Theatrum Mundi
Eine Ulrike Ottinger Retrospektive

Als „Weltensammlerin“ bezeichnet das renommierte Berliner Haus der Kulturen der Welt Ulrike Ottinger, als es ihr zuletzt 2020 eine große Einzelausstellung zu ihrem neuesten Film Paris Calligrammes auslegt. Die filmische Autobiographie feiert auf der Berlinale Weltpremiere. Mit 17 Jahren entflieht die 1942 im süddeutschen Konstanz geborene Künstlerin der Verkrustung der deutschen Adenauer-Ära der 50er und zieht nach Paris, die Stadt der künstlerischen Möglichkeiten und der sexuellen Freiheit.1 Paris Calligrammes zeichnet Ulrike Ottingers künstlerische Anfänge nach, deren Inspiration sie im Stadtbild, in der Architektur, in seinen Museen und öffentlichen Orten, in den Menschen, die dort wohnen, findet. Es ist das Paris illustrer Zirkel der Surrealisten und Dadaisten, aber auch das Setting der politischen Umwälzungen der 60er, des Algerienkrieges und des Mai 68, die das koloniale Europa entlarven und anprangern. Dieser dekoloniale Prozess ist für Ottingers späteres Schaffen offensichtlich prägend. Sie ist inspiriert von Jean Genet’s Theater oder vom Cinéma Verité des ethnologischen Regisseuren Jean Rouch. „In Frankreich waren die Enthologen auch Dichter“ beschreibt sie in einem Interview.2

Kulturhistorikerin Patricia White, die seit den 80gern über Ulrikes Filme schreibt, beschreibt Ottinger als „Dandyfigur“3 deren komplexes Oeuvre keine vereinfachenden Kategorisierungen zulässt: es wird sowohl in Genealogie feministischer und lesbischer Filmavantgarde, sowie der des Autorenkino oder als Teil einer ethnographischen Debatte im Film diskutiert. Es wirkt so ausweitend wie fokussierend.

Das Weltentheater der Ulrike Ottinger

Ulrike Ottinger ist dieses Jahr 82 geworden und es beginnt sich eine retrospektive Werkschau an die nächste zu reihen, außerdem dreht sie weiter konzentriert Filme. Ob in Paris, London, New York, Stockholm, Warschau oder Toronto - das Goethe-Institut hat Ulrike Ottingers Werke weltweit einem vielfältigen Publikum zugänglich gemacht und damit maßgeblich zur Bekanntheit ihrer Arbeit beigetragen. Ab dem 06. Dezember 2024 zeigen Goethe-Institut und die Cinematek in Brüssel eine komplette filmische Retrospektive. Neben ihrem Filmen besteht das Oeuvre von Ottinger heute aus einem unglaublich weitgefächerten Werk von Fotografien, Malereien, Künstlerbuchpublikationen, Ausstellungen sowie Theater- und Opernproduktionen. Es umfasst von 12-stündigen Real-Time-Dokumentarfilmen, wie etwa Chamissos Schatten (2016), bis zu surrealen Kurzfilmfiktionen, wie z.B. Superbia (1989).

Der Begriff Theatrum Mundi beschreibt ein Weltentheater – eine Globalmetapher mit einem schmunzelnden Unterton. Darstellungen von dem kleinen Wuseln auf der großen Welt, das Theater im Theater oder auch ein Weltspektakel auf dem Jahrmarkt. Theatrum Mundi bezieht sich auch auf Ottingers Monumentalwerk Freak Orlando, einen Film den sie 1981 als Teil der Berlin Trilogie filmt. Freak Orlando ist ein Historienspektakel der Freaks und Andersartigen. Orlando, die Hauptfigur, inspiriert von Virginia Wolf’s bekannten non-binären Character, taucht in fünf Episoden in unterschiedlichen Gegenwarten in unterschiedlichen Geschlechtern auf, aber vor einem gleichbleibenden Setting: Berliner Industrielandschaften. Die Berlin Trilogie ist ein Beispiel für Ottingers langjährige Zusammenarbeiten mit feministischen Idolen, wie Tabea Blumenschein, Punk-Ikone des Berliner Underground, die feministische Kultfigur Delphine Seyrig oder, Star der alternativen Szene, Magdalena Montezuma. Insbesondere mit Filmen wie Madame X – Eine absolute Herrscherin (1977), Bildnis einer Trinkerin (1979), Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984), schaffen Ottinger und ihre „widerständigen Musen“4 wichtige Beiträge zum subversiven, experimentellen, deutschen Film der 1980er Jahre. Ulrike Ottingers Zeitgenossen (und Inspirationen!) sind fast alles Männer. Ihr extravagantes und unerhörtes Oeuvre leuchtet heute ganz besonders in der Männerriege des Neuen Deutschen Films und Filmemachern wie Schroeter, Fassbinder und Schlöndorff.

A black and white image with the artist and their collaborator and partner looking at the camera, taking a self portrait Ulrike Ottinger

Zeitgeschichtliche und -genössische Rezeptionen

Die fast 5-stündige Filmreise China. Die Künste - Der Alltag (1985), die der Berlin Trilogie folgt, markiert den Anfang Ottingers preisgekrönten Dokumentarfilmen. Es folgen Filme im asiatischen Raum wie Taiga (1991/92) oder Exil Shanghai (1997), im osteuropäischen Raum, wie Südostpassage (2002) aber auch Berliner Geschichte wird dokumentarisch festgehalten wie z.B. der Mauerfall in Countdown (1990). Kritische Stimmen äußern Bedenken hinsichtlich exotisierender Darstellung in ihren ethnografischen und fiktionalen Werken, wie etwa Johanna d’Arc of Mongolia (1989). Speziell fiktive Filmfiguren wie beispielweise aus Madame X zeigen für heutige identitätspolitisch aufgeheizte Debatten problematische Repräsentationen. In vertiefterer Analyse gibt Ottingers Werk allerdings stets selbst Antworten auf diese kritischen Stimmen. Ottinger verleugnet nicht ihren privilegierten Blick und die Plottwiste ihrer Erzählungen lassen den/die Betrachter*in selbst auf die eigene Perspektive aufmerksam werden.5

Patricia White verortete das Werk diesbzgl. im Deutschen Orientalismus, bezogen auf Ottingers Praktiken des Sammelns, Dokumentierens und Ausstellens - beeinflusst durch Dada, dekoloniale Politik und lesbischen Feminismus. „Ihre Autorinnenpersönlichkeit stellt die Rolle des gelehrten europäischen Reisenden in den Schatten, mischt die Filmgeschichte neu, stellt kulturelle Hierarchien in Frage und lädt die Zuschauer*innen in ihre filmische Wunderkammer ein.“6

Theatrum Mundi – Eine belgische Retrospektive

In räumlicher Spiegelung zur Wunderkammer der Belgischen CINEMATEK wird darum eine begleitende Ausstellung gezeigt,die in selektierte Filmprojekte und -prozesse der Künstlerin zoomt. Zum Anlass hat die CINEMATEK Ulrike Ottinger eingeladen eine Carte Blanche zu kuratieren - über 10 Filme, die für ihr Schaffen wichtig sind, und die parallel zu sehen sein werden. Ottingers Filme wurden bereits auf namhaften Belgischen Filmfestivals wie Film Fest Gent, Âge d'Or Festival oder Pink Screens Festival gezeigt und die Belgische CINEMATEK hat gleich mehrere von Ottingers Original-Filmmaterialien im Archiv. Das Goethe-Institut Brüssel hat es sich zur besonderen Aufgabe gemacht das filmhistorische Werk in Kreisen junger belgischer Filmemacher*innen und Künstler*innen anzustoßen: darunter Studierende der Brüsseler Film- und Theaterakademie RITCS und der Kunstakademie La Cambre, das queer-lesbische Brüsseler Kollektiv Office x Sexy Kesser Vater. An einem Cabaret Abend werden polyglotte Interpretationen von Ottingers Filmliedern geboten und die belgische Filmplattform Sabzian wird Ottingers Werk in theoretischen Diskursen verorten. Das Eröffnungswochenende der Retrospektive wird in Anwesenheit der Künstlerin selbst gefeiert und anschließend sind ihre Filme für drei Monate in der Cinematek zu sehen.

Quellen

[1] Ulrike Ottinger 2020 in einem Interview anlässlich des Teddy Awards, ein renommierter queerer Filmpreis der Berlinale: Teddy Award (22.02.2020) Interview with Ulrike Ottinger on 'Paris Calligrammes'
[2] Ulrike Ottinger at 80: In Conversation ist 2022 beim Goethe-Institut Großbritannien erschienen und wurde durch Mandy Maerck und Angela McRobbie geführt.
[3] Aus „Ulrike Ottinger in the Mirror of Her Movies” von Patricia White, in der kürzlich erschienen Publikation „Ulrike Ottinger - Film, Art and the Ethnographic Imagination” herausgegeben in 2024 von Angela McRobbie.
[4] 2023 zeigt der Württembergische Kunstverein Stuttgart die Gruppenausstellung „Widerständige Musen. Delphine Seyrig und die feministischen Videokollektive im Frankreich der 1970er und 1980er Jahre“ mit u. a. Werken von Ulrike Ottinger aber auch Chantal Ackerman.
[5] Wie z.B. Patricia White in ihrem 2022 Beitrag The Cosmos According to Ulrike Ottinger | Current | The Criterion Collection am Beispiel Johanna d’Arc of Mongolia ausarbeitet, oder Cassandra Xin Guan, die in „Film, Art and the Ethnographic Imagination” (2024) argumentiert: “Ottinger’s documentary eye sees the ethnographic subject not from the outside, but rather through a kind of view-within-a-view inscribed in the field of culture under observation. […] Instead of a transparent window opening onto another world, Ottinger’s China documentary, like a trick mirror, refracts rather than reflects the desire of the ethnographic subject.”
[6] Vgl. Patricia White, 2024

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