Julia Mann Thomas Manns brasilianische Mutter

Das Projekt eines Kulturzentrums im Geburtshaus von Julia Mann auf der früheren Fazenda Boa Vista im brasilianischen Paraty bleibt auch nach jahrelangen Verhandlungen unsicher. Experten verweisen auf die Wichtigkeit einer Institution, die sich der Familie Mann widmet, denn Julia Mann prägte das Leben von Thomas und Heinrich Mann mehr als bisher von der deutschen Literaturkritik wahrgenommen.
Wenige Tage nach Erhalt des Literaturnobelpreises gab Thomas Mann in Berlin dem brasilianischen Soziologen Sérgio Buarque de Holanda ein Interview, das im Januar 1930 in der Tageszeitung O Jornal erschien. Von dem damals noch jungen Reporter zu den brasilianischen Wurzeln seiner Familie befragt, antwortete der deutsche Schriftsteller: „Brasilien ruft in mir in der Tat einige köstliche Augenblicke meiner Kindheit und Jugend auf. Ich erinnere mich, dass meine Mutter, die Brasilianerin war und auf einer, ich weiß nicht mehr, ob Kaffee- oder Zuckerplantage zur Welt kam, mich oft mit der Schönheit der Guanabara-Bucht unterhielt“.Vermutlich bezog Thomas Mann sich damit auf die Bucht von Paraty, an der bis heute das Herrenhaus Boa Vista steht. Der im 18. Jahrhundert im Kolonialstil errichtete Bau zwischen Meer und Atlantischem Regenwald ist heute Teil des denkmalgeschützten Ensembles der Stadt Paraty. Dort verbrachte Julia Mann, 1851 geboren als Julia da Silva Bruhns, ihre ersten Lebensjahre. Nach dem Tod ihrer brasilianischen Mutter zog sie im Alter von sieben Jahren mit ihrem deutschen Vater nach Lübeck.
In der norddeutschen Stadt wurde sie traditionell erzogen, heiratete den Senator und Kaufmann Thomas Johann Heinrich Mann und brachte fünf Kinder zur Welt, von denen zwei, Heinrich und Thomas, zum deutschsprachigen Literaturkanon des 20. Jahrhunderts gehören. Nach dem Tod ihres Ehemanns verlegte Julia Mann ihren Wohnsitz nach München und kehrte nie mehr nach Brasilien zurück, doch die Erinnerungen an ihr Kindheit in den Tropen „zwischen Affen und Papageien“ fanden Eingang in das posthum erschienene Buch Aus Dodos Kindheit.
„Etwas Bedauerliches oder Beschämendes“
Jahrzehntelang wurde die brasilianische Herkunft der Brüder Mann von deutschen Intellektuellen ignoriert, wie Sérgio Buarque de Holanda bereits in seinem Artikel von 1930 feststellte: „Der bekannte Literaturhistoriker Adolf Bartels negiert diese Annahme, als sei darin etwas Bedauerliches oder Beschämendes“. Erst in den 1990er-Jahren interessierte sich der als „Lieblingsenkel“ Thomas Manns bekannte Schriftsteller und Psychologe Frido Mann anlässlich der Recherchen für seinen vom brasilianischen Zweig seiner Familie inspirierten Roman Brasa für die Geschichte seiner Urgroßmutter.Nach einem Besuch in Paraty entstand der Traum, das Herrenhaus Boa Vista zu einem Kulturzentrum zu machen. 1996 gründete Frido Mann in Zürich den Verein „Casa Mann“ und veranstaltete ein Jahr darauf in Paraty ein Festival rund um Julia Mann mit Ausstellungen, Vorträgen und unter Beteiligung brasilianischer Künstlerinnen und Künstler. Interessenskonflikte und juristische Auseinandersetzungen mit den damaligen Besitzern des Herrenhauses ließen das Projekt eines Kulturzentrums stocken und Frido Mann gab seinen Plan auf.
Weder Thomas noch sein Bruder Heinrich Mann setzten je einen Fuß auf brasilianischen Boden, doch sie verhielten sich auf jeweils eigene Weise dazu. Thomas Mann bezieht sich in seinem Werk unterschwellig immer wieder auf den „Süden“ und ausländische Figuren. „Viele Jahre lang unterschlug Thomas Mann seine brasilianische Herkunft. Er wollte seine Stellung als deutscher Dichterfürst nicht aufs Spiel setzen“, sagt Paulo Soethe, Professor am literaturwissenschaftlichen Postgraduiertenprogramm der Universidade Federal do Paraná und Autor des in Zusammenarbeit mit Karl-Josef Kuschel und Frido Mann entstandenen Buches Mutterland. Die Familie Mann und Brasilien. „Von 1938 an entwickelte sich Thomas Mann zum erbitterten Gegner des Nazifaschismus und widmete Lateinamerika mehr Aufmerksamkeit. Er traf sich mit dem brasilianischen Schriftsteller Érico Veríssimo und schrieb sich mit europäischen Intellektuellen, die während des Zweiten Weltkriegs in Brasilien im Exil lebten“, berichtet Soethe.
Das brasilianische Erbe
Einem dieser Schriftsteller im Exil, dem österreichischen Dramatiker Karl Lustig-Prean, schrieb der Autor in einem Brief 1943: „Auch bin ich mir des Einschlages von latein-amerikanischem Blut in meinen Adern immer bewusst gewesen, und fühle wohl, was ich ihm als Künstler verdanke. Nur durch eine gewisse konservative Schwerfälligkeit meines Lebens ist es zu erklären, dass ich Brasilien noch nie besucht habe. Der Verlust meines Vaterlandes sollte ein Grund mehr für mich sein, mein Mutterland kennenzulernen. Ich hoffe, die Stunde dafür wird kommen“.Bei Heinrich Mann scheint das brasilianische Erbe deutlicher auf. 1907 veröffentlichte Julia Manns Erstgeborener Zwischen den Rassen, ein Roman inspiriert von Erinnerungen der Matriarchin. „Ein sehr interessanter Roman über eine Frau, die nach Emanzipation strebt und nach dem Recht, sich von einem autoritären und konservativen Mann scheiden zu lassen“, sagt Soethe.
Im Januar 2024 anlässlich des hundertjährigen Erscheinens von Der Zauberberg, unternahm der damalige Bürgermeister von Paraty, Luciano Vidal, eine offizielle Reise nach Lübeck, um Partner zu finden für den Erhalt des Erbes der Familie Mann, allerdings ohne konkrete Ergebnisse. Im gleichen Jahr zeigte das Internationale Literaturfest Paraty (FLIP) die Wanderausstellung Thomas Mann: Die Demokratie wird siegen! – vom Thomas Mann House Los Angeles in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus München konzipiert und in Brasilien von Paulo Soethe kuratiert, mit Podiumsgesprächen über die Familie Mann im „Casa da Cultura de Paraty“. Im nur wenige Kilometer vom historischen Zentrum entfernten Herrenhaus Boa Vista fand indes keine literarische Veranstaltung statt.
Immobilie mit ungewisser Zukunft
2025, im 150. Geburtsjahr und 70. Todesjahr Thomas Manns ist die Zukunft des Hauses weiterhin ungewiss. Die Immobilie gehört Amyr Klink, der 1984 als erster Mensch im Ruderboot den Südatlantik überquerte. Nach Jahren in bedauernswertem Zustand und nachdem die brasilianische Presse darüber berichtete, wurde das Haus renoviert und 2023 von der brasilianischen Denkmalbehörde Iphan begutachtet. Klink, der auf dem Gelände auch eine luxuriöse Marina besitzt, ließ über sein Büro mitteilen, er und seine Geschäftspartner seien in Hinblick auf Förderung und Entwicklung des Bestands der Institution „offen für Angebote“.Sollte sich dies konkretisieren, stünde ein Kulturzentrum in Julia Manns Geburtshaus in Paraty in einer Reihe von anderen Institutionen zur Bewahrung des Erbes der Manns in aller Welt, wie das Thomas Mann House Los Angeles, das Buddenbrookhaus / Thomas-und-Heinrich-Mann-Zentrum in Lübeck, die Monacensia im Hildebrandhaus in München, das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich sowie das Thomo Manno kultūros centras in Nida, Litauen.
Familienerinnerung
„Sollte das Haus, in dem Julia Mann gelebt hat, als Gebäude nicht zur Verfügung stehen, werden wir die Familiengeschichte an anderer Stelle mit Tagungen lebendig halten“, verspricht Johannes Kretschmer, Professor für Germanistik der Universidade Federal Fluminense in Niterói. Kretschmer zieht Parallelen zwischen dem Fall Julia Mann und dem des jüdischen österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig, der sich vor dem Naziregime im Zweiten Weltkrieg nach Petrópolis flüchtete. Das Haus, in dem Zweig lebte und starb, ist heute ein für das Publikum geöffnetes Museum. „So wie Petrópolis lange gebraucht hat, um die Bedeutung von Stefan Zweig zu begreifen, vertut Paraty gerade eine Chance, Kulturtourismus anzuziehen“, glaubt Kretschmer, der selbst Kolloquien und Lesungen in der Stadt organisiert.„Die Literaturwissenschaft in Deutschland und in der Welt betrachtet zunehmend die brasilianische Herkunft von Thomas und Heinrich Mann. Es wäre wichtig, auch in Brasilien eine der Familie Mann gewidmete Institution zu haben, denn Julia Mann prägte das Leben der beiden Schriftsteller weit mehr als bisher angenommen. Und Thomas Mann hat eine zahlenmäßig bedeutende Leserschaft in Brasilien“, behauptet Soethe.