Radtour durch das Dreiländereck
Grenzen existieren nur noch auf der Landkarte

Blick ins Umland vom Dreiländereck
Blick ins Umland vom Dreiländereck | Foto (Ausschnitt): Daniel Gerhards

Die Menschen in der Region um das Dreiländereck Deutschland-Niederlande-Belgien denken kaum noch darüber nach, dass sie Grenzen überwinden. Bei einer Radtour wissen viele gar nicht, durch welches Land sie gerade radeln. Rund um den Dreiländerpunkt gibt es viel zu entdecken.

Ganz viel Geschichte, ganz viel Identität, ganz viel Europa: Im Aachener Stadtwald, südwestlich von Aachen, liegt der Dreiländerpunkt. Dort stoßen Belgien, die Niederlande und Deutschland aneinander. Die Menschen reden deutsch, niederländisch und französisch – und verstehen sich trotzdem.

An diesem Ort ist es einfach, Grenzen zu überwinden – besonders mit dem Fahrrad. „Das ist ganz normal geworden, in den unterschiedlichen Ländern unterwegs zu sein. Die Grenzen sind ja schon lange offen“, findet Daniel Moselewski, 29 Jahre. Er ist zusammen mit Henning Schendekehl, 35 Jahre, mit dem Mountainbike aus Aachen zum Dreiländerpunkt gekommen. „Ich kenne das nur noch aus meiner Kindheit, dass es Schlagbäume und Schlangen an der Grenze gab. Wenn man jetzt durch den Wald fährt, weiß man gar nicht, ob man in Deutschland, Belgien oder den Niederlanden ist“, sagt Moselewski.

Nur Nummernschilder erinnern an die Grenze

So ist es an vielen Stellen in der Region, die sich in Anlehnung an ihre Flüsse Euregio Maas-Rhein nennt. Kein Schild, kein Stein markiert die Grenze. Nur die Nummernschilder an den Autos geben einen Anhaltspunkt: Gelb mit schwarzer Schrift haben die Niederländer am Fahrzeug, Weiß mit schwarzer Schrift steht für ein deutsches Kennzeichen und die Belgier haben rote Schrift auf weißem Grund.

Bezahlen, sich unterhalten – kein Problem. „Es ist leicht, sich zu verständigen. Die meisten Niederländer sprechen Deutsch“, erklärt Schendekehl. Und die Belgier sowieso. Die Belgier? Ja. Dieser Teil Ostbelgiens ist deutschsprachig. 75.000 Menschen leben in der 850 Quadratkilometer großen Region. Es gibt ein eigenes Parlament und einen Ministerpräsidenten.

Die Hauptstadt dieses kleinen Gliedstaats des belgischen Königreichs ist das 18.900 Einwohner große Eupen. Dort ist René Janssen Vorsitzender des Kulturvereins Chudoscnik Sunergia. Der Verein organisiert eins der größten Musikfestivals der Region, den Eupen Musikmarathon. Rund 8.000 Besucher kommen dazu jedes Jahr in die beschauliche belgische Stadt – „mehr als die Hälfte aus Deutschland“, sagt Janssen. Das liege auch daran, dass die Grenzen in den Köpfen der Menschen keine große Rolle mehr spielen. „Wir liegen gerade mal 20 Kilometer von der Aachener Innenstadt entfernt. Dazwischen gibt es zwar eine Landesgrenze, aber keine kulturelle Grenze. Wir fühlen uns Deutschland näher als dem restlichen Belgien“, sagt Janssen.

Steiler Weg zum Vaalser Berg

Eupen ist mit dem Fahrrad vom Dreiländerpunkt leicht zu erreichen. Dorthin fahren auch Broer van der Tuin, Renate van der Laan und ihr Sohn Joeri van der Tuin. Sie radeln 14 Tage lang durch die Region rund um das Dreiländereck. Ihre Route führt sie nach Monschau in der Eifel, ein deutsches Mittelgebirge südlich von Aachen, nach Spa in den belgischen Ardennen und nach Maastricht in den Niederlanden. An das Dreiländereck sind sie gekommen, weil sie den höchsten Berg der Niederlande erklimmen möchten: den Vaalser Berg. 327 Meter über dem Meeresspiegel liegt er. Für die Niederländer ist das hügelige Gebiet etwa so wie für die Deutschen die Alpen. „Für uns ist es etwas Besonderes, den Vaalser Berg hinauf zu fahren“, sagt Broer van der Tuin. Sie kommen aus der kleinen Gemeinde Westerland im Norden der Niederlande. „Wir liegen dort fünfeinhalb Meter unter dem Meeresspiegel“, ergänzt er.

Beim steilen Anstieg zum höchsten Punkt der Niederlande kommen selbst sportliche Mountainbike-Fahrer ins Schwitzen. Erst recht, wenn man, wie Familie Tuin, mit Reisegepäck unterwegs ist. „Wir haben ein Zelt, Stühle, einen Tisch und ein paar Kleidungsstücke dabei“, sagt Renate van der Laan. Insgesamt hat jeder der drei 15 Kilogramm Gepäck auf sein Rad geschnallt. Da wird der Anstieg zur echten Herausforderung.

Das ehemalige Vierländereck: Bordelle und Alkohol

Wie viele der rund 800.000 Besucher, die jährlich zum Dreiländerpunkt kommen, sieht auch die Familie erst auf den zweiten Blick, dass dies früher ein Vierländereck war. Bis ins frühe 20. Jahrhundert lag auch das weitgehend eigenständige „Neutral-Moresnet“ an der Grenze zu Deutschland, den Niederlanden und Belgien. Zwischen 1816 und 1919 existierte das Territorium rund um die heute belgische Kleinstadt Kelmis.

Nach dem Rückzug Napoleons konnten sich Niederländer und Preußen auf dem Wiener Kongress 1814 politisch nicht auf den Grenzverlauf einigen, beide wollten dort Galmei, einen wertvollen Bodenschatz, abbauen. So blieb das Gebiet neutral und wurde gemeinsam verwaltet. Aus dem kleinen Dorf Kelmis wurde eine Kleinstadt mit 80 Kneipen und Bordellen, zwei Casinos und regem Alkoholschmuggel. Allerdings war der Galmei bereits 1884 erschöpft, nachdem mehr als eine Million Tonnen des begehrten Erzes abgebaut waren. Heute gehört der Landstrich zu Belgien.

Krieg – nicht nur an der „Aachener Kaffeefront“

Schmuggel war in der Region um Aachen ohnehin lange ein florierendes Geschäft. Allerdings war die beliebteste Schmuggelware nach dem Zweiten Weltkrieg nicht alkoholhaltig. Die Schmuggler brachten säckeweise Kaffee über die Grenze. Einige liefen damit durch den Wald, andere fuhren gleich mit ganzen Lastwagen voller brauner Bohnen über die Grenze. Die Zöllner, die natürlichen Feinde jedes Schmugglers, ließen sich das allerdings nicht bieten. Sie rüsteten auf, legten „Krähenfüße“ genannte spitze Metallteile auf den Straßen aus und lieferten sich Verfolgungsjagden mit den Schmugglern. Irgendwann lohnte sich der Schmuggel nicht mehr. Der „Krieg an der Aachener Kaffeefront“ war vorüber.

Von militärischen Auseinandersetzungen zeugen im Wald rund um Aachen hingegen tonnenschwere Relikte. Wer mit dem Fahrrad von Aachen entlang an der belgischen Grenze durch den Forst fährt, kommt an den Beton-Höckern des Westwalls vorbei. Beim Anblick dieser Überbleibsel des Krieges wird sich Daniel Moselewski der historischen Bedeutung dieses Ortes bewusst. „Im Wald sieht man noch Panzersperren, alte Bunker und Bombenkrater. Man denkt dann schon darüber nach, was hier im Zweiten Weltkrieg los war“, sagt er.

Von Kohlenzechen zum Erholungsgebiet

Die freien Flächen südlich von Aachen und in Belgien werden heute landwirtschaftlich genutzt, vorwiegend als Weideland. Nördlich von Aachen und in den Niederlanden beherrschen große Getreide-, Raps- und Maisfelder das Landschaftsbild. Der wichtigste Wirtschaftsfaktor dieses Gebiets war allerdings lange der Bergbau. Noch heute gibt es zahlreiche Abraumhalden, die davon zeugen, dass einst tausende Menschen Kohle aus den Schächten an die Oberfläche beförderten. Die meisten Zechen schlossen bereits in den 1970er-Jahren wieder – etwa in den niederländischen Städten Heerlen und Kerkrade. Mittlerweile sind sie alle dicht. Geblieben sind die grün bewachsenen Abraumberge. Sie werden oft als Naherholungsgebiet genutzt. Die Aachener Region versteht sich mittlerweile eher als Wissenschafts- und Technologiestandort. Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule in Aachen hat Exzellenz-Status. Dort studieren weit über 30.000 junge Leute, die meisten in technischen Fächern.

Früher Kontrollposten, heute Rastplatz

Jeroen Veldman hat für solche Betrachtungen gerade keine Zeit. Er ist mit seinem Rennrad vom Dreiländereck in Richtung Belgien unterwegs. „Ich trainiere für das Radrennen Lüttich-Bastogne-Lüttich“, sagt der 31-jährige Niederländer. „Ich mag es, die Berge mit dem Rad hochzuklettern. Der Rest der Niederlande ist ja fast vollkommen flach.“ 80 Kilometer möchte er an diesem Tag fahren. Dabei kommt er vorbei am Grenzübergang Köpfchen. Das Gebäude war früher ein Kontrollposten. Heute macht Veldman hier Rast. Es gibt ein Café und der Verein „KuKuK – Kunst und Kultur im Köpfchen“ hat dort Ausstellungsräume. An der Stelle, an der Deutschland und Belgien früher strikt getrennt waren, ist heute ein „kulturelles Verbindungsglied“ zwischen beiden Ländern entstanden.

Direkt neben dem ehemaligen Kontrollposten hat Jenny Theelen ihren Stand aufgebaut. Die 25-jährige Belgierin verkauft dort Obst und Gemüse aus der Region. „Hier kommen Deutsche, Belgier und Niederländer mit dem Rad, dem Auto oder zu Fuß vorbei. Der Ort hat so viel Kultur und Geschichte“, erklärt sie. Kaum noch zu spüren, dass diese Grenze mal dicht war, dass Zöllner rigoros kontrollierten. „Wahnsinn, das kann ich mir gar nicht mehr vorstellen“, sagt Theelen.

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