KI-Entwicklung
Der Weg des Außenseiters
Europa hinkt in der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) hinterher – aus diesem Nachteil soll jetzt ein Vorteil werden.
Von Harald Willenbrock
Was haben die europäischen KI-Initiativen und der legendäre Skispringer Eddie the Eagle gemeinsam? Tatsächlich eine ganze Menge. Beide starten, was ihre Ressourcen, ihr Können und ihre Erfahrungen betrifft, weit abgeschlagen. Kaum jemand rechnet mit ihnen. Und beide müssen gegen Konkurrenten antreten, die ihnen in nahezu jeder denkbaren Hinsicht überlegen sind.
Um dies zu erkennen, genügt ein Blick auf die Herkunft der wichtigsten Unternehmensgründungen. Während in China in den letzten Jahren elf und in den USA sogar 28 KI-Einhörner herangewachsen sind, also Start-ups mit einer Kapitalisierung von mehr als einer Milliarde Dollar, sind in Europa lediglich vier solcher KI-Start-Ups beheimatet. Selbst Thierry Breton, EU-Kommissar für den europäischen Binnenmarkt, musste kürzlich einräumen, dass Europa die erste Welle der KI-Konjunktur verschlafen habe. Gleichwohl, so Praskant Khedekar, Senior Research Analyst bei Inkwood Research in Boston, hole die etwa 1.600 Unternehmen starke europäische KI-Branche langsam auf. Auch das europäische Start-Up-Ökosystem – mit Großbritannien und seinen etwa 500 KI-Start-Ups als Kern – gewinne zusehends an Reife.
„Nach wie vor ist aber die fehlende Finanzierung ein großes Problem für die europäische KI-Branche“, meint Khedekar. Während in Europa in den Jahren 2018 und 2019 insgesamt rund vier Milliarden US-Dollar in KI investiert wurden, steckte China im gleichen Zeitraum 25 Milliarden US-Dollar und die USA sogar 36 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung von KI und Machine Learning.
Diese Schieflage spiegelt sich auch in der Forschung wider. Das Ranking der tonangebenden Universitäten und Abteilungen für KI-Forschung und -Entwicklung in Unternehmen wird aktuell mit weitem Abstand von Google angeführt, gefolgt von der Stanford University und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT). Unter den Top 20 der relevantesten Forschungsinstitutionen weltweit finden sich mit der chinesischen Tsinghua Universität (Platz 15), der schweizerischen Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH, Platz 17) und des französischen Institut national de recherche en informatique et en automatique (INRIA, Platz 20) lediglich drei Forschungseinrichtungen, die nicht in den USA zu Hause sind. „China und die USA haben enorme KI-Innovationskapazitäten aufgebaut und nutzen KI geschickt zur Produktivitätssteigerung“, analysieren Experten der Boston Consulting Group (BCG). „Sie sind Lichtjahre von jedem anderen Land in der Welt entfernt.“
Es fehlt an vielem
Wie konnte Europa derart in Rückstand geraten? Diese Frage hat das BCG-Expertenteam Sommer 2020 untersucht. Ihre Antwort: Europa fehlt es an nahezu allem, was es für die Entwicklung, Erprobung, Implementierung und Kommerzialisierung von KI-Technologien braucht. Einige wesentliche Kernpunkte:
Die europäischen Unternehmen hinken bei der Digitalisierung hinterherWährend in Deutschland der Informations- und Kommunikationssektor etwa 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet, sind es in China 2,1 und in den USA 3,3 Prozent. Eine Wirtschaft, die bei der Digitalisierung hinterherhinkt, ist aber auch nicht bereit für KI-Innovationen.
Der europäische Markt ist ein fragmentierter
Obwohl der europäische Markt für KI-Lösungen potenziell groß ist, fördern die Initiativen der Europäischen Union vorzugsweise nationale Lösungen und regionale Hubs. Im chinesischen Markt hingegen lassen sich KI-Lösungen ad hoc und in großem Stil implementieren. Als Beispiel nennen die BCG-Analysten die Digitalisierung des Einzelhandels: Die Onlinehandelsplattformen Alibaba.com und JD.com hätten dafür gesorgt, dass in weniger als zwei Jahren ein Drittel der sechs Millionen Ladengeschäfte des Landes heute digitalisiert und KI-unterstützt arbeiten.
Es fehlt an System-Orchestratoren
Nach einer Erhebung der Europäischen Kommission von 2018 teilen 60 Prozent der Unternehmen in Europa keine Daten mit anderen; fast ebenso viele nutzen keine Daten, die sie von anderen erhalten. Dies liegt unter anderem auch an den strengen europäischen Datenschutzbestimmungen, die den Schutz der Verbraucher*innen in den Mittelpunkt stellen und daher die Verteilung von persönlichen Daten einschränken. So bildet sich kein gemeinsames Daten-Ökosystem heraus, sondern viele autonome Dateninseln, was den Einsatz von KI erschwert. Daher ist es auch kaum verwunderlich, dass keiner der globalen Tech-Giganten wie Google, Amazon oder Facebook europäisch ist.
Es fehlt am Rohstoff Daten
„China hat realisiert, dass Daten in einer KI-getriebenen Welt ein kritischer Faktor sind und hat den Aufbau einer Data-Labelling-Branche gefördert“, schreiben die BCG-Experten. Dabei geht es um die Kategorisierung und Sortierung von Daten und die Erstellung großer Datensets. Allein MBH, einer von Chinas wichtigsten Data-Labellern, beschäftige heute 300.000 Menschen, die Daten so kennzeichnen, dass sie als Rohmaterial für KI-Algorithmen dienen können.
Infrastruktur? Fehlanzeige
Nach massiven Investitionen in die Infrastruktur verfügt China heute über 40 Prozent der weltweiten Quantencomputer-Kapazitäten, die beispielsweise bei der Mustererkennung weitaus leistungsfähiger sind als klassische Computer – drei Mal so viel wie alle europäischen Länder zusammengenommen. Nach Einschätzung der BCG-Analysten dürfte selbst die jüngste EU-Initiative Quantum Flagship, die über zehn Jahre verteilt eine Milliarde Euro in die Quantencomputer-Entwicklung freigibt, daran wenig ändern. Zum Vergleich: China investiert aktuell acht Milliarden Euro in sein „National Laboratory for Quantum Information Sciences“.
Strategiewechsel statt Aufholjagd
In vielerlei Hinsicht scheint Europa im Vergleich zu China und den USA also nicht gut aufgestellt, wenn es um KI-Entwicklung und deren Einsatz im Alltag geht. Die Gründe dafür –beispielsweise strikterer Datenschutz – sind jedoch keineswegs nur negativ einzustufen. So meint Karen Yeung, Professorin für Recht, Ethik und Informatik an der Universität Birmingham: „Es ist Sache der europäischen Öffentlichkeit, zu diskutieren und zu entscheiden, an welche Werte wir glauben, welche Praktiken wir für akzeptabel halten und in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen. Und dann sollten wir nach unseren Prinzipien, unseren Normen und Standards leben.“
Mit anderen Worten: Es liegt an den Europäer*innen, welche ausländischen KI-Anwendungen sie in ihren Grenzen zulassen – und welche sie nach ihren ethischen Standards selbst entwickeln. Genau dies will die EU- Kommission mit ihrer im Februar 2020 konkretisierten KI-Strategie voranbringen. Um den Kontinent als „Vorreiter für eine vertrauenswürdige künstliche Intelligenz“ zu etablieren, sollen im Rahmen des Forschungsprogramms Horizon Europe 2,5 Milliarden Euro in die Einführung vertrauenswürdiger Datenplattformen und KI-Anwendungen fließen.
Die Hoffnung: Europa könnte neben dem staatlich gesteuerten China und dem Big Tech-befeuerten US-amerikanischen einen „Dritten Weg“ in der KI etablieren – einen, der den Interessen der Verbraucher*innen und dem Schutz ihrer Daten Vorrang einräumt. „Kurzfristig mag unsere stärkere europäische Regulierung im Vergleich zu China und den USA unsere Umsatzpotentiale verknappen“, meint Camilla Rygaard-Hjalsted, Chefin der Nichtregierungsorganisation Digital Hub Denmark, „langfristig kann unser Fokus auf eine ‚KI für die Menschen‘ zu einem Wettbewerbsvorteil und wir zu einem Vorbild für die Welt werden.“
Völlig offen ist, ob diese Rechnung aufgeht. Denn in einer Branche, in der frei verfügbare Daten der wichtigste Treibstoff für Innovationen sind, steht Datenschutz unweigerlich für einen Wettbewerbsnachteil. Europa trete im Technologiewettstreit mit einem schweren Handicap an, meint Mark Scott, Technologiekorrespondent der US-Zeitung Politico. Gleichwohl solle die EU im großen Digitalwettstreit ihre Werte nicht aufgeben. „Werden die Europäer*innen dadurch online besser geschützt sein als andere? Ja. Wird es der Region helfen, zu China und den USA aufzuholen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht.“
Allerdings besteht einer der Vorteile eines Außenseiters ja darin, dass er ein großes Aufholpotenzial hat. Der Gesamtumsatz des europäischen KI-Markts könnte den Prognosen des European Information Technology Observatory (EITO) zufolge von rund drei Milliarden Euro in 2019 auf bis zu zehn Milliarden Euro in 2022 ansteigen. Entsprechend hoffnungsvoll ist der Titel der EITO-Studie. Er lautet, ganz im Sinne Eddie the Eagles’: „Ready for Take-off“.