Eins und eins zusammenzählen mit bibi russell
Unsere Redakteurin reflektiert mit ihrer Mentorin über Solidarität mit Kunsthandwerker*innen inmitten der Krise und die Hoffnung auf nachhaltigere Zukunft mit Lebensqualität.
Von Mahenaz Chowdhury
Es war genau vor einem Jahr, als ich über Bangladesch und die Nachhaltigkeit geschrieben habe. Alles hat anders ausgesehen. Das Jahr 2020 hat in jeder Hinsicht eine immer noch andauernde lange Phase der Wende eingeleitet. Von der Art und Weise, wie ich früher gearbeitet, Gespräche mit Menschen geführt und mir Zeit genommen habe – für meine Familie und mich selbst – alles ist anders geworden. Vielleicht liegt es daran, dass Trauer eine neue Gestalt angenommen hat. Es begann mit einer kollektiven Paranoia und der Angst vor einer steigenden Zahl von Todesopfern, die nicht mehr als nur Zahlen in Zeitungen waren. Sie waren plötzlich mir bekannte Menschen. Es ist seltsam, über Menschen zu sprechen – die mich in meiner Kindheit geprägt und mich zu dem geformt haben, was ich heute bin, oder mein Leben nachhaltig beeinflusst haben – als nur eine Zahl in der Sterblichkeitsrate im Haushaltsjahr 2020-21. Ist es das, was das Erwachsenwerden der neuen Generation ausmacht? Einfach weitermachen, das Büchlein Leben durchblättern, bis sich irgendwann jede*r als eine Angabe in irgendeiner Statistik wiederfindet?
Das kann es nicht sein. Können wir aufhören, unser Leben als Wirtschaftsindikator zu definieren? Wir sind mehr als nur Zahlen! Und deshalb ist Nachhaltigkeit in der Staatsführung, Bildung, Politik, Gesellschaftsstruktur und Kultur noch nie so relevant und notwendig gewesen. Es ist nicht nur ein klägliches Konzept, auf going green umzusteigen und Strategien zur Reduzierung der CO2-Emissionen zur Bekämpfung des Klimawandels zu befolgen, sondern es ist die Essenz eines erfüllten und sinnvollen Lebens.
Mit diesen Gedanken, die mich nicht in Ruhe ließen, fühlte ich mich in meiner Rolle in der Welt der Nachhaltigkeit, Wissenschaft und Kunst begrenzt, sogar eingeschüchtert. Ich war auf der Suche nach einer Mentorin, die mich durch diese Übergänge begleiten würde. Und, die Sterne entschieden für Bibi Russell, der globalen Guru für nachhaltige Mode, einer Recycling-Meisterin und einer unglaublich begabten Weberin. Bald sah ich mich auf dem Weg, einer meiner inspirierendsten zukünftigen Mentorinnen zu begegnen. Ich sollte mehr erfahren über ihre Arbeit und über ihre außergewöhnliche Initiative zur Linderung der Probleme dieser Pandemie in den ländlichen Gebieten Bangladeschs.
Ich beeilte mich von der Rikscha mit angelegtem Mundschutz und Desinfektionsmittel in der Hand die Stockwerke hinauf in das Atelier von Bibi Productions. Mit einem herzlichen Willkommen wurde ich in ihr Büro geleitet. Die gemütliche minimalistische Ausstattung des mit einem Hauch von beruhigenden Räucherstäbchen gefüllten Raumes zog mich in seinen Bann, und ich fühlte mich umgehend wohl. Bibi bot mir Tee an, serviert in ihrem charakteristischen recycelten Glas, das mit Rikscha-Malerei (von einem echten Rikscha-Kunstmaler!) bemalt war. Cha, Kekse und Kunst, die Weichen waren gestellt. Ich hatte nicht geahnt, dass wir uns auf Anhieb verbunden fühlen würden, sobald sie mit mir ihre Lebensphilosophien und Werte teilte. Bibi war mit Herz und Seele bei einer Sache in der Modebranche, nämlich die Wiederbelebung und Erhaltung der Tradition des erlesenen Webe-Kunsthandwerks in Bangladesch. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf dem Aufbau und der Ausbildung der Gemeinschaften in abgelegenen Gebieten, um unsere althergebrachten Traditionen zu bewahren. Aus ihrem Gespräch wurde deutlich, warum sie es vorzog, ihre gesamte Zeit außerhalb des Ateliers zu verbringen, denn dort spielt sich Unvorhergesehenes ab. Der Austausch von Erfahrungen mit den Handwerker*innen und Kunsthandwerker*innen, das Lernen über ihr Leben und sie zur Unabhängigkeit zu befähigen, machen ihre Arbeit sinnvoll und wichtig. Nun fühlte ich mich bestärkt, meinen Bestrebungen auf diesem Gebiet nachzugehen.
Wie hat alles für Sie angefangen?
„Wissen Sie“, sagte Bibi mir gegenüber auf ihrer Couch sitzend, „ich bin in Alt-Dhaka in einer Umgebung aufgewachsen, die von Kunst und Musik geprägt war. Ich erinnere mich, wie fasziniert ich war von den Drucken und Farben auf der Gamcha (handgewebtes Stück Stoff aus Baumwolle, das auch als Handtuch verwendet wird). Ich wusste, dass ich mehr über die Herstellung der Gamcha und das dazugehörige Handwerk erfahren wollte. In den 1970ern habe ich mich um die Zulassung für das Studium am London College of Fashion beworben. Es war nicht einfach für mich, Englisch war nicht meine Muttersprache und ich musste doppelt so hart arbeiten wie die anderen, um meinen Wert und meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Aber ich war fest entschlossen, meine Karriere im Modedesign fortzuführen und ein bedeutungsvolles Zeichen zu setzen! “ Sie erschien auf der Titelseite von "Vogue" und verhalf auf ihre Weise Bangladesch weltweit in der Modebranche bekannt zu machen.
Es war wirklich beeindruckend zu erfahren, dass sie bei all dem Glanz und Zauber, auch die andere Seite der Modebranche sah. In den 1990er Jahren lernte die Welt gerade die von H&M geprägten Konzepte für aktuelle Mode und Massenproduktion kennen. Inzwischen hatte Bibi schnell erkannt: Die nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt, die Erschöpfung der Ressourcen und die kulturelle Erosion unseres unverkennbaren, handwerklichen Erbes. Es ging nur darum, Wettbewerbsvorteile mit billigen Arbeitskräften zu erzielen. Das war der entscheidende Faktor für Bibi, zu ihren Wurzeln zurückzukehren und ihr eigenes Unternehmen, Bibi Productions - Fashion For Good zu starten. Ich konnte sehen, wie ihre Augen aufleuchteten, als sie sagte: „Mein Herz und meine Seele gehören den Kunsthandwerker*innen. Sie erhalten mich am Leben, und ich fühle mich stets für ihr Wohlbefinden verantwortlich.“ Es entstand eine kurze Pause. Bibi seufzte: „Die Pandemie war ein wahrer Albtraum. Das reduzierte Wirtschaftsleben führte zu drastischen Auftragsrückgängen. Sie lächeln immer noch warmherzig und beschweren sich nicht, obwohl sie in dieser Situation am schlimmsten betroffen sind.“
Während dieser globalen Krise war es unerlässlich, Arbeit für ihre Handwerker*innen zu schaffen, denn ihr Überleben war gefährdet. Sie rief zur Solidarität auf: „Wir leben in einer Zeit voller Herausforderungen und Unsicherheit. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nur mit vereinten Kräften, die durch die Covid-19 Pandemie erlittenen Verluste und ihre nachteiligen sozioökonomischen Folgen wirksam lindern können. Unterstützung und Hilfeleistung wären zweifellos an vielen Fronten und in vielfacher Weise erforderlich. „Wie Sie wissen, zielen meine Bemühungen darauf ab, die Handwerksleute, insbesondere die Weber*innen, darin zu unterstützen, sich aus dieser Notsituation herauszuarbeiten, ihre Familien zu retten, ihr Gewerbe zu schützen und unser uraltes Erbe zu bewahren,“ erklärte Bibi. „Es sind die Ärmsten und Schwächsten, die am stärksten betroffen sind. Ihr Einkommen ist sehr niedrig. Sie sind oft selbstständig, oder arbeiten im informellen Sektor und zwar hauptsächlich für kleine Unternehmen. Dies sind die Menschen, die oft von der staatlichen Politik ausgeschlossen sind und tiefer in die Armut abrutschen, wenn wir jetzt nicht handeln!”
Wie können wir helfen?
Wir können dem Aufruf zur Solidarität folgen, indem wir beispielsweise das Solidaritätspaket von Bibi erwerben. Somit wird für die Kunsthandwerker*innen eine stabile Einkommensquelle geschaffen und sie können infolgedessen ihre Arbeit mit handgewebten Stoffen, die traditionellen Kunstformen und überhaupt die kunsthandwerklichen Traditionen fortsetzen. Dieses Paket enthält alle wichtigen Dinge, die wir während dieser Pandemie benötigen und das Beste daran ist, dass alle Artikel aus Gamcha-Stoff hergestellt werden.
Die Kunsthandwerker*innen von Bibi Productions
Bibi persönlich führte mich durch ihre Welt, es war eine farbenfrohe Reise zu den einzigartigen Werken. Dies war eine der bewegendsten Erfahrungen für mich, die Menschen und ihre authentische Kunst kennenzulernen, die Bibi in Ehren hält. Von komplizierten Häkelarbeiten produzierenden Weber*innen in den entlegenen Gebieten von Saidpur bis zu den authentischen Rikscha-Malerkünstler*innen in ihrem Studio, ist sie stolz darauf, dass jedes Produkt dem jeweiligen Handwerk treu bleibt und dass jeder für seine Leistung anerkannt wird.
Md. Saifuddin’s Stube mit den zur Schau gestellten, frisch bemalten Stahlbehältern sind ein wahrer Genuss für das Auge. Seit 18 Jahren malt er und man* kann wirklich sagen, dass er ein Meister dieser Kunstform ist.
Was gefällt Ihnen am meisten an Ihrer Tätigkeit als Rikscha-Kunstmaler?
„Es ist das Gefühl, das ich dabei empfinde, wenn ich mich künstlerisch betätige. Jedes Werk weckt ein anderes Gefühl in mir und das ist unbezahlbar. Ich kannte Bibi Apa schon eine Weile vor meinem Unfall, sie bestellte in Rikscha-Malkunstform bemalte Produkte von mir. Nach meinem Unfall konnte ich nicht mehr laufen, da ich ein Bein verloren habe. Als Bibi Apa von meinem Zustand erfuhr, bot sie mir einen Raum in ihrem Atelier an, wo ich nun Aufträge als Vollzeitangestellter übernehme. Das war eine gute Gelegenheit, diese Kunstform fortzusetzen.
Wie können wir eine echte Rikscha-Kunstmalerei von einer Kopie unterscheiden?
„18 Jahre habe ich gebraucht, um dorthin zu gelangen, wo ich jetzt bin. Es geht einfach um Genauigkeit. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, die Designs immer wieder nachzuzeichnen und dies erfordert eine sehr aufmerksame Arbeitsweise, die ich über die Jahre hinweg meistern konnte. Die Fertigkeit zeigt sich in den Pinselstrichen, in der Koordinierung und in der Gestaltung. Sie werden es bald selbst bemerken. Schauen Sie also das nächste Mal genau hin, wenn Sie Produkte der Rikscha-Kunst kaufen.“
Wie beurteilen Sie die kulturelle Aneignung von Rikscha-Kunst durch moderne Künstler*innen und Unternehmen?
„Die Realität der Rikscha-Kunst von echten Rikscha-Kunstmaler*innen ist hart und wird von den profitierenden Unternehmen ausgenutzt, die nicht einmal mehr echte Kunstmaler*innen einstellen. Die Kunst verkauft sich nur wegen des Namens”, erklärte Saifuddin, als er seinen Pinsel ins Wasser tauchte. Seine Augen waren traurig. „Unterbezahlt, arbeitslos, nicht wertgeschätzt, von 20 Künstlerkolleg*innen in meinem ursprünglichen Zirkel gibt es nur noch zwei von uns, die diese Tätigkeit in Dhaka fortsetzen. Wir kämpfen darum, diese Kunstform am Leben zu erhalten. Die jüngere Generation ist bereits nicht mehr interessiert an dem Lernprozess, der hohe Anforderungen stellt. Dazu kommt die düstere finanzielle Zukunft für die Kunst im ganzen Land. Ich hoffe, dass Unternehmen echte Künstler*innen einstellen und auf diese Weise sie und ihre Familien unterstützen, damit die Zukunft der authentischen Rikscha-Malkunst gesichert wird.“
Die Welt des Häkelns mit Bibi’s Protégé Nasrin
Als nächstes stellte Bibi mich ihrem Protégé Nasrin (am Telefon) vor, einer ihrer begabtesten Häkel-Kunsthandwerker*innen aus einer abgelegenen Gegend von Saidpur. Es war ein Industriegebiet im ehemaligen Ostpakistan. Nach dem Befreiungskrieg von 1971 entstand das Flüchtlingslager „Bihari“, in dem Menschen unter unvorstellbaren Bedingungen lebten. Bibi hat dort eine Ausbildungseinrichtung geschaffen, um die Ärmsten zu unterstützen und ihnen das Erlernen von Fertigkeiten zu ermöglichen. Nasrin war von klein auf eine geschickte Häklerin. In der Hoffnung und mit dem Traum, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, kam sie zu Bibi Productions.
„Eines Tages, vor vielen Jahren, fiel in unserem Büro der Strom aus und ich versuchte, Bibi mit meinem taal pakha Luft zu zufächeln. Aber sie wandte sich sofort mir zu und sagte, dass ich ihr nicht Luft zuzufächeln brauchte, da wir gleichgestellt sind. Ich werde ihre Worte nie vergessen. Ich bewundere ihre Bescheidenheit. In meiner jahrelangen Erfahrung habe ich noch nie jemanden angetroffen, der so offen und bodenständig ist wie sie.“
Was erfüllt Sie in Ihrer Arbeit mit Bibi?
„Weil ich hier jung angefangen habe und seit fast 20 Jahren arbeite, kann ich andere Mädchen ausbilden und sie in ihren Fähigkeiten stärken. Ich kann Arbeitsplätze für diese Mädchen schaffen und die Tatsache, dass ich Bibi’s Segen dafür erhalte, macht mich am glücklichsten.“
Welche Rolle spielen überhaupt qualifizierte und talentierte Kunsthandwerker*innen wie Nasrin und Saifuddin im Rahmen des Bruttoinlandsprodukts? Vor dem Hintergrund des enorm gewachsenen Gewinns in Höhe von 34 Milliarden USD in dieser Branche, was 15-16% unseres BIP ausmacht, fällt ihr Beitrag gar nicht ins Gewicht. Obwohl die Branche sich während der ersten Schockwellen der Pandemie im Chaos befand. Sie erholte sich aber im ersten Quartal des Finanzjahres 2020-21 um 80%, und wir erwarten ein BIP-Wachstum von 4,4% anstelle der vom IWF geschätzten 8% (The Financial Express, 2020). Menschen wie sie sind nicht einmal in dem während der Pandemie von der Regierung zur Unterstützung der Industrie verabschiedeten Konjunkturpakets berücksichtigt worden. Sie sind auch nicht politisch vertreten. Es ist eine Tatsache, dass eine gut funktionierende Wirtschaft einer gesunden Arbeiterklasse bedarf. Aber nur mit der Beschaffung von Arbeitsplätzen ist es auch nicht getan! Es erfordert eine integrative Staatsführung und Politik mit entsprechenden Rahmenbedingungen und öffentlichen Dienstleistungen, die für alle zugänglich sind. Daher brauchen wir Strukturen, die den Anforderungen einer nachhaltigen Umwelt gerecht werden und das Wohlergehen der Menschen und der Natur sichern, sowie die Lebensqualität verbessern.
Übersetzung vom Englischen ins Deutsche: Vijay K. Chhabra and Brigitte Chhabra
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