Für Einsteiger*innen Lesetipps für den „Zauberberg“

Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ hat den Ruf, ein Buch für „wahre Intellektuelle“ zu sein. Ganz so kompliziert muss es aber nicht sein: Tipps für Nicht-Gelehrte und Thomas-Mann-Anfänger*innen, die dem Literaturklassiker eine Chance geben möchten.

Thomas Manns Der Zauberberg, erschienen im Jahr 1924, gilt als einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts. Und für viele – vor allem diejenigen, die das Buch noch nicht gelesen haben – auch als einer der schwierigsten.

Die Handlung des Romans lässt sich relativ leicht zusammenfassen: Der junge, angehende Ingenieur Hans Castorp besucht seinen Cousin in einem Tuberkulose-Sanatorium auf einem Berg in den Schweizer Alpen. Er plant nur wenige Woche dort zu sein, bleibt aber schließlich sieben Jahre – unter anderem, weil er sich in eine der Patientinnen verliebt. Den Berg verlässt er erst, als er in den Ersten Weltkrieg zieht. Dazwischen führt Hans mit verschiedenen Leuten lange und komplizierte Gespräche über Philosophie, Theologie, Politik, Geschichte und vertieft sich in die Geheimnisse der Botanik, der Astronomie oder der Evolutionstheorie.

Der Roman bekam schon früh den Ruf, ein Buch für „wahre Intellektuelle“ und die „Summe der europäischen Kultur“ zu sein. Infolgedessen empfinden viele, die mit der Idee spielen, den Roman zu lesen, ihm gegenüber hauptsächlich: Angst.

Aber ist diese Angst wirklich angebracht? Nicht unbedingt. Eine erfreuliche Lektüre vom Zauberberg ist auch für nicht-Gelehrte, nicht-Expert*innen oder nicht-Verrückte möglich. Es folgen Tipps für eine gelungene – und ja: auch unterhaltsame – Annäherung an den Zauberberg.

1. Lassen Sie sich verzaubern

Im „Vorsatz“ zum Zauberberg erklärt Thomas Mann – oder jedenfalls der Erzähler des Buches –, Hans Castorps Geschichte habe „mit dem Märchen […] das eine und andre zu schaffen“. Dieser märchenhafte (und auch mythologische) Charakter äußert sich in verschiedenen Aspekten des Romans: im wiederkehrenden Auftauchen der Zahl 7, in der sonderbaren Natur am Schauplatz der Erzählung – dem Sanatorium „Berghof“, einem Ort, an dem ungewöhnliche zeitliche und klimatische Verhältnisse herrschen und den nur wenige Leute lebend verlassen – oder im Einsatz archetypischer Figuren. Da ist der unerfahrene Held, Hans, der sich auf eine ungewisse Reise aufmacht. Aber auch der so schleierhafte wie komische „Hausherr“ des Sanatoriums, Dr. Behrens, der italienische „Humanist“ und spirituelle Führer des Helden, Lodovico Settembrini, die gefährliche Verführerin Clawdia Chauchat oder eine Kellnerin, die im Buch irritierenderweise als „Zwergin“ beschrieben wird.

Nehmen Sie also Thomas Mann – oder jedenfalls den Erzähler des Buches – ernst (allerdings in Maßen, siehe dazu Lesetipp Nr. 5): Lesen Sie den Roman, wie man eben ein uraltes Märchen aufnimmt – mit Offenheit gegenüber Begebenheiten und Protagonisten, die merkwürdig oder zum Teil unbegreiflich sind.

2. Trauen Sie sich, zu überspringen

Über lange Strecken ist Der Zauberberg ein recht zugängliches Buch, das sich mit Freude lesen lässt. Und die Passagen, die schwierig sind, kann man ohne enorme Verluste überfliegen (jedenfalls beim ersten Lesen; siehe dazu Lesetipp Nr. 7). So etwa die überlangen Diskussionen zwischen dem aufgeklärten und vielleicht ein bisschen zu optimistischen Settembrini und seinem Gegenpart, dem reaktionären und dunklen Leo Naphta. Wie der englische Dramatiker W. Somerset Maugham einmal schrieb, sei überspringen vollkommen in Ordnung, denn „ein vernünftiger Mensch liest einen Roman nicht als Aufgabe, sondern zur Vergnügung“.

3. Holen Sie sich Hilfe!

Sie sind nicht allein – oder auf jeden Fall müssen Sie es nicht sein. Zwei Möglichkeiten: gründen Sie einen Zauberberg-Lese-, Diskutier- und letzten Endes Gruppentherapie-Kreis. Sie werden darüber staunen, wie viele Menschen Lust und vielleicht auch ein bisschen Angst haben, sich dem Buch anzunähern. Und Sie werden merken, inwiefern das kollektive Reden über Literatur zur Ausschüttung von Glückshormonen beiträgt.

Wenn es doch lieber bei einer Solo-Erfahrung bleiben soll: Sowohl Bibliotheken als auch das Internet bieten eine Fülle an Lesehilfen. Neben den wichtigsten Thomas-Mann-Biographien wie Hermann Kurzkes Thomas Mann: Das Leben als Kunstwerk und Dieter Borchmeyers Thomas Mann: Werk und Zeit können folgende handlichen Bücher als wunderbare „Lesebegleiter“ dienen:

  • Daniela Langer: Erläuterungen und Dokumente zu Thomas Mann Der Zauberberg
  • Thomas Sparr: Zauberberge – Ein Jahrhundertroman aus Davos
  • Volker Weidermann: Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens

Auch das auf Englisch verfasste Essay The Anxiety of Difficulty – Trying to Read Thomas Mann der polnischen Literaturwissenschaftlerin Karolina Watroba ist sehr zu empfehlen.

4. Nutzen Sie das Buch als meditatives Werkzeug

Thomas Mann Sätze sind oft recht lang und verwickelt. Schließlich bietet die deutsche Sprache Ausdrucksmöglichkeiten, die einem Schreibenden erlauben, ausführlich, umständlich, verspielt, gelegentlich irritierend, übertrieben und zugleich exakt oder kleinlich zu sein. Das nutzt Mann im Zauberberg sowie in vielen anderen seiner sowohl essayistischen als auch literarischen Büchern konsequent aus. Solche Sätze können nerven. Aber sie besitzen auch einen einzigartigen Rhythmus. Sie sind in der Lage, einen Sog zu entwickeln, der einen beim Lesen in eine Art Flow-Modus, eine kontemplative Trance bringen können, wie auch manche rituelle Litaneien und religiöse Gesänge. Verzichten Sie auf den spießigen Anspruch, jeden Satz eines Buches als ausschlaggebend für den „Plot“ zu betrachten. Verzichten Sie gar auf den Anspruch, nach einem „spannenden Plot“ zu suchen – und lassen Sie sich auf die besondere Musikalität und Kadenz von Thomas Manns Stil ein. Ihr Geist wird es Ihnen danken.

5. Nehmen Sie den Zauberberg nicht so ernst!

Der Zauberberg ist eine Geschichte von Krankheit und dekadenter Todessehnsucht. Hans fühlt sich in der Nähe von Kranken und Sterbenden, wie er sagt, „in meinem Element“. Aber Der Zauberberg ist auch stellenweise ein sehr lustiges Buch. Wenn Sie sich davon überzeugen möchten, lesen Sie zum Beispiel diese Stellen – vorausgesetzt natürlich, Sie haben einen Sinn für Humor:

  • Womöglich jede Stelle, an der Dr. Behrens redet. Seine Art zu sprechen ist so eigen – umständlich doch penibel, fies, einfallsreich, unverschämt! –, dass man immer wieder laut lachen muss.
  • Kapitel 3, Abschnitt „Neckerei. Viatikum. Unterbrochene Heiterkeit“: Hier geht es um die  Vorstellung des „Vereins halbe Lunge“, einer bizarren Gruppe von Patient*innen, zu der eine gewisse „Hermine Kleefeld“ gehört, die „mit dem Pneumothorax pfeifen kann“.
  • Kapitel 6, Abschnitt „Abgewiesener Angriff“: James Tienappel, Hans so korrekter wie einfältiger Onkel, besucht das Sanatorium mit dem Plan, seinen Neffen zurück ins „Flachland“ zu holen. Manns Schilderung von James’ Charakter und seiner Leidenschaft für Frau Redisch, eine der Patientinnen, ist sehr lustig.
  • Kapitel 7, Abschnitt „Fragwürdigstes“: Während einer Séance im Sanatorium wird ein Geist namens „Holger“ beschwört, der behauptet, als Lebender Poet gewesen zu sein – und bietet den Anwesenden eine absurde Kostprobe seiner Dichtkunst. Manns Dichterparodie ist bösartig und witzig.

6. Genießen Sie Ihren Aufenthalt im „Berghof“

Und ebenso: Ja, Manns Buch ist eine immense intellektuelle Leistung. Ja, es ist ein beeindruckendes enzyklopädisches Werk. Ja, es bietet eine geniale Analyse des seelischen Zustandes der distinguiertesten Bürger*innen Europas vor dem Ersten Weltkrieg. Doch das Buch ist auch sehr sinnlich. Skeptisch? Dann geben Sie diesen alternativen Lesarten eine Chance:

  • Der Zauberberg als zum Teil verklemmt-erotischer Liebesroman: das zeigen die etlichen Stellen, an denen Hans an „Madame Chauchat“ denkt, sie beobachtet (und von ihr beobachtet wird) oder versucht, sich ihr zu nähern. Besonders ein auf Französisch geführter hitziger Dialog zwischen den beiden (im Abschnitt „Walpurgisnacht“, 5. Kapitel) ist in der Lage, selbst die unterkühltesten Leser*innen nervös zu machen.
  • Ein Buch des Genusses: Im Zauberberg werden gesunde Menschen krank und kranke Menschen sterben. Aber – solange sie am Leben sind – führen die Patient*innen des Sanatoriums eine ziemliche genüsslich Existenz, die Mann wunderbar beschreibt. Sie reisen mit „krokodilsledernen Handtaschen“, machen Liegekuren eingewickelt in teure Kamelhaardecken, rauchen ausgezeichnete Zigarren, essen zu jeder Mahlzeit opulente Menüs und trinken herausragende Weine bis zum Rausch (etwa im Abschnitt „Vingt et un“, 7. Kapitel).
  • Der Zauberberg als Nature Writing: Mann kann die Schönheit, die Erhabenheit und die Gewalt der Natur atemberaubend schildern. Lesen Sie etwa die Beschreibungen von Pflanzen zu Beginn des Abschnittes „Noch jemand “ oder den berühmten Abschnitt „Schnee“ – einen der beliebtesten Texte der deutschen Literatur –, beide Teil des 6. Kapitels.

7. Kommen Sie bald wieder

Der letzte Tipp kommt von Thomas Mann selbst:

„Was soll ich nun über das Buch selbst sagen und darüber, wie es etwa zu lesen sei? Der Beginn ist eine sehr arrogante Forderung, nämlich die, daß man es zweimal lesen soll. Diese Forderung wird natürlich sofort zurückgezogen für den Fall, daß man sich das erste Mal dabei gelangweilt hat. Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden. Wer aber mit dem Zauberberg überhaupt einmal zu Ende gekommen ist, dem rate ich, ihn noch einmal zu lesen, denn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, daß das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird – wie man ja auch Musik schon kennen muß, um sie richtig zu genießen.“ (Thomas Mann, aus einer Rede an Student*innen der Princeton-University im Jahr 1939)

Der Autor dankt Jana Burbach und Max Wolf, die mit Ideen und Worten zu diesem Text beigetragen haben.