Sprachkompetenz
„Mehrsprachige Kinder haben einen gewissen Vorsprung“
Jedes dritte Kind in Deutschland wird laut Statistischem Bundesamt in eine Familie mit Migrationshintergrund hineingeboren. Die Pädagogin Professor Anja Wildemann von der Universität Koblenz-Landau untersucht, wie die Mehrsprachigkeit dieser Kinder in der Grundschule genutzt werden kann.
Frau Professor Wildemann, in Ihrem kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekt „Sprachkompetenz und Sprachbewusstheit“ konnten Sie nachweisen, dass Mehrsprachigkeit eine Ressource ist. Wusste man das nicht auch vorher schon?
In der Forschung und in der Mehrsprachigkeitsdidaktik wird zwar gerne argumentiert, dass Mehrsprachigkeit eine Ressource ist. Allerdings handelt es sich bei den Äußerungen in der Regel um Behauptungen oder Vermutungen, nicht um empirische Belege. Einige Untersuchungen aus dem englischsprachigen Raum zeigen, dass mehrsprachige Lernerinnen und Lerner einen gewissen Vorsprung gegenüber einsprachigen haben. Es war aber nicht klar, ob sich diese Untersuchungen eins zu eins auf den deutschen Sprachraum übertragen lassen, weil Mehrsprachigkeit beispielsweise in kanadischen Schulen eine andere Form der Anerkennung erfährt. Deshalb war es uns wichtig, aus neutraler Perspektive zu fragen: Nutzen Kinder an deutschen Grundschulen verschiedene Sprachen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben? Und sind sie auch in der Lage, diese Sprachen zum Gegenstand ihrer Reflexion zu machen?
Wie sind Sie vorgegangen, um Antworten auf diese Fragen zu bekommen?
Wir haben mit einer Software gearbeitet, die zuvor in einem EU-Projekt entstanden ist. Sie enthält bildlich dargestellte Geschichten, die zudem in Deutsch, Englisch, Spanisch, Russisch und Türkisch gesprochen sowie geschrieben sind. Dieses Material haben wir bei 400 Schulkindern der Klassenstufe 4 in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg eingesetzt. Je zwei dieser Schülerinnen oder Schüler durften sich gemeinsam eine solche Geschichte am Computer ansehen. An bestimmten Stellen haben wir ihnen dann Impulsfragen gestellt, zum Beispiel: „Warum haben die Sätze im Deutschen mehr Wörter als im Türkischen?“ Dabei hat sich gezeigt: Manche deutschsprachigen Grundschüler äußern sich metasprachlich auf hohem Niveau. Mehrsprachige Kinder tun das aber häufiger und ihre Äußerungen haben im Schnitt ein höheres Niveau. Kinder, die neben Deutsch auch Türkisch können, haben zum Beispiel erkannt, dass wir im Deutschen für einen Artikel und ein Nomen zwei Wörter verwenden, während der Artikel im Türkischen an das Nomen angehängt wird. Damit haben sie sprachanalytische Kompetenzen bewiesen.
Sie schlagen vor, dass diese Kompetenzen in der Schule genutzt werden sollen. Warum finden Sie das wichtig?
Alle Schüler profitieren davon, wenn wir Sprachkompetenz und Sprachbewusstsein im Hinblick auf Mehrsprachigkeit nutzen und fördern. Ein einsprachiger Grundschüler beispielsweise ist sich durch die Teilnahme an unserer Studie darüber bewusst geworden, dass die Verb-Zweitstellung zwar im Deutschen gilt, in den allermeisten anderen Sprachen allerdings nicht. Das heißt, im Deutschen sagen wir beispielsweise „Ich gehe morgen ins Schwimmbad“ und nicht „Ich morgen gehe ins Schwimmbad“. Voller Verwunderung und Faszination sagte er daraufhin: „Ich dachte, wir (die Deutschsprachigen) wären die Hauptsache. Und dabei sind wir die Ausnahme.“ Solche Sprachvergleiche werden von der Kultusministerkonferenz explizit empfohlen und die dahinter steckenden Kompetenzen wirken sich nicht zuletzt positiv aus, wenn es um das Lesen und Schreiben lernen geht.
Viele, vor allem einsprachige Lehrkräfte werden fragen: Wie soll und kann ich Mehrsprachigkeit fördern?
Es würde schon helfen, wenn die Kinder im Unterricht die Möglichkeit hätten, Wörter und Beispiele für Wortbildungen miteinander zu vergleichen, weil sie dadurch Einsichten in die Strukturen der Sprachen erlangen. Materialien wie die CD, die wir im Rahmen der Studie eingesetzt haben, sind frei verkäuflich und in der Bedienung selbsterklärend, so dass sie von Lehrkräften direkt im Unterricht eingesetzt werden können. Zudem ist es wünschenswert, dass der Deutsch-, der Fremdsprachen- und der Herkunftssprachen-Unterricht stärker zusammenarbeiten. Das passiert in der Praxis leider noch zu selten, was sich sicherlich auch mit schlechten Rahmenbedingungen erklären lässt: Viele Lehrkräfte im Bereich der Herkunftssprachen arbeiten im Nachmittagsbereich oder an unterschiedlichen Schulen und haben auch zu wenig Zeit für gemeinsame Unterrichtsplanung.
Derzeit starten Sie ein Forschungsprojekt, in dem Sie eine Fortbildung zur Thematisierung von Sprache im Deutschunterricht entwickeln. Was versprechen Sie sich davon?
Wir möchten über zwölf Monate hinweg konkrete und umsetzbare Unterrichtsvorschläge zur Mehrsprachigkeit entwickeln und den Lehrkräften auch Ideen liefern, wie sie die Sprachkompetenzen und das Sprachbewusstsein ihrer Schülerinnen und Schüler im Zusammenhang mit anderen Unterrichtsthemen nutzen und fördern können. Um die Bedürfnisse der Lehrkräfte zu berücksichtigen, sollen die Inhalte im Dialog mit ihnen erarbeitet und bereitgestellt werden. Zwischen den Präsenzphasen, die etwa alle zwei bis drei Monate stattfinden, haben die Lehrkräfte immer die Möglichkeit, die Ideen im Unterricht auszuprobieren und ihre Erfahrungen zu dokumentieren und reflektieren. Indem wir regelmäßig ihr fachdidaktisches Wissen im Bereich der Sprachthematisierung im Deutschunterricht messen und anhand einer Kontrollgruppe vergleichen, können wir zuverlässig Veränderungen aufzeigen. Darüber hinaus wollen wir untersuchen, inwieweit ein an Mehrsprachigkeit orientierter Deutschunterricht sich auf die Sprachbewusstheit von Schülern und damit auf die Schülerleistungen auswirkt.
Das Projekt Sprachkompetenz und Sprachbewusstheit wurde von 2013 bis 2016 durchgeführt, das Projekt MehrSprachen im Deutschunterricht läuft von 2016 bis 2019. Beide Projekte wurden und werden gefördert im Rahmen des Forschungsschwerpunkts „Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).