Handwerk erhalten
Von Dhaka lernen: In einem Deutsch-Bangladeschischem Austauschprogramm denken junge Designer*innen Handwerk neu – als Schauplatz kultureller und sozialer Nachhaltigkeit
Von Anna Kessel
In aktuellen Diskursen um Nachhaltigkeit in der Mode- und Textilindustrie werden kulturelle Aspekte gerne übersehen. Ein genauer Blick lohnt sich allerdings: denn die Globalisierung von Mode und der Vormarsch schnell und billig produzierter Fast Fashion führen zum schleichenden Verlust textiler Handwerkstechniken – mit verheerenden Folgen nicht nur für kulturelles Erbe, sondern auch für die Zukunftsperspektiven entsprechend ausgebildeter Handwerker*innen. Im Austauschprogramm LOCAL INTERNATIONAL IV social design + crafts diskutieren teilnehmende Designer*innen und Studierende aus Berlin und Dhaka die Frage des lokalen Handwerks hinsichtlich seiner Rolle für kulturelle und soziale Nachhaltigkeit.
Textilien – einst ein teuer gehandeltes Gut
Mit den Effekten der voranschreitenden industriellen Entwicklung stirbt derzeit sowohl in Bangladesch als auch in Deutschland über Jahrhunderte entstandenes, manuelles Wissen aus. Dies betrifft u. a. den Textilsektor: Durch die Globalisierung von Mode und den stetigen Preisverfall von Textilien haben Qualität und Individualität der Produkte bei einkaufenden Unternehmen kaum noch Priorität, die Industrie setzt auf kostengünstige und schnelle maschinelle Produktion. Vor allem in Bangladesch, einem Land, in dem die manuelle Produktion von Textilien historisch wie auch heute eine wichtige Einkommensquelle darstellt, stehen Handwerksbetriebe und Kunsthandwerker*innen angesichts des immer weiter steigenden internationalen Preisdrucks vor der Entscheidung, ihre Produktion zu industrialisieren – oder das traditionelle Handwerk ganz aufzugeben.Es ist unvermeidlich, dass sich der Blick in den Online-Seminaren zwischen Berlin und Dhaka im Sommer 2020 deshalb stark auf Bangladesch richtet. Das zeigt sich auch in der Auswahl der eingeladenen Gäste, vor allem aber in deren Erzählungen, die deutlich machen: Die aktuelle Dringlichkeit, ökonomische Perspektiven für eine gerade in ländlichen Gebieten infrastrukturell schwache Nation zu entwickeln, kann nicht ohne einen Blick auf koloniales Erbe diskutiert werden.
Repräsentant*innen des National Crafts Council of Bangladesh: FARZANA YUSUF, CHANDRA SHEKHAR SHAHA, SHEIKH SAIFUR RAHMAN (Uhrzeigersinn) © IstelaIllustrated
Lokales Handwerk bewahren
Im Fokus des Austausch-Programms, das sich in der vierten Edition sozialem Design und Kunsthandwerk widmet, steht dabei erst einmal ganz praktisch der Blick auf die Handwerksgeschichte Bangladeschs. Chandra Shekhar Shaha, selbst Designer und eingeladen in seiner Rolle als ehemals Vorsitzender und derzeitiges Mitglied des Exekutivkomitees des National Crafts Council of Bangladesh, gibt den Teilnehmenden einen generellen Überblick über historische Handwerks-Bereiche Bangladeschs und bringt ihnen gemeinsam mit Sheik Saifur Rahman, Generalsekretär des Crafts Council, die wichtigsten textilen Techniken wie „Jamdani“ und „Nakshi Kantha“ näher. Jamdani, eine der wertgeschätzten Web-Techniken Bangladeschs, ist – hier wird die Aktualität des Diskurses deutlich – erst seit 2013 auf der Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit, welche die UNESCO im Rahmen des Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes seit 2008 erstellt.Wie prekär es um einige traditionelle Webtechniken Bangladeschs steht erzählt Nawshin Khair, Gründerin der Bengal Crafts Society. Denn nicht nur das Fast Fashion Phänomen des vergangenen Jahrzehnts hat die Abwendung von aufwändiger Textilproduktion in Bangladesch stark befeuert, bereits die koloniale Herrschaft durch Großbritannien, die mit starken ökonomischen Zäsuren einherging, habe von 1858 bis in die 1970er Jahre zum immer weiter voranschreitenden Verlust handwerklichen Wissens geführt. Hiergegen engagiert sich Nawshin Khair aktiv mit der Bengal Crafts Society. Die Non-Profit Organisation ist heute eine gewinnbringende Ergänzung zum Fair Trade Label Aranya, das sich der erfolgreichen Vermarktung des Handwerks-Sektors in Bangladesch verschrieben hat und dessen Vorsitz Khair innehat. 2016, ein Jahr nachdem sie die Leitung von Aranya übernahm, gründete Khair die Organisation, um die Förderung von lokalem Handwerk in infrastrukturell schwachen Gegenden weiter auszubauen und dabei die Erhaltung und Erforschung traditioneller Handwerkstechniken voranzubringen.
Nawshin Khair #craftforconservation #aranya_crafts #creativeconservationalliance #bdcraft_society © IstelaIllustrated
„Letztes Jahr,“ erzählt sie, „haben wir z. B. mit dem National Crafts Council of Bangladesh und Unternehmen wie Aranya daran gearbeitet, eine besonders feine Variante des Jamdanis, auch als Dhaka Musselin bekannt, wiederzubeleben.“ Unter der Zäsur britischer Kolonialherrschaft ging das technische Wissen verloren, Jamdani mit so feinen Garnen einer Fadenzahl von 600 bis hin zu 1.000 zu weben. Auch der Anbau der für die Herstellung der Garne benötigten Baumwollsorte, dem sogenannten puthi cotton, stagnierte. Heute sei zwar die Tradition von Jamdani noch sehr lebendig, aber die Textilien überschritten selten eine Fadenzahl von achtzig. „Um die verloren gegangene Technik des feinen Jamdanis wiederzubeleben, haben wir mit lokalen Weber*innen zusammengearbeitet. Wir gaben ihnen handgesponnenes Garn einer Fadenzahl zwischen 200 und 400, also sehr viel feiner als das, was aktuell beim Weben von Jamdani genutzt wird. Und wir haben Forschungsreisen zum V&A Museum in London unternommen, uns dort in der Sammlung die Motive aus dem 16. Jahrhundert angesehen und dann versucht, diese nachzubilden.“
Die Bewahrung und das Wiederbeleben von Handwerk, das wird vor allem in Khairs Erzählungen deutlich, erfolgt zuallererst über dessen Dokumentation – und diese führt u.a. auch in die Museen ehemaliger Kolonialmächte.
Restauration mit Zukunftsperspektive
Warum der Ansatz von Nawshin Khair und dem National Crafts Council of Bangladesh auch über die Wiederbelebung historisch verlorengegangener Techniken hinaus so wichtig ist? Handwerk ist nicht nur mit kulturellen Traditionen verbunden, sondern eröffnet vor allem ökonomische Perspektiven. Deshalb liegt es heute im Interesse immer mehr nationaler sowie internationaler Institutionen, dörflichen Gemeinschaften durch traditionell überliefertes Wissen von textilen Techniken ein Auskommen zu sichern – vor allem auch unter der Hinsicht, dass durch globale Veränderungen bisherige Einnahmequellen, wie Landwirtschaft wegbrechen.Das Problem, welches Anna Heringer, die Gründerin hinter dem in Bangladesch ansässigen Unternehmens Dipdii Textiles, sieht: Von internationalen NGOs werden vor allem Frauen dazu bestärkt, im Sinne der eigenen Unabhängigkeit ihr handwerkliches Wissen als ökonomisches Gut auf den Markt zu bringen. Nakshi Katha, die traditionelle Nadelstichstickerei Bangladeschs, ist z.B. nicht nur kulturhistorisches Ausdrucksmittel und in Stickerei erzählte Geschichte – es wird auch von Generation zu Generation von Müttern an ihre Töchter weitergegeben und stellt für Frauen eine Fähigkeit dar, die ihnen zu ökonomischer Unabhängigkeit verhelfen könnte. Nicht selten führen solche weiblichen Biografien allerdings in die modernen Textilfabriken, wo sie als billige Arbeitskraft ausgebeutet werden und für die sie zudem ihre dörfliche Infrastruktur hinter sich lassen müssen. Die Folge: Verlust der sozialen Infrastruktur und anfallende Ausgaben für angemietete Wohnungen und Kinderbetreuung. Arbeitsperspektiven innerhalb des Systems zu schaffen, das überhaupt erst dazu geführt hat, dass sich ökonomischen und infrastrukturellen Bedingungen in ländlichen Gebieten so verschlechtert haben? Heringer, die eine Honorar Professur am UNESCO Chair for Earthen Architecture, Building Cultures and Sustainable Development innehat, möchte zeigen, dass es anders geht. Gemeinsam mit der in Bangladesch ansässigen NGO für ländliche Entwicklung Dipshikha, ihrer Co-Gründerin Veronika Lang und ihrer heutigen Projektmanagerin Lucía Perianes schafft sie deshalb mit Dipdii Textiles Arbeitsplätze für Kunsthandwerker*innen. Wie auch bei Aranya und der Bengal Crafts Society ermöglichen diese eine dezentrale Produktion innerhalb der eigenen Dörfer und Communities, den Erhalt der sozialen Netzwerke und damit auch über ein angemessenes Einkommen hinaus eine hohe Lebensqualität.
Dipdii Textiles, METI Handmade School, Rudrapur © IstelaIllustrated
Handwerk als Motor strukturellen Wandels – ein Ausblick
Nawshin Khair, Anna Heringer, aber auch Kooperativen wie die bereits erwähnte Living Blue und Labels wie SICA gehen mit gutem Beispiel voran zu fragen: Was wäre, wenn man* lokales Handwerk nicht lediglich als zu erhaltendes kulturelles Gut, sondern als Chance und Motor für strukturellen Wandel begreift? Welche Herausforderungen einer jeden Unternehmerin dabei im Weg liegen, ist für die jungen Designer*innen im Austauschprogramm LOCAL INTERNATIONAL natürlich besonders interessant – schließlich arbeiten sie aktiv darauf hin, eigene Lösungsansätze zu entwickeln und dabei eine Textilindustrie mitzugestalten, die neben der ökologischen auch die kulturelle und soziale Nachhaltigkeit zur obersten Prämisse hat.Farzana Yusuf, eine Designerin, die u.a. auch für das National Crafts Council of Bangladesh tätig ist und 2020 an LOCAL INTERNATIONAL teilnimmt, hat bereits Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit lokalen Handwerksbetrieben sammeln können, die sie nun durch den Austausch mit anderen Design-Schaffenden vertiefen konnte. Ihr Fazit: als zeitgenössische Designer*in möchte sie traditionellem Handwerk und entsprechend ausgebildeten Handwerkerinnen mit Respekt und dem Wille zum wirklichen Verstehen der Technik gegenübertreten. „Um überhaupt auch nur minimale Änderungen an den Handwerksprozessen und Designs vornehmen zu können müssen wir erst einmal wertschätzen, dass vor allem erfolgreiche Methoden und Modelle den Test der Zeit überstanden haben – z.B. welche Rohstoffe verwendet werden, wie die Produktionsprozesse zeitlich abgestimmt sind, die Kultur, Bräuche und die traditionellen sozialen Hierarchien, die einer Technik anhaften und diese traditionell weitertrugen. Die Ebene der Interaktion muss aus dem Wunsch einer gemeinsamen Weiterentwicklung mit gegenseitigem Respekt bestehen.“
Traditionen bewahren, und zeitgenössische Perspektiven für diese finden – auch in Berlin blickt Lobke Beckenfeld, Studentin der weißensee kunsthochschule dieser Aufgabe optimistisch entgegen: „Handwerk,” so glaubt sie „wird in Zukunft eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft spielen – gerade im Bezug auf das Vorantreiben nachhaltiger Gestaltungsprinzipien.“ Als Designerin ist für sie dabei von besonderem Interesse Handwerk zukunftsorientiert so zu gestalten, dass sich manuelle Techniken mit automatisierter Produktion vereinen lassen. Dafür bräuchte es interdisziplinäre Perspektiven. Ein paar Beispiele aus dem Seminar, verrät sie, haben sie bereits inspiriert an einem eigenen Projekt zu arbeiten.