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Ideal und Ernüchterung
Indien in der deutschen Literatur

Die Schreibmaschine des Schriftstellers Hermann Hesse im Hermann Hesse Museum, Montagnola, Tessin, Schweiz.
Die Schreibmaschine des Schriftstellers Hermann Hesse im Hermann Hesse Museum, Montagnola, Tessin, Schweiz. | © Altrendo Images

Indien ist für viele deutschen Schriftsteller des 20. und 21. Jahrhunderts ein Sehnsuchtsort. Doch auch andere Rezeptionen lassen sich beobachten. Das macht Neugierde auf Kommendes.

Von Krisha Kops

Egal, ob Literatur, Philosophie oder Sprache: Es herrscht seit jeher ein besonderes Verhältnis zwischen „Indo-Germanien“. So schreibt Friedrich Schlegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwas, das nicht nur für die Romantiker paradigmatisch ist, sondern für die Rezeption Indiens von der Antike bis in die Gegenwart: „Welche neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen [...]. Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen, d. h. das tiefste und innigste Leben der Fantasie“. Indien gilt unter deutschen Intellektuellem als das Fantasievolle, das Traum- und Zauberhafte, das Ursprüngliche, manchmal gar Ideale, nach dem man sich sehnt.

Durch den Alexanderroman sowie Fabeln wie das Pañcatantra und andere Schriften gelangt diese Vorstellung bis nach Deutschland. Gewissermaßen gilt das auch für das Indienbild in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Allein die Themenwahl spiegelt diese Sehnsucht. Nicht das moderne Indien steht im Vordergrund. Hier geht es vor allem um das vergangene Indien der Krieger, Könige und Geistlichen. In Alfred Döblins Roman Manas (1927) etwa ist der gleichnamige Protagonist ein Fürsten-, in Hermann Hesses Siddhartha (1922) ein Brahmanensohn.

Indien als Projektionsfläche für deutsche Diskurse

Dabei dient Indien als Austragungsort für die heimischen Konflikte. Oft sind es Fragen der Spiritualität und des Glaubens aus einem Deutschland, in dem Gott tot ist – oder zumindest im Begriff zu sterben. Es kann sich auch um Identitätsfragen handeln wie in Thomas Manns Die vertauschten Köpfe (1940). Später ist es Ernst Wiechert in seinem während des Nationalsozialismus verfassten Roman Der weiße Büffel (1946), der den Stoff des alten Indiens dazu verwendet, Kritik an der Despotie zu üben.

Nicht selten wird bei diesen Auseinandersetzungen die eigene Weltanschauung hinzugemischt. Zum Beispiel die Dialektik zwischen Himmel und Hölle, die dem Subkontinent zwar nicht völlig fremd ist, aber bei weitem nicht die Rolle einnimmt wie in Franz Werfels Spiegelmensch (1920) oder in Alfred Döblins Manas, das an manchen Stellen an den Mythus von Orpheus und Eurydike erinnert.

Das „alte Indien“ in Inhalt und Form der deutschen Literatur

Die Flucht in die Vergangenheit zeigt sich nicht nur anhand der Themen, sondern auch in der Sprache, manchmal gar in der Form. „Es sei genug, hervorzuheben“, beschreibt die Hauptfigur in Karl Gjellerups Der Pilger Kamanita (1907) seine Geliebte, „daß diese Mondgesichtige von makelloser Gestalt und an allen Gliedern von frischer Jugend umblüht war, daß sie mir als die leibliche Glücks- und Schönheitsgöttin erschien, und daß meine Körperhärchen sich bei diesem Anblick vor Entzücken sträubten.“

Döblin erinnert mit seinem Versroman Manas an die Form hinduistischer Epen. Der heute vergessene Dichter Peter Philipp greift in seinem Gedichtband Nirvana und Samsara (1900) auf die ursprünglich arabische Versform der Ghasele zurück. Denn auch in der Lyrik wird Indien immer wieder thematisiert, ob in Raina Maria Rilkes Schlangen-Beschwörung (1907/08), Hugo Balls Buddha und der Knabe (1913) oder Bertold Brechts Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus (1937), das wiederum von Gjellerups Roman inspiriert ist. Ähnlich wie in der Prosa steht hier zumeist das exotische Indien im Vordergrund.

Buddhismus im Mittelpunkt

Es verwundert nicht, dass viele dieser Romane und Gedichte buddhistische Thematiken aufgreifen. Während der Hinduismus die Rezeption zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägt, schenkt man aufgrund von Veröffentlichungen wie Carl Friedrich Koeppens Die Religion des Buddha und ihre Entstehung (1857 und 1859) ab Mitte des 19. Jahrhunderts dem Buddhismus mehr philosophische wie literarische Aufmerksamkeit. Neben vielen Gedichten sind hier Siddhartha, Fritz Mauthners Der letzte Tod des Gautama Buddha (1913) Gjellerups Der Pilger Kamanita sowie Das Weib des Vollendeten (1907) und womöglich Spiegelmensch anzuführen.

Der zunehmende Einzug Indiens in die deutsche Literatur wird vor allen Dingen durch die erleichterten Reisebedingungen begünstigt. Die Öffnung des Suezkanals, neu erschlossene Reiserouten für touristische Dampfschiffe und erweiterte Eisenbahnnetze tragen dazu bei, dass Schriftsteller wie Hermann Hesse, Waldemar Bonsels und Stefan Zweig, der Die Augen des ewigen Bruders (1921) verfasste, Indien oder Anrainerstaaten bereisen. Vielleicht ist der Rückzug in die Romantik auch damit zu begründen, dass viele dieser Reisenden – darunter auch Hesse und Zweig – von dem Indien, wie sie es vorfinden, ernüchtert, wenn nicht enttäuscht sind.

gebieterische und kuratorische Auslegung

Neben dieser „exotistischen“ Herangehensweise könnte man das Indienbild in der deutschen Literatur seit 1900 angelehnt an Amartya Sen in eine „gebieterische“ und eine „kuratorische“ unterteilen. Während sich das exotistische Vorgehen auf das wundersame Andere konzentriert hatte, ist das gebieterische von (ursprünglich kolonialen) Machtverhältnissen geprägt, die Indien zu etwas Unterlegenem, vielleicht Schützenswertem machen. Die kuratorische Annäherung hingegen ist eine von Neugierde angetriebene, vielseitige und kategorisierende.

Der gebieterische Ansatz wird vor allem von britischen Utilitaristen wie James Mill im 19. Jahrhundert vertreten. Auf gewisse, geminderte Weise kann man diesbezüglich eine Kontinuität zu Ingeborg Drewitz’ Mein indisches Tagebuch (1983) Günter Grass’ Roman Der Butt (1977) und seinem illustrierten Journal Zunge zeigen (1987) erkennen. Ein literaturgeschichtlicher Bruch zeichnet sich nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Idealisierende und romantisierende Literatur wird oftmals durch desillusionierende ersetzt.

Und obschon die Indienrezeption mit der 1968er-Generation erneut an Begeisterung gewinnt, hält man sie in Deutschland literarisch nicht fest – anders als in der angloamerikanischen Literatur, etwa in der Beat Generation. Schreibt man überhaupt über Indien, dann meistens über das Entwicklungsland. In diesem Sinne heißt es in Zunge zeigen von Günter Grass: „Elend, Krüppel, die sich auf Stümpfen über Lederkappen übers geborstene Pflaster schleppen. Räudige Hunde. Der querliegende Schläfer. Steig darüber weg!“

Gegenwart und Zukunft Indiens in der deutschen Literatur

Wenn auch nicht vergleichbar mit der Omnipräsenz Indiens in der Alltagskultur, nimmt die literarische Indienrezeption in den 1990er-Jahren wieder Fahrt auf, diesmal weniger exotistisch oder gebieterisch. Darunter sind neben anderen Martin Mosebachs Roman Das Beben (2005), sein Reisebericht Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien (2008), Ilija Trojanows Der Weltensammler (2006) sowie Josef Winklers Romane Domra. Am Ufer des Ganges (1996) und Roppongi. Requiem für einen Vater (2008) zu finden.

Man bemüht sich um objektivere, vielfältigere Darstellungen. Besonders Winkler ergießt sich in detaillierten, vor Adjektiven triefenden, hypotaktischen, manchmal voyeuristischen Beschreibungen: „Unmittelbar unter dem runden Einäscherungsaltarstein, auf dem der Knabe mit bloßen Füßen in der kalten Asche zwischen den schwarzen, kleinen Holzkohlestücken und den verkohlten, grauweißen, feinlöchrigen Knochenteilchen eines eingeäscherten Toten stand…“

Es ist nicht einfach, über Indien zu schreiben. Besonders aus der Ferne. Zu komplex ist Indien, zu widersprüchlich. Man kann gespannt darauf sein, ob und wie deutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Zukunft Indien begegnen werden. Insbesondere diejenigen der Migrations- beziehungsweise „neuen Weltliteratur“, wie sie die Literaturkritikerin Sigrid Löffler nannte. Denn während diese Art der Indienliteratur im englischsprachigen Raum durch Größen wie Salman Rushdie unlängst Weltruhm erlangte, wird sie in Deutschland erst allmählich sichtbar.

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