Social Media
Fluch und Segen
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist eine Säule der Demokratie. Aber was geschieht, wenn die wichtigste Informationsquelle und der wichtigste Raum für freie Meinungsäußerung – das Internet – für antidemokratische Ziele genutzt wird?
Von Dan Gillmor
Sind soziale Medien ein Fluch oder ein Segen für die Demokratie? Sind traditionelle Medien Fluch oder Segen? Und ist die Erstellung von Inhalten durch künstliche Intelligenz (KI) ein Fluch? Oder ist sie ein Segen?
Die Antwort auf all diese Fragen lautet: Ja.
Aber fragen wir doch lieber: Sind die Menschen in den Demokratien der Welt willens, die zahllosen Nuancen zu erkennen, die sich in der immer komplexeren Debatte über den Einfluss „der Medien“ auf unsere Gesellschaften ergeben?
Die Antwort auf diese Frage ist noch nicht klar. Bisher war unsere kollektive Antwort jedoch bestenfalls: Vielleicht.
Wenn wir verstehen wollen, wie verschiedene Medien die liberale Demokratie prägen – darunter die Bürgerrechte, -pflichten und die Beteiligung der Bürger*innen – müssen wir zunächst den Medienwandel der vergangenen Jahrzehnte verstehen. Der Übergang von der analogen zur digitalen Welt hat unsere öffentlichen Debatten geprägt und unseren Wissensstand verändert, was viele positive Folgen hat. Doch die Explosion politisch motivierter Fehlinformationen zeigt, dass es auch sehr negative Konsequenzen gibt.
Demokratisierung der Medienproduktion
Das Internet hat sich einen Großteil dessen einverleibt, was wir früher als Printmedien und Rundfunk bezeichneten. Nach wie vor gibt es Publikationen, Radio, Fernsehen, Film und andere Medienarten. Aber sie werden zunehmend digital produziert und verbreitet. Die Medien des 20. Jahrhunderts kann man sich als ein Produktionsmodell vorstellen, in dem Menschen Dinge herstellen, die sie dann an Nutzer*innen ausliefern.
Das Medienmodell des 21. Jahrhunderts ist radikal anders. Es verbindet das Produktions- und Vertriebssystem und erweiterte es in einer Weise, die ohne das Internet nicht möglich gewesen wäre, zumindest nicht in der heutigen Dimension. Der Aufstieg des Internets beruht vor allem auf einer Dezentralisierung der Kontrolle. Die Medien, das waren ab jetzt nicht mehr nur einige Unternehmen, welche die Mehrzahl der Menschen versorgt haben. Die Medienwelt hat sich zu einem System entwickelt, in dem es eine Vielzahl von Medien und eine Vielzahl von Nutzer*innen gibt. Es wird unterschätzt, wie entscheidend sich dadurch der Vertriebsweg verändert hat: Heute produzieren wir Medieninhalte, stellen sie irgendwo online und fordern die Leute auf, sie sich zu holen.
„Die Tools zur Medienproduktion sind durch und durch demokratisiert und werden immer leistungsfähiger.“
Der Schlüsselbegriff lautet hier „Produktion“: Wir sind alle zu Medienschaffenden geworden. Wir können potenziell großen Zielgruppen erzählen, was wir wissen. Die Tools zur Medienproduktion sind durch und durch demokratisiert und werden immer leistungsfähiger. Selbst der einfache Akt des Teilens über soziale Medien ist eine kreative Handlung, deren Folgen wir gerade erst zu verstehen beginnen.
Die Demokratisierung der Produktion und des Zugangs zu Medieninhalten hat viele enorm positive Folgen – nicht zuletzt können die Menschen nun wichtige Informationen in kleinen Gruppen teilen, die etwa einen gemeinsamen Wohnort oder gemeinsame Interessen haben. Da der traditionelle Lokaljournalismus geschrumpft ist, sind Facebook-Gruppen und andere örtliche Dienste zu wichtigen Treffpunkten geworden, über die Menschen einander auf dem Laufenden halten. Manche solcher Online-Treffpunkte mögen in Streitereien münden, aber wie so vieles im Internet – Wikipedia ist ein Paradebeispiel – bieten sie uns vor allem leicht zugängliche Informationen und Wissen, auf das wir vor dem Internet keinen Zugriff hatten.
Vertrauensverlust in Medien
So wie es mit allen neuen Technologien in der Geschichte war, so ist es auch mit dem Internet: nicht nur die Gutwilligen nutzen es. Die ausgefeilten, mächtigen Werkzeuge der Medienproduktion und -verbreitung gehören jetzt auch zum Arsenal gefährlicher Menschen.
Die Böswilligen haben sich schnell auf die sozialen Medien gestürzt. Soziale Medien sind für viele Menschen zum wichtigsten Tool geworden, um Informationen zu erhalten und die eigene Umgebung zu verstehen. Wohin man blickt, starren Menschen auf ihre Telefone und holen sich Neuigkeiten aus den sozialen Medien. Gewiss: Die Inhalte, die sie über diese Plattformen erhalten, stammen häufig aus den traditionellen Medien. Aber welche dieser Inhalte auf ihrem Bildschirm landen, das bestimmen die Social-Media-Unternehmen durch ihre Algorithmen, sowie Menschen, die über die Plattformen Informationen verbreiten – mitunter mit böswilligen Absichten.
Die böswilligen Akteure nutzen diese immer flexibleren Tools, um das Vertrauen der Menschen in Informationen allgemein zu untergraben – natürlich abgesehen von dem, was Demagog*innen ihren Sektenanhänger*innen erzählen. Sie sind Ideolog*innen und Saboteur*innen, die mitunter staatlich unterstützt werden. Auch sie haben ein Recht auf freie Meinungsäußerung – zumindest in den USA. Und sie zählen darauf, dass die Plattformen, deren Geschäftsmodell auf Interaktion beruht, zögern werden, Beiträge von Benutzer*innen tatsächlich zu entfernen
„Böswillige Akteure nutzen Social Media, um das Vertrauen der Menschen in Informationen allgemein zu untergraben.“
Da die Plattformen aber eine nie dagewesene Größe erreicht haben, sind sie zu zentralen Akteuren in einer zunehmend re-zentralisierten Medienwelt geworden. Wir müssen also fragen: Wollen wir Meta (u. a. Eigner von Facebook, Instagram und WhatsApp), Google (YouTube), Twitter, TikTok und andere riesige Unternehmen als Chefredakteure des Internets akzeptieren? Immer mehr Leute fordern das.
Die Social-Media-Betreiber haben auf diese Forderungen reagiert und lassen Inhalte, die sie als extremistisch oder gefährlich einstufen, größtenteils entfernen. Das ist ihr Recht und, wie es immer wieder heißt, auch ihre Pflicht. Sie haben aber auch offensichtlich wichtige Medieninhalte gelöscht, wie etwa Videobeweise von Menschenrechtsverletzungen, die Aktivist*innen und Opfer veröffentlicht haben. Kritiker*innen der Social-Media-Unternehmen verlangen das Unmögliche – von Benutzer*innen gepostete Inhalte lassen sich nicht in großem Stil moderieren – und scheinen sich weitgehend mit den Kollateralschäden abzufinden. Indes ist es immer noch recht einfach, online Videos von bösartigen Lügner*innen zu finden, die die öffentliche Debatte vergiften wollen. Ganz zu schweigen von roher Gewalt wie etwa Enthauptungen – die böswilligen Akteure haben ja auch noch andere Möglichkeiten.
Seit es Medien und Wahlen gibt, wird mit Propaganda und Lügen versucht, das Wahlverhalten zu beeinflussen. Doch die digitale Technologie gibt den Böswilligen neue Werkzeuge an die Hand. So zeigen Dokumente, die jüngst Journalist*innen zugespielt wurden, wie das inzwischen berüchtigte „Team Jorge“ sich brüstete, verschiedene Wahlen mit raffinierten Desinformations-Taktiken beeinflusst zu haben.
Äußerst nützlich und absolut entsetzlich
Als wäre das alles noch nicht genug, bedeutet nun die „generative künstliche Intelligenz (KI)“ – bisher am besten bekannt durch Tools wie ChatGPT, Bing AI und den Bildgenerator DALL-E – einen neuen Schock für das System. Die Chat-AI-Textbots werden von der Öffentlichkeit kaum verstanden. Sie können nicht eigenständig denken. Allerdings können sie – teils in beunruhigend flüssigem Stil – vorhersagen, welches Wort in einem Satz auf ein anderes folgen sollte. Sie prognostizieren dies anhand riesiger Datenbanken mit Informationen aus dem Internet und anderen Quellen, die in Large Language Models einfließen, mit denen KI-Unternehmen ihre Systeme und Medientools füttern.
Diese Tools – die Lügen genauso flüssig und überzeugend produzieren wie die Wahrheit – sind zugleich unterhaltsam, äußerst nützlich und grauenhaft. Zu den plausiblen Szenarios gehört, dass böswillige Akteure mithilfe dieser Tools immer überzeugendere, auf einzelne Personen zugeschnittene Lügen erzeugen werden.
Es tobt eine wütende Debatte, wie Fehlinformationen und böswillige Inhalte tradierte Normen der liberalen Demokratien und den Liberalismus aushöhlen können. Indessen haben die Demokratien dem böswilligsten aller Akteure viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet: den traditionellen Medienhäusern. Auch wenn sie nicht die einzigen Übeltäter sind, haben vor allem die Mediengesellschaften der Familie Murdoch gewaltigen Schaden angerichtet. Dokumente aus einem Verleumdungsprozess in den USA haben unmissverständlich gezeigt, was alle aufmerksamen Beobachter*innen ohnehin schon wussten: Fox „News“ hat den öffentlichen Diskurs absichtlich vergiftet, um an Geld und Macht zu kommen.
Was können Demokratien dagegen tun? Drakonische Zensur bestimmter Inhalte könnte das Informationsangebot verbessern, würde aber auch Personen treffen, die wichtige Inhalte zu teilen haben. Es wäre nur auf Kosten des Verlusts einer grundlegenden Freiheit möglich: der Freiheit zur freien Meinungsäußerung.
„Auf der Nachfrageseite geht es um Medienkompetenz – und die fördern wir in den meisten Demokratien noch lange nicht genug.“