Radikalisierung der Sprache
„Populistische Parolen bleiben besser haften“
Der Schriftsteller Lukas Rietzschel beschreibt in seinem Debütroman die Perspektivlosigkeit und Radikalisierung zweier Brüder, die in Ostdeutschland aufwachsen. Im Interview spricht er über Populismus und die Verrohung der Sprache.
Von Martina Vetter
Lukas Rietzschel, geboren 1994 in Räckelwitz in Ostsachsen, lebt in Görlitz. 2021 erschien sein jüngster Roman „Raumfahrer“ im dtv Verlag. Kritiker*innen zählen ihn zu den bedeutendsten jungen Schriftsteller*innen Ostdeutschlands.
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Herr Rietzschel, in Ihrem Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ erzählen Sie die Geschichte von zwei Brüdern, die sich radikalisieren. Dieser Prozess spiegelt sich auch in der Sprache wider. In welcher Verantwortung sehen Sie sich als Schriftsteller, wenn Sie Begriffe wie „Pollackenkacke“ oder „Volksverräter“ verwenden? Bereiten Sie damit nicht einer diffamierenden und populistischen Sprache den Boden?
Das muss man aus meiner Sicht sehr differenziert betrachten: Als Schriftsteller reflektiere ich die Sprache und bette sie in einen Kontext ein. In meinen Romanen verwende ich bestimmte Ausdrücke, um die Auswirkung auf das Handeln der Personen zu zeigen – und um zu zeigen, wie gefährlich das ist. Politiker*innen hingegen benutzen bestimmte Begriffe, um ganz gezielt einen Diskurs anzustoßen. Mag sein, dass auch ich als Schriftsteller mit meiner Begriffswahl das Feld des Sagbaren und Hinnehmbaren weite. Trotzdem glaube ich, dass Politiker*innen in einer ganz anderen Verantwortung stehen und beim Umgang mit Sprache eine Vorbildfunktion haben sollten.
Werden Politiker*innen dieser Vorbildfunktion gerecht?
Wenn Politiker*innen populistische Reden schwingen, instrumentalisieren sie die Sprache für ihre Zwecke. Ihnen fallen die Worte ja nicht immer erst in dem Moment ein – natürlich spricht jemand wie Markus Söder mit seinen Berater*innen über die Wirkung von Begriffen wie „Asyltourismus“. Was dabei vielleicht zu wenig bedacht wird, ist die Langfristigkeit solcher Worte und wie schnell sie von der Gesellschaft übernommen werden. Gerade weil Menschen davon ausgehen, dass nichts Verwerfliches daran ist, wenn Politiker*innen sie verwenden. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, auch bei der Sprache ganz klar Grenzen zu ziehen.
Was können Sie als Schriftsteller gegen die Verrohung der Sprache tun?
Ich glaube, wichtiger als meine Romane ist das, was ich in der Öffentlichkeit sage. Das Buch ist als Kunstwerk zu betrachten und völlig frei in seiner Sprache. Wichtig ist, dass jeder von uns Widerworte findet, wenn in der Öffentlichkeit extremistische Parolen geschwungen werden.
Neonazis demonstrieren am 1. Mai 2016 im sächsischen Plauen.
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Welchen Einfluss haben die sozialen Medien, wenn es darum geht, populistische Parolen zu verbreiten? Wird hier die Verrohung der Sprache forciert, auch weil das Korrektiv fehlt?
Das Internet gaukelt uns eine gewisse Art von Authentizität vor. Denken sie an Kund*innenbewertungen, die für den Versandhandel enorm wichtig sind, um seine Produkte zu verkaufen. Wir als Nutzer*innen gehen davon aus, dass jemand die Bewertung geschrieben hat, der das Produkt auch gekauft hat. Das beeinflusst unsere Kaufentscheidung. Genau das ist der Mechanismus, den diese Trollfabriken in Russland nutzen. Sie machen uns glauben, dass es echte User*innen sind, die ein Produkt bewertet haben oder die eine bestimmte Politikerin nicht mögen. Solche Einflussnahme ist auf politischer Ebene natürlich gefährlich, weil man über das Netz sehr leicht Anschluss an radikale Gruppen unterschiedlichster Richtungen finden kann. Gegenpole existieren in solchen Foren nicht. Das anonyme, massenhafte gemeinsame Aufregen ist etwas ganz Neues, das wir in unserer Demokratie nicht kannten, und die Entwicklung halte ich für bedenklich.
Wieso fühlen sich manche Menschen von radikalen Gruppen angezogen?
Vor allem, wenn alle sozialen Bezugspunkte erodieren, bieten solche Gruppen Halt in einer diffusen und überfordernden Gegenwart, in der es scheinbar keine Ordnung mehr gibt.
Ein ähnliches Phänomen beschreiben Sie in ihrem Roman.
Ja. Die äußere Welt der Protagonisten zerfällt Stück für Stück. Freunde ziehen weg oder werden drogenabhängig, die Eltern lassen sich scheiden und der große Bruder ist als Ansprechperson nicht mehr da. Dieses auf sich selbst zurückgeworfen sein und das Gefühl, das alles ins Wanken gerät, macht Menschen anfällig für radikale Gruppen. Wenn dann noch äußere Ereignisse wie die Finanzkrise oder die sogenannte Flüchtlingskrise hinzukommen, wo vieles zusammenbricht, sich niemand mehr an Regeln hält und der Staat überfordert scheint, verstärkt das die Tendenz zur Radikalisierung.
Führt Radikalisierung auch zu einer Verrohung der Sprache?
Ich glaube, dass diese Wahrnehmung viel mit den Medien zu tun hat: Auch wenn ein Großteil dessen, was gesagt oder geschrieben wird, nicht populistisch ist, nehmen wir vor allem populistische Äußerungen wahr.
Als die AfD-Partei an Wähler*innenstimmen gewann, wurde viel über die Verrohung der Sprache diskutiert. Björn Höcke, hier auf einer Wahlkampfveranstaltung im thüringischen Königs Wusterhausen, prägte Begriffe wie „soziale Patrioten“, „Entartung“ oder „Kartellparteien“.
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Entwickelt sich unsere Gesellschaft in eine Richtung, die nicht nur in Bezug auf die Sprache Tendenzen zu einer Verrohung zeigt?
So pessimistisch sehe ich es nicht. Gerade in der Pandemie hat sich gezeigt, wie rücksichtsvoll und solidarisch unsere Gesellschaft sein kann. Die meisten wollen sich selbst und andere vor einer Infektion schützen. Auch 2015, als Deutschland viele Geflüchtete aufgenommen hat, gab es neben all jenen, die dagegen demonstrierten und vielleicht sogar Asylbewerberheime angezündet haben, eine große Welle der Hilfsbereitschaft und die Bereitschaft, Geflüchtete aufzunehmen. Ich glaube sogar, dass wir unter dem Strich sehr viel mitfühlender und solidarischer sind und gemeinschaftlicher agieren, als es manchmal postuliert wird. Und ich habe den Eindruck, dass unsere Zivilgesellschaft viel weiter ist, als es unsere Politiker*innen sind.