller in einen Stau und schaut was passiert, wenn Statistiken eigensinnig werden: Äquatorumrundungen, gestapelter Stau und Tabellen-Minimalismus.

Ich stehe im Autobahnstau – Vollsperrung. Ich weiß nicht, wie lange ich hier bereits stehe. Die Jahreszeiten, Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte ziehen an mir vorbei. Autos überall – vor mir, hinter mir, rechts und links. Zeit und Raum dehnen sich, weiter und weiter. Festgeschnallt auf dem Rücksitz die Generationen. „Wie lange noch?“, fragen sie – und: „Ist es noch weit?“ Ein alter fränkischer Kaiser beugt sich durchs offene Fenster und raunt: „Zahlen bitte!“

Zahlen? – Na gut: Wären alle Staus, die es laut ADAC-Staubilanz im Jahr 2023 in Deutschland gab, hintereinander gereiht, stünden vor und hinter mir Autos in einer 877.000 Kilometer langen Autoschlange. Das sind beinahe 22 Äquatorumrundungen. Oder, bei der Gesamtlänge von 13.155 Autobahnkilometern, die es 2023 in Deutschland gab: Würde man die 877.000 Staukilometer des Jahres 2023 gleichmäßig auf dem deutschen Autobahnnetz verteilen, wäre jeder einzelne Autobahnkilometer mit einem Stapel von knapp 67 Staus belegt. Unter mir, in einem Sportwagen in der 32. Ebene dieses Stapels, läuft überlaut im Autoradio Verkehrsfunk.

Paris, Frankreich – Skulptur „Long Term Parking“ (Artist Credit: Arman,1982, & Domaine du Montcel), in den westlichen Vororten, Stahlbetonstruktur Foto: mauritius images / Directphoto Collection / Alamy

Lauter Nullen

Im Jahr zuvor, 2022, hat sich das deutsche Autobahnnetz um 17 Kilometer verlängert. Darüber informieren das Bundesministerium für Digitales und Verkehr und das Fernstraßen-Bundesamt in einem Werk mit dem Titel „Längenstatistik der Straßen des überörtlichen Verkehrs“. In der Tabelle „Längenänderungen an Bundesautobahnen“: lauter Nullen. Nach Bundesländern sortiert, listet die Tabelle Zugänge durch Neubau oder Aufstufungen und Abgänge durch Abstufungen auf – sowie „sonstiges“, das sind beispielsweise Korrekturen von Messfehlern. Laut Tabelle gab es lediglich in Hessen 16 Kilometer und in Sachsen zwei Kilometer Neubau sowie in Schleswig-Holstein einen Kilometer sonstigen Zugang. In Hamburg wurden zwei Kilometer abgestuft. Davon abgesehen enthalten 78 der 85 Zellen dieser Tabelle den Wert Null. Ich sehe die Nullen vor mir, gestapelt in Zeilen und Spalten. Nichts bewegt sich – wie die Räder der Fahrzeuge im Stau. Eine Umweltaktivistin fährt auf ihrem selbstgebauten Lastenfahrrad vorbei und winkt mir freundlich zu.

Eine Tabelle, die zum größten Teil Nullen enthält © Bundesministerium für Digitales und Verkehr/Fernstraßen-Bundesamt

Tausend Jahre Stau

Im Jahr 2023 betrug, ebenfalls laut ADAC, die Staudauer auf deutschen Straßen 427.000 Stunden. Nähme ich es auf mich, diese Zeit der Staudauer stellvertretend für alle 2023 im Stau stehenden Personen abzusitzen, bräuchte ich dafür beinahe 1.170 Jahre. Würde sich dieser Stau jetzt, in diesem Moment auflösen, stünde ich hier seit dem Jahr 854. Elf Jahre zuvor, 843, wurde der Vertrag von Verdun geschlossen, in dem Lothar, Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche – allesamt Enkel Karls des Großen – das Fränkische Reich untereinander aufteilten.

Während ich warte, werde ich Dichter – Readymade-Lyrik aus dem Autobahn- und Straßenjargon von ADAC, Bundesverkehrsministerium und der Bundesanstalt für Straßenwesen:
 
Autobahnausbau

Längenänderungen:
Aufstufung, Abstufung, Messfehler

Verkehrsflächen, Asphaltdeckschicht

überörtlicher Verkehr

Kaltrecycling, Schaumbitumen

RoDeO Beton
temperierte Straße

Staudauer

Hinter mir hupt es. Der Stau ist beendet, es geht weiter. Karl der Kahle überreicht mir einen Strauß blaulilafarbener Kornblumen als Dank fürs Ausharren. Da vorne kommt schon die Ausfahrt. Die Ausfahrt kommt. Es regnet Beton und Asphalt.