Film Farocki, 20. Jahrhundert: Fünfundzwanzig Filme im Sala Leopoldo Lugones

Harun Farocki Foto (Ausschnitt): © Hertha Hurnaus

Di, 05.11.2024 –
So, 10.11.2024

Sala Leopoldo Lugones / Teatro San Martín

Der Zyklus umfasst fünfundzwanzig Titel, darunter Lang-, Kurz- und Mittellangfilme, von einem der wichtigsten Namen des Dokumentar- und Essayfilms der letzten fünf Jahrzehnte.

Vom Dienstag, den 5. November bis zum Sonntag, den 10. November, findet im Leopoldo Lugones Saal des Teatro San Martín (Av. Corrientes 1530) die Filmreihe „Farocki, 20. Jahrhundert“, statt. Es ist der zweite Teil eines retrospektiven Programms, das dem Werk des großen deutschen Filmemachers Harun Farocki zehn Jahre nach seinem Tod gewidmet ist.

Das Programm vervollständigt den ersten Teil des Zyklus, „Farocki, 21. Jahrhundert“, der im vergangenen Oktober gezeigt wurde, und durchläuft die Filmografie des Autors von den 60er Jahren bis zum Ende des Jahrtausends. Die Reihe wird vom Goethe-Institut zusammen mit Complejo Teatral de Buenos Aires, das dem Kulturministerium der Stadt untersteht, der Fundación Cinemateca Argentina und dem Goethe-Institut Buenos organisiert.

„Das Werk von Harun Farocki kann mit Fug und Recht als eines der originellsten, komplexesten und raffiniertesten des modernen deutschen Kinos bezeichnet werden. Als Autor eines Kinos, das nicht an Kategorien glaubt und für das die Bezeichnungen 'Essay' oder 'Dokumentarfilm' zweifellos unzureichend sind, hat Farocki eine Art Taxonomie der Bilder entwickelt, die es ihm ermöglicht, die Ideologie zu entdecken, die der Technik zugrunde liegt, oder die Art und Weise, wie diese Technik ihrerseits neue Denkstrukturen hervorzubringen vermag. (...) Wenn das Gefängnis ein Spiegel der Gesellschaft ist, wie Gefängnisbilder zu sagen scheint, das Found Footage mit Archivmaterial (Robert Bresson, Jean Genet, Nazi-Wochenschauen) aus jenem neuen „Thesaurus“ in Dialog setzt, der für Farocki die Geschichte des Kinos ist, dann sind die Einkaufszentren seine Vollendung. Dieser Gedanke taucht in Die Schöpfer der Einkaufswelten auf, in dem Farocki auf grausame Weise all die Geheimnisse enthüllt, die in den Einkaufszentren, den neuen Akropolen der zeitgenössischen Welt, verborgen sind. Wie in seinen früheren Werken besteht seine Methode darin, eine Technik zu entlarven, aus der sich eine Ideologie ableitet, in diesem Fall mit zweifellos totalitären Wurzeln. Letztlich geht es um nichts Geringeres als darum, den Willen zu beugen, die Blickrichtung zu erzwingen und die Menschen zu Nummern zu machen, zu kreativen Gefangenen des Konsumtriebs.“(Luciano Monteagudo, Kritik des Blicks - Texte von Harun Farocki). 
 
 

Programm

 

Dienstag 05.11. 15 Uhr und 21 Uhr
  • Der Ärger mit den Bildern. Eine Telekritik von Harun Farocki (1973, 48´)
  • Ein Bild von Sarah Schumann (1978, 30´)
  • White Christmas (1968, 3´)
  • Jean-Marie Straub und Daniéle Huillet bei der Arbeit an einem Film nach Franz Kafkas Romanfragment Amerika (1983, 26´)

Dienstag 05.11. 18 Uhr
  • Jeder ein Berliner Kindl (1966,4´)
  • Zwei Wege (1966, 3´)
  • Der Wahlhelfer (1967, 14´)
  • Die Worte des Vorsitzenden (1967, 3´)
  • Ihre Zeitungen (1968. 17´)
  • Anleitung, Polizisten den Helm abzureißen (1969, 2´)
  • Nicht löschbares Feuer (1969, 25´)
  • Ohne Titel oder: Nixon kommt nach Berlin (1969, 2´)
 

Mittwoch 06.11. 15 Uhr und 21 Uhr
  • Ein Bild (1983, 25´)
  • Peter Lorre - Das doppelte Gesicht (1984, 84´)

Mittwoch 06.11. 18 Uhr
  • Wie man sieht (1986, 72´)
  • Die Bewerbung (1997, 58´)
 

Donnerstag 07.11. 15 Uhr
  • Schlagworte - Schlagbilder. Ein Gespräch mit Vilém Flusser (1986,13´)
  • Filmbücher (1986, 15´)
  • Die Schulung (1987,44´)

Donnerstag 07.11. 18 Uhr
  • Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (1988, 74´)

Donnerstag 07.11. 21 Uhr
  • Der Auftritt (1996, 40´)
  • Stilleben (1997, 56´)
 

Freitag 08.11. 15 Uhr
  • Wie man sieht (1986, 72´)
  • Die Bewerbung; Alemania (1997, 58´)

Freitag 08.11. 21 Uhr
  • Jeder ein Berliner Kindl (1966, 4´)
  • Zwei Wege (1966, 3`)
  • Der Wahlhelfer (1967, 14´)
  • Die Worte des Vorsitzenden (1967+ 3`)
  • Ihre Zeitungen (1968, 17´)
  • Anleitung, Polizisten den Helm abzureißen (1969, 2´)
  • Nicht löschbares Feuer (1969, 25´)
  • Ohne Titel oder: Nixon kommt nach Berlin (1969, 2´)
 

Samstag 09.11. 15 Uhr
  • Georg K. Glaser – Schriftsteller und Schmied (1988, 44)
  • Arbeiter verlassen die Fabrik (1995, 36´)

Samstag 09.11. 21 Uhr
  • Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (1988, 74´)
 

Sonntag 10.11. 15 Uhr und 21 Uhr
  • Videogramme einer Revolution (1992, 106´)
 


Die Filme

 

Der Ärger mit den Bildern. Eine Telekritik von Harun Farocki
(BDR, 1973)
Regie: Harun Farocki.
Länge: 48 Min.

Gleich zu Anfang legt Farocki die Karten erfreulich offen auf den Tisch: "Ich will zeigen, dass die meisten Features so sind, dass einem die Lust und das Interesse an der wirklichen Welt vergeht." Farocki zeigt, was er zeigen will wiederum erfreulicherweise – nicht mit der Attitüde des von den Begriffsmysterien seiner privaten Medienlehre den Schleier lüpfenden "Semiotikers" (die Beispiele schrecken), sondern indem er sehr simple, manchmal geradezu banal erscheinende Fragen stellt: Warum muss eine Sequenz von zwei Minuten und siebzehn Sekunden 13 Schauplätze zeigen, warum muss der Kommentar 25 Aussagen machen? Warum müssen Features so "dynamisch" sein, so "lebendig", so "abwechslungsreich", dass vor lauter "Lebendigkeit" die Aussage krepiert"? (Frank J. Heinemann, 1973)
 

Ein Bild von Sarah Schumann
(BDR, 1978)
Regie: Harun Farocki
Länge: 30 Min.

Dieser Film von Harun Farocki zeigt die Entstehung eines Bildes, an dem die Künstlerin neun Wochen gearbeitet hat. Sarah Schumann lebt in Berlin und ist eine Vorkämpferin der feministischen Szene. Zusammen mit einigen anderen Künstlerinnen organisierte sie 1977 die erste große Ausstellung, in der nur Arbeiten von Frauen gezeigt wurden.
Sarah Schumann malt figurativ, dass heißt, sie hat eine Technik entwickelt, bei der Collage und Malerei in mehreren Bildschichten über- und ineinandergearbeitet werden. Die Entstehung eines Bildes wird für den Betrachter zum Abenteuer. (Produktionsmitteilung)
 

White Christmas
(BDR, 1968)
Regie: Harun Farocki
Länge: 3 Min.

Einer der vielen Filme, in denen Weihnacht und Krieg miteinander verbunden werden. Unklar, ob die Sehnsucht nach einer weißen Weihnacht nun ernst genommen wird, oder ob sie denunziert werden soll. Jedenfalls der Krieg der Amerikaner in Vietnam soll denunziert werden. (Harun Farocki)
 

Jean-Marie Straub und Danièle Huillet bei der Arbeit an einem Film nach Franz Kafkas Romanfragment "Amerika"
(BDR, 1983)
Regie: Harun Farocki
Länge: 107 Min.

Dieser Film ist gleichzeitig ein Selbstportrait und eine Hommage an Farockis Vorbild (und ehemaligen Filmakademie-Lehrer) Jean-Marie-Straub. Farockis Bewunderung für Straub ging so weit, daß er über Zwischen zwei Kriegen  sagte: "Vielleicht habe ich den Film nur gemacht, um von Straub anerkannt zu werden".
Mit diesem Beobachtungsfilm dokumentiert Farocki, daß sich sein Wunsch erfüllt hat: Der Film zeigt, wie Farocki unter Straubs Regie für den Film  Klassenverhältnisse  (1983) seine Rolle als "Delamarche" probt. Wer Farockis Dokumentation der Dreharbeiten einmal gesehen hat, vergißt diese kurzen Szenen nie wieder. Die Inszenierungstechnik von Jean-Marie Straub und seiner Frau Danièle Huillet ist so repetitiv und detailversessen, daß die Szenen bis zur Erschöpfung der Darsteller geprobt werden.
Straub führt seine Schauspieler wie ein Theaterregisseur. Schon wegen diesem im Kino ungewöhnlichen Verfahren ist es gut, daß diese ungewöhnliche Art, Filme zu inszenieren, einmal filmisch festgehalten worden ist. Farocki filmte eine Arbeit des Widerstands gegen das traditionelle Kino, gegen das er sich auch mit seinen eigenen Filmen aufgelehnt hat. (Tilman Baumgärtel)
 

Jeder ein Berliner Kindl
(BDR, 1966)
Regie: Harun Farocki
Länge: 4 Min.

Jeder ein Berliner Kindl  befasst sich mit der Berliner Kindl-Werbung. Es geht um die Geste des Selbst-Dementis, die allerdings viel mehr ist als eine bloß ästhetische, ironisch platzierte 'Geste', offenbar hat sie etwas mit der Form der Annäherung an das Politische, an politische Reden und die politische Semiotik zu tun. [...] Der Witz ist: Der Hang, sich selbst zu dementieren, der Farockis Filme aus den sechziger Jahren für die 68er Bewegung der revolutionären Arbeiter, Studenten und Schüler ziemlich sperrig, womöglich unbrauchbar gemacht hat, macht sie zu ganz brauchbaren Produkten dreißig Jahre später. (Klaus Kreimeier)
 

Zwei Wege
(BDR, 1966)
Regie: Harun Farocki
Länge: 3 Min.

Farockis allererster Film: Ein kurzer Fernsehbeitrag für den Sender Freies Berlin (SFB), der in Hinblick auf Farockis späteres Werk hochinteressant ist.
Zwei Wege ist eine Bildbeschreibung! Farocki zeigt ein Bild mit einem religiös-allegorischen Ölgemälde, das den 'rechten' und den 'falschen' Weg des Christen zeigt. Der eine Weg führt in den Himmel, der andere zur Hölle.
Farocki nimmt das Bild förmlich mit der Kamera auseinander; er zeigt Close-Ups der verschiedenen Motive des Bilds, die er mit Knittelversen kommentiert. Diese Methode, das Bild mit der Kamera zu zerlegen, erinnert an ähnliche Sequenzen in seinen Essayfilmen  Wie man sieht  und  Bilder der Welt  aus den achtziger Jahren. (Tilman Baumgärtel)
 

Der Wahlhelfer
BDR, 1967
Regie: Harun Farocki
Länge: 14 Min.

Der Wahlhelfer  behandelt die Entwicklung eines jungen Gerichtsrefe- rendars und FDP-Anhängers zum Revolutionär. Da es sich um einen Agitationsfilm handelt, kann von einer 'Entwicklung' natürlich nicht die Rede sein. Die politische Verbesserung Harald Lochs vollzieht sich vielmehr 'sprunghaft' so wie ab Mitte der sechziger Jahre alles 'sprunghaft' verläuft: der Volkskrieg in Vietnam, die Zuspitzung der Klassenkämpfe in der BRD und Westberlin, die Transformation des SDS von einer (bereits abgehängten) Unterorganisation der SPD zur Sturmspitze der außerparlamentarischen Opposition und die Verschärfung der Widersprüche zwischen Studenten und Administration an der DFFB.
Neben der Geschichte von der Politisierung eines jungen Mannes erzählt der Film etwas über Kreuzberg, über die Probleme der FDP in einem traditionellen Berliner Arbeiterbezirk und über eine Liebe in Algerien. Es lohnt sich somit, ihn genauer zu betrachten. (Klaus Kreimeier)
 

Die Worte des Vorsitzenden
(BDR, 1967)
Regie: Harun Farocki
Länge: 3 Min.

Der Film wurde auf den Teach-ins im Audimax der Freien Universität teils mit donnerndem Applaus, teils mit ohrenbetäubenden Pfeifkonzerten überschüttet. Er provoziert unmittelbare, spontane Reaktionen; erst mit dem Fortgang der Linienkämpfe und der ideologischen Verhärtungen breitete sich das Schweigen, die eisige Ablehnung aus. Farocki war 1967/68 ein Dadaist des Maoismus. Zum Hintergrund seines Films gehört der Godard-Kult in der ersten Studentengeneration der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, gehören die 'chinesischen' Godard-Filme von 1967/68 (von La Chinoise  bis  Le gai savoir)... (Klaus Kreimeier)
 

Ihre Zeitungen
(BDR, 1968)
Regie: Harun Farocki
Länge: 17 Min.

Dieser Film ist im Kontext der studentischen Kampagnen zur Enteignung des Springer-Konzerns entstanden. Was können wir tun? Lenins Frage leitet den Schlussteil ein: das Lob der kämpfenden Kollektive. Eine studentische Kommune bereitet ihre Agitationsarbeit vor. Der Bildaufbau zitiert Godards Film La Chinoise, der 1968 in die Kinos kam; der Dialog lehnt sich an Brechts Lehrstücke an. [...]
Am Ende schneiden die revolutionären Studenten Papier zurecht und wickeln darin Berliner Pflastersteine ein. Das Papier macht die Schere stumpf. Papier wickelt den Stein ein. Das Papier diktiert dem Stein die Richtung. In der Abblende ist das Klirren von Scheiben zu hören. Ende des Films. Papier Schere Stein: Dieses Bild läßt sich fortspinnen.
Eine Triade voller Aporien, in der das eine Ding das andere widerlegt, bis es vom dritten in den Schwanz gebissen wird. Jedes Ding wird von einem anderen dementiert und kann doch überleben. Das kämpfende Kollektiv ist eine ungeheure Produktionskraft, sagt Farocki in Ihre Zeitungen. Aber in der schönsten und witzigsten Szene des Films inszeniert er sich doch lieber selbst als sportlich trainierten Einzelkämpfer in enganliegender Ledermontur. (Klaus Kreimeier)
 

Anleitung, Polizisten den Helm abzureißen
(BDR, 1969)
Regie: Harun Farocki
Länge: 2 Min.

Angeblich (Quelle: Fritz J. Raddatz) weinte Rosa Luxenburg, als sie die Darstellung des Wertbegriffs von Marx las. Ebenso enttäuscht war ich von den "Cine-Tracts", die im Pariser Mai gemacht wurden und die in Berlin bald darauf zu sehen waren. Ich erwartete wohl eher etwas wie eine Fernsehberichterstattung, und ähnlich sind alle Versammlungen, die unsere Flugblattfilme in diesen Jahren gesehen haben, enttäuscht gewesen.
Weil wir keine 'richtigen' Filme machten, so nannte das meine Mutter, kam es ihnen vor, daß ihre Sache nicht gebührend offizialisiert wurde, und das haben der 'Arbeiterfilm' und auch Fassbinder dann geschafft. Wir drehten diesen Spot in einer der vielen Pausen, die es bei den Aufnahmen zu einem sehr wenig bedachten Film über Kinderläden von Susanne Beyeler gab. Auf einem Flachdach zog sich Wolfgang Gremm nackt aus und spielte den Polizisten. Wir setzten auf die antihumanistische Provokation, die es bedeutet, rein technisch darzustellen, wie man einen Polizisten bekämpft, gingen aber nicht so weit, einen androgynen Langhaarigen zum Darsteller zu nehmen, was Gremm, der der Dickste und Kurzhaarigste war, der gerade greifbar war, mit einem Lächeln aufgefasst hat. (Harun Farocki)
 

Nicht löschbares Feuer
(BDR, 1969)
Regie: Harun Farocki
Länge 25 Min.

1968 flog Farocki mit siebzehn weiteren Studenten wegen rebellischer Umtriebe von der Berliner Filmakademie; ein Jahr später entstand Nicht löschbares Feuer, der wichtigste Agitprop-Film der Vietnam-Bewegung. Ein Traktat über Napalm-Produktion, Arbeitsteilung und fremdbestimmtes Bewußtsein von brechtischer Kargheit, lehrhaft im Stil, schneidend in der Diktion: heute ein Dokument für den pädagogischen Rigorismus der 68er, aber auch für ihr Vermögen, komplizierte Zusammenhänge so zu erhellen, daß Kapieren und Agieren für viele der Generation zu einer selbstverständlichen Einheit wurden. (Klaus Kreimeier, Die Zeit, 3.12. 1993).

Nicht löschbares Feuer  nimmt viele Themen vorweg, die in Farockis weiterem Werk eine Rolle spielen: Technologie, Krieg, die Verstrickung von Wissenschaftlern und Ingenieuren in den militärisch-industriellen Komplex. Auch die stilisierte, sparsame Bildgestaltung, die mit einem 10mm-Objektiv aufgenommenen tiefelosen Räume, die 'unnatürlichen' Plansequenzen und die an Brecht erinnernde Schauspielerführung verweisen bereits auf jene Filme, die Farocki in den siebziger und frühen achtziger Jahren machen sollte.
Doch im Zusammenhang mit seinem politischen Engagement als Filmstudent ist hier die autodestruktive Geste der wichtigste Aspekt. Mit ihr signalisiert Farocki seine Abkehr von der direkten politischen Militanz und eine Hinwendung zum künstlerisch-ästhetisch sublimierenden Filmemachen, das freilich von äußerster formaler Radikalität sein sollte. Eine so dezidierte Außenseiterposition haben selbst in dieser für den westdeutschen Film so außerordentlich experimentier-freudigen Zeit nur sehr wenige andere Regisseure eingenommen. (Tilman Baumgärtel)
 

Ohne Titel oder: Nixon kommt nach Berlin
(BRD, 1969)
Regie: Harun Farocki
Länge: 2 Min.

"Ich mag mich nicht erinnern", sagt man in der Schweiz, was wohl "Ich vermag mich nicht zu erinnern" heißen soll, aber wie "Ich will nicht" klingt. (Harun Farocki)
 

Ein Bild
(BRD, 1983)
Regie: Harun Farocki
Länge: 25 Min.

Mein Film nimmt sein Material daher, daß an vier Tagen in einem Studio an einem Bild gearbeitet wird, das auf die Mittelseite der Zeitschrift  Playboy  kommen soll. Die Zeitschrift selbst handelt von Kultur, Autos, einer gewissen Art zu leben. Vielleicht ist all das Drumherum der Zeitschrift dazu da, um die nackte Frau zu bekleiden. Vielleicht ist sie eine Anziehpuppe. Die nackte Frau in der Mitte ist eine Sonne, um die sich ein System dreht: Kultur, Geschäft, zu leben! (In die Sonne kann man nicht sehen und filmen).
Man kann sich vorstellen, dass die Leute, die ein Bild von solcher Schwerkraft zu machen haben, dies mit einer Sorgfalt, Ernsthaftigkeit und Verantwortlichkeit tun, als müssten sie Uran spalten. Um das nackte Mädchen auf den Mittelseiten der Zeitschrift  Playboy  kreisen heute Druck- und Verlagsgebäude, Anzeigengeschäfte, Hotels und Clubs, Milchstraßen aus Dollarmillionen, ein kommerzieller Kosmos; monatlich rückt ein neues Mädchen in den Mittelpunkt. Ein Punkt hat keine Ausdehnung und ist unsichtbar. Das haben wir gefilmt. (Harun Farocki)
 

Peter Lorre - Das doppelte Gesicht
(BRD, 1984)
Regie: Harun Farocki
Länge: 84 Min.

Auch im filmhistorischen Bereich ist Farocki ein präziser Analytiker, dessen ebenso verblüffenden wie treffsicheren Schlußfolgerungen und Beobachtungen man sich kaum verschließen kann. Auch in dieser Schauspielerbiographie vertraut Farocki mehr auf die Bilder, die er mit nur wenigen knappen Sätzen kommentiert, um sie sodann für sich selbst sprechen zu lassen, ihnen aber durch diesen wohlausbalancierten Kontext eine ungeahnte Tiefe und Bedeutung zu geben. (Arnold Hohmann, 1984)
 

Wie man sieht
(BRD, 1986)
Regie: Harun Farocki
Länge: 72 Min.

Mein Film  Wie man sieht  ist ein Spielfilm, er hat viel Handlung. Er berichtet von Mädchen in Pornomagazinen, die einen Namen bekommen, und von den namenlosen Toten im Massengrab, von Maschinen, die so hässlich sind, dass eine Verkleidung das Auge des Arbeiters schützen muss und von Motoren, die zu schön sind, dass sie die Kühlerhaube verbirgt, von Arbeitstechniken, die an der Zusammenarbeit von Hand und Hirn festhalten oder damit Schluss machen wollen.
Mein Film  Wie man sieht  ist ein Aufsatz- oder Essay-Film. Der gegenwärtige Meinungsapparat ist ein großes Maul und vielleicht ein Reißwolf. Ich mache aus den Fetzen einen neuen Text und veranstalte also eine Schnitzeljagd. Mein Film ist aus vielen Einzelheiten und stellt unter ihnen viele Bild-Bild und Wort-Bild und Wort-Wort-Beziehungen her und kann also einen Abend füllen. Ich suchte und fand eine Form, in dem man mit wenig Geld viel hinstellen kann. (Harun Farocki)
 

Die Bewerbung
(Deutschland, 1997)
Regie: Harun Farocki
Länge: 130 Min.

Im Sommer 1996 filmten wir Bewerbungs-Übungen, Kurse, in denen man lernt, wie man sich für eine Anstellung bewerben soll. Wir filmten Langzeit-Arbeitslose, denen die Wohlfahrtsbehörde die Teilnahme an einem solchen Kurs aufgedrückt hatte und wir filmten Manager mit einem Zweihunderttausendmarks-Jahresgehalt, die sich einen Privat-Coach leisteten so wie einmal die freien Bürger Athens von einem Haussklaven in Rhetorik unterwiesen worden sind.
Schulabgänger, Studierte, Umgeschulte, Langzeitarbeitslose, ehemalige Drogenabhängige und Mittelmanager, sie alle sollen lernen, sich selbst anzubieten und zu veräußern, wofür es den Begriff Self-Managment gibt. Das Selbst ist vielleicht nur ein metaphysischer Haken, an den die soziale Identität gehängt ist. Im Bewerbungsgespräch soll der ganze Mensch erscheinen, nicht nur seine messbare Eignung, die auf Papieren vorausgeschickt wird. Der ganze Mensch fühlt sich angenommen oder verworfen.
Es war Kafka, der die Aufnahme in ein Arbeitsverhältnis wie den Eintritt in Gottes Reich darstellte und auch, dass der Weg zu dem einen wie dem anderen ungewiss ist. Mit der größten Unterwürfigkeit wird heute über eine Arbeitsstellung geredet, ohne dass dies eine Verheißung wäre. Wie die Verlobung auf den Tag der Hochzeit und die Adventszeit auf Christi Geburtstag sind die Bewerbungsübungen auch zur Einstimmung auf die große Stunde gedacht. Ein wichtiger Augenblick ist schnell um und es gilt, ihn in Vorwegnahme zu verlängern, die Empfindungen von Hoffnung und Furcht zur Blüte treiben. Wir trafen eine Kursteilnehmerin, die schon ein halbes Dutzend solcher Kurse mitgemacht hat. Sie wird wohl nie eine Arbeit finden, wenn man sie nicht solche Kurse leiten lässt. (Harun Farocki)
 

Schlagworte - Schlagbilder. Ein Gespräch mit Vilém Flusser
(BRD, 1986)
Regie: Harun Farocki
Länge: 13 Min.

Farocki befragt den Philosophen Vilém Flusser zur Gestaltung der Frontseite der Boulevard-Tageszeitung  Bild. Diese Seite wird, wie ein globales Bild konzipiert: Einerseits ist es unmöglich, den Text zu lesen, ohne den Blick auf die Bilder zu richten, die eine starke Wirkung auslösen sollen; andererseits schafft die Typographie der Titel fette weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund ein brutales und magisches visuelles Klima. Bild und Text lösen sich in ein und derselben Bewegung ab, um den "medialen Schock" aufzulösen. (Festivalkatalog, Locarno 1998)
 

Filmbücher
(BRD, 1986)
Regie: Harun Farocki.
Länge: 15 Min.

Eine Rezension alter und neuer Bücher.
 

Die Schulung
(BRD, 1987)
Regie: Harun Farocki.
Länge: 72 Min.

Ein Film über ein fünftägiges Seminar, in dem leitende Angestellte lernen sollen, sich selbst besser zu verkaufen. Der Managerkurs vermittelt Grundregeln von Dialektik und Rhetorik, trainiert Körpersprache, Gestik und Mimik.
Eine Sache verkaufen, das ist von jeher Prinzip der merkantilen Aktion. Die Idee, sich selbst feilzubieten, wurde durch die Verbindung von Psychologie und modernem Kapitalismus perfektioniert. (Lutz Hachmeister)
 

Der Wahlhelfer
(BRD, 1967)
Regie: Harun Farocki.
Länge: 14 Min.

Der Wahlhelfer behandelt die Entwicklung eines jungen Gerichtsrefe- rendars und FDP-Anhängers zum Revolutionär. Da es sich um einen Agitationsfilm handelt, kann von einer 'Entwicklung' natürlich nicht die Rede sein. Die politische Verbesserung Harald Lochs vollzieht sich vielmehr 'sprunghaft' so wie ab Mitte der sechziger Jahre alles 'sprunghaft' verläuft: der Volkskrieg in Vietnam, die Zuspitzung der Klassenkämpfe in der BRD und Westberlin, die Transformation des SDS von einer (bereits abgehängten) Unterorganisation der SPD zur Sturmspitze der außerparlamentarischen Opposition und die Verschärfung der Widersprüche zwischen Studenten und Administration an der DFFB.
Neben der Geschichte von der Politisierung eines jungen Mannes erzählt der Film etwas über Kreuzberg, über die Probleme der FDP in einem traditionellen Berliner Arbeiterbezirk und über eine Liebe in Algerien. Es lohnt sich somit, ihn genauer zu betrachten. (Klaus Kreimeier)
 

Georg K. Glaser – Schriftsteller und Schmied
(BRD, 1988)
Regie: Harun Farocki
Länge: 44 Min.

Georg K. Glaser ist Arbeiter-Schriftsteller. Auch im wörtlichen Sinn: den Vormittag verbringt er am Schreibtisch, vom Mittag an ist er in seiner Ladenwerkstatt im Pariser Viertel Marais. Dort stellt er Schalen, Lampen, Vasen, Krüge und andere Metallarbeiten her. Er beherrscht Arbeitstechniken, die kaum noch ein anderer Schmied ausführen kann. 1910 in der Nähe von Worms geboren, riß Glaser früh von zu Hause aus und ging auf Wanderschaft, kam in Erziehungsheime und schloß sich den Kommunisten an. 1933 ging er in den Untergrund und flüchtete über das Saargebiet nach Frankreich. Dort bürgerte er sich ein, arbeitete bei den Staatsbahnen, wurde 1939 eingezogen und war bald in deutscher Gefangenschaft.
Über Jahre musste er einen Franzosen spielen, der gut Deutsch kann. Nach Flucht und Straflager kehrte er nach Paris zurück und ging bei Renault arbeiten. Er fand die Arbeit am Fließband unerträglich und menschenunwürdig. So hat Glaser vor beinahe 40 Jahren einen Handwerksbetrieb eröffnet, um in Gedanken und Praxis Kritik zu üben. Er verbindet die Handarbeit und das Schreiben und verweist dabei auf das französische Wort für Handwerker (artisan: da ist die Silbe art = Kunst enthalten, die Kunst ist noch nicht von der Arbeit getrennt). (Harun Farocki)
 

Arbeiter verlassen die Fabrik
(Deutschland, 1995)
Regie: Harun Farocki
Länge: 36 Min.

Die erste Kamera in der Geschichte des Films war auf eine Fabrik gerichtet, aber nach hundert Jahren läßt sich sagen, daß die Fabrik den Film kaum angezogen, eher abgestoßen hat. Der Arbeits- oder Arbeiterfilm ist kein Hauptgenre geworden, der Platz vor der Fabrik ist ein Nebenschauplatz geblieben. Das Werkstor formiert die von der Arbeitsordnung vergleichzeitigten Arbeiterinnen und Arbeiter, die Kompression erzeugt das Bild einer Arbeiterschaft.
Es ist augenscheinlich, wird aus der Anschauung gewonnen oder in ihr wiedergewonnen, dass die durch das Werktor Tretenden etwas Grundsätzliches gemeinsam haben. Das Bild ist nahe am Begriff, und deshalb ist dieses Bild zu einer rhetorischen Figur geworden. Man findet diese in Dokumentationen, in Industrie- und Propagandafilmen, oft mit Musik unterlegt und/oder Worten unterlegt, dem Bild ist ein Wortsinn wie "Ausgebeutete", "Industrieproletariat", "Arbeiter der Faust" oder "Massengesellschaft" eingetragen.
Nachträglich, nachdem wir gelernt haben, wie Filmbilder nach Idee greifen und von diesen ergriffen werden, nachträglich sehen wir, dass die Entschiedenheit der Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter repräsentativ ist, dass die sichtbare Menschenbewegung stellvertretend steht für die abwesenden und unsichtbaren Bewegungen der Güter, Gelder und Ideen, die in der Industrie zirkulieren. Schon in der ersten Bilderfolge wird die Hauptstilistik des Films begründet. Zeichen werden nicht in die Welt gesetzt, sondern im Wirklichen aufgegriffen. Als teile die Welt aus sich heraus etwas mit. (Harun Farocki)
 

Videogramme einer Revolution
(Deutschland, 1992)
Regie: Harun Farocki und Andrei Ujica.
Länge: 106 Min.

Der Herbst 1989 blieb uns im Gedächtnis als eine Abfolge visueller Ereignisse: Prag, Berlin, Bukarest. Den Bildern nach war die Geschichte wiedergekehrt. Wir sahen Revolutionen. Und das vollständigste Revolutionsszenario lieferte Rumänien, Einheit von Zeit und Ort inbegriffen. In nur zehn Tagen und nur zwei Städten spielte sich alles ab: Aufstand des Volkes, Sturz der Macht, Hinrichtung der Herrscher. Nach einem ersten Aufruhr in Temesvar, bei dem es der Regierung noch gelang, die Stadt zu isolieren, vollzog sich der Umsturz in Bukarest; in der Hauptstadt und vor der Kamera. Denn dort wurde der TV-Sender von Demonstranten besetzt, blieb etwa 120 Stunden auf Sendung und etablierte einen neuen historischen Ort: Das Fernsehstudio.
Zwischen dem 21.12. 1989 (der letzten Rede Ceausescus) und dem 26. 12. 1989 (der ersten TV-Zusammenfassung seines Prozesses) nahmen die Kameras die Ereignisse an den wichtigsten Schauplätzen in Bukarest fast vollständig auf. Das bestimmende Medium eines Zeitabschnittes prägte schon immer die Geschichte. Die europäische Neuzeit eindeutig. Sie wurde vom Theater beeinflusst, von Shakespeare bis Schiller, danach von der Literatur, bis Tolstoi. Wir wissen es, das 20. Jahrhundert ist filmisch. Aber erst die Videokamera und ihre erhöhten Möglichkeiten in Aufzeichnungsdauer und Mobilität kann den Prozess der Filmisierung von Geschichte vollenden. Vorausgesetzt, es gibt Geschichte. (Andrei Ujica).
 

Der Auftritt
(Deutschland, 1996)
Regie: Harun Farocki
Länge: 40 Min.

In der Werbebranche wird ein sprachlicher Ausdruck ausführlicher erörtert als in einem poetologischen Seminar und ein Bildmotiv tiefer ausgelegt als in einer ikonographischen Studie.
Bei der Inszenierung der Präsentation werden nicht nur die Mittel erörtert, sondern auch die Mittel zur Darstellung der Werbemittel. Ruft die gläubige Konzentration auf das Allerkleinste schon einen metaphysischen Schwindel hervor, so wird hier der doppelte Boden schwankend. (Harun Farocki)
 

Stilleben
(Deutschland, 1997)
Regie: Harun Farocki.
Länge: 96 Min.

In Stilleben werden Ausführungen, bestimmte Thesen und ideentheoretische Implikationen zu diesem Akt des Gegenstände-Abbildens gemacht. Was bedeutet das, eine Welt der Gegenstände auszuhalten, sich auf Gegenstände zu orientieren usw.?
Diese Blöcke von dokumentarischen Szenen stehen dem unkommentiert gegenüber, und die Hoffnung ist, dass man die Ideen der Kunstgeschichte auf die Werbung projiziert und die Unterschiede bemerkt, und umgekehrt solche Stilleben auch anders sehen kann, wenn man diesen merkwürdigen kultischen Aufwand, der bei diesen Produktionen an den Tag kommt, auf den heiligen Akt der Kunstrealisierung überträgt. (Harun Farocki)
 

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