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Deutsch-deutsche Fußballgeschichte
In den Staaten getrennt, durch den Fußball vereint

Die Mannschaften der Bundesrepublik Deutschland und der DDR nehmen am 22.06.1974 im Hamburger Volksparkstadion vor dem Gruppenspiel der Fußball-WM Aufstellung für die Hymnen.
© picture-alliance / dpa | Werner Baum

Ronald Reng hat ein Fußballbuch geschrieben, das weit mehr als Fußball zum Thema hat. Mit 1974 – Eine deutsche Begegnung ist ihm ein lebendiges Sittengemälde des geteilten Deutschlands in den 1970er-Jahren gelungen.

Von Hendrik Nolde

Am 22. Juni 2024 werden im Hamburger Volksparkstadion die Nationalmannschaften Georgiens und Tschechiens ein Vorrundenspiel der Fußball-Europameisterschaft bestreiten. Ob jemand über dieses Spiel in 50 Jahren ein Buch schreiben wird, darf bezweifelt werden. Vermutlich wird es deutlich weniger Gesprächsstoff liefern als das Weltmeisterschaftsspiel, das am 22. Juni 1974 an gleicher Stelle stattfand: Bundesrepublik Deutschland gegen Deutsche Demokratische Republik. Ein historisch einzigartiges Ereignis, denn nur an diesem einen Juniabend trafen die beiden deutschen Staaten auf dem Fußballplatz überhaupt aufeinander. Grund genug für den Sportjournalisten Ronald Reng, einmal genauer hinzuschauen. Mehr als drei Jahre hat er intensive Gespräche mit Zeitzeugen aus Ost und West geführt und ist tief in die Archive Gesamtdeutschlands eingetaucht. Entstanden ist mit 1974 – Eine deutsche Begegnung ein Sachbuch der Extraklasse, das sich hervorragend liest und scheinbar keine Frage offenlässt – über den Fußball und weit darüber hinaus.

Über den Sport vom Leben erzählen

Rengs Arbeitsweise besteht laut eigener Aussage darin, dass er sich mit Enthusiasmus in die Themen seiner Bücher verbeißt. Im Podcast Fußballfrequenz beschreibt der Autor das Ziel seines neuen Buches damit, „dass ich über dieses eine Fußballspiel auffächere, wie das Leben in beiden deutschen Staaten 1974“ war. Die Leser*innen profitieren von Rengs Detailverliebtheit. Sie erfahren eine Fülle an vermeintlichen Kleinigkeiten über das alltägliche Leben, die in ihrer Gesamtheit ein beeindruckendes Panorama ergeben, das weit über die auserzählten Klischees der deutschen Teilung hinausreicht. Erzählt wird von Mode und Freizeitgestaltung, Arbeit und ökonomischen Verhältnissen, kulturellem und gesellschaftlichem Leben auf beiden Seiten der Mauer.

Der Fußball kommt dabei keinesfalls zu kurz. Die neunzig Minuten von Hamburg bilden den Kern der Erzählung, zu dem Reng – aller anekdotischen Abzweigungen zum Trotz – immer wieder zurückkehrt. Das Buch begleitet beide Mannschaften von ihren Trainingslagern bis zum geheimen Trikottausch in den Katakomben nach dem Spiel. Ausführlich wird auf den glücklosen Auftritt Günter Netzers als Einwechselspieler – die einzigen 20 WM-Minuten seiner Karriere – eingegangen und auf das Schicksal des DDR-Torschützen Jürgen Sparwasser, der noch Jahrzehnte später immer nur von diesem einen Tor berichten muss. Viel interessanter sind jedoch die Einblicke in die Lebensverhältnisse der mit dem Fußball verbundenen Protagonisten – Spieler, Berichterstatter, Funktionäre – in Ost und West. Reng zeigt dabei unvermutete Gemeinsamkeiten auf, ohne sich zu scheuen, auf eklatante Unterschiede aufmerksam zu machen. Der Verzicht auf Plakativität und der Mut zur nuancierten Betrachtung gehören zu den größten Stärken seines Buches.

Gegen Kollektivbetrachtungen

1974 lebt von den porträtierten Personen, die häufig auf den ersten Blick kaum etwas mit dem deutsch-deutschen Spiel oder dem Fußball überhaupt zu tun haben. Die Ostberliner Schauspielerin Jutta Wachowiak etwa, die am Abend des 22. Juni am Deutschen Theater Teil der Inszenierung von Die neuen Leiden des jungen W. ist – ein Stück das symbolisch für einen kurzlebigen kulturellen Frühling in der DDR steht. Oder die Hamburger Kommunistin Doris Gercke, die vor dem Stadionbesuch als Reiseführerin für die handverlesenen Schlachtenbummler aus Ostdeutschland firmiert. Sie wird nie wieder ein Fußballspiel besuchen, aber später eine erfolgreiche Krimiautorin werden. Reng ist der Überzeugung, dass „Pauschalisierungen der Wahrheit nicht gerecht werden. Jeder Mensch verdient es, individuell betrachtet zu werden.“ Genau das tut er mit all seinen Gesprächspartner*innen – egal ob es sich um den DDR-Oppositionellen Ronald Jahn handelt oder um den geläuterten RAF-Terroristen Klaus Jünschke. Mit Empathie und ehrlichem Interesse, aber keinesfalls naiv, beschreibt er ihre Lebenswege und nimmt sich die Zeit, diese weit über 1974 hinaus nachzuzeichnen.

Rengs Protagonist*innen sind geschickt gewählt, denn sie verraten viel über das Zeitgeschehen. Der kleine Junge beispielsweise, der seinem Vater am nächsten ist, wenn er ihm dabei helfen kann, im Fernsehen trotz Ahnungslosigkeit wie ein Fußballfachmann zu wirken. Kanzlersohn Matthias Brandt wird als ganz normaler westdeutscher Junge beschrieben, der im Bonner Vorgarten mit seinen Freunden Fußball spielt – wenn auch im Trikot von Partizan Belgrad, das ihm der jugoslawische Präsident Tito bei einem Staatsbesuch als Geschenk mitgebracht hat. Seine Erinnerungen an die Fußball-WM 1974 sind von der Angst getrübt, doch nicht wie erhofft ein Spiel im Stadion sehen zu können – schließlich ist sein Vater nur wenige Wochen zuvor im Zusammenhang mit der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume als Bundeskanzler zurückgetreten.

Das Fußballspiel ging übrigens 1:0 für die DDR aus, war aber sportlich nicht von Belang, da sich beide Mannschaften bereits für die nächste Runde qualifiziert hatten. Im Westen ärgerte man sich ein paar Tage, zog aber seine sportlichen Schlüsse und wurde später Weltmeister. Im Osten freute man sich insgeheim, ordnete aber allgemeine Gleichgültigkeit an, um die Bedeutung des Sieges über die BRD nicht unnötig aufzuwerten. Es sollte eben wie ein ganz normales Spiel wirken und nicht wie ein epochales Ereignis, über das ein halbes Jahrhundert später jemand ein Buch schreiben würde.
 
Ronald Reng: 1974 – Eine deutsche Begegnung
München: Piper, 2024. 432 S.
ISBN: 978-3-492-07219-9

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