Während Colonia in die deutschen Kinos kommt, gibt es in Chile noch ein Filmprojekt zu Colonia Dignidad mit einem anderen Blickwinkel. Wir sprachen mit Regisseur Matías Rojas Valencia über seinen zukünftigen Film In the shade of the trees.
Foto: Alejandra Reitze
Matías Rojas Valencia gewann mit seinem Debütfilm
Raíz auf dem Festival de Valdivia 2013 den Wettbewerb in der Kategorie „Bester Chilenischer Film“. Das
Road movie wird erzählt aus der Perspektive eines Kindes. Sein neues Projekt
In the shade of the trees basiert auch auf dem Kinderblick, allerdings von einem chilenischen Kind in der Colonia Dignidad. Der Regisseur erklärt: „Mich interessieren die intimen Vorgänge der Kindheit, diese Alltagsmomente, die transzendent werden und im Gedächtnis bleiben“. Und weiter: “Dieses Projekt hat gar nicht vor, eine konkrete Biographie darzustellen, es ist eine freie Adaptation und ein Spielfilm aus der Perspektive der Kinder, die in Colonia Dignidad lebten. Es beinhaltet eine historische Perspektive, indem die Fakten glaubwürdig präsentiert werden."
Was hat dich an diesem Thema interessiert, und wie hast du es recherchiert?
Als ich klein war, hat mein Vater die ganze Familie zum Restaurant der Colonia Dignidad in Bulnes gebracht. Diesen Besuch habe ich in meinem Kopf festgehalten und auch in den Fotos, die wir damals schossen. Dann kam immer mehr dazu in den Nachrichten, und dies hat mich immer mehr interessiert. Ein Höhepunkt war auch die Flucht von Salo Luna. Mein Interesse wuchs, weil ich wissen und verstehen wollte, wie dieser Ort so lange bestehen konnte; warum so viele Taten stattfinden konnten, die sowohl Deutsche als auch Chilenen dazu forcierte, ein Sektenleben zu führen, wo alle Menschenrechte verletzt und wo mehrmals und sogar permanent Kinder sexuell missbraucht wurden.
Die Recherchen zu Colonia Dignidad waren langatmig, und je mehr ich herausfand, desto mehr war ich mir sicher, dass es keinen „Grund“ gibt, dass die Menge der Taten innerhalb dieses Ortes so gross ist, dass es rein unmöglich wäre, alles erzählen zu können. Während der Recherchen bin ich auf sehr gute Werke gestoßen, wie die Forschungen des Journalisten Gero Gemballa, der in die Colonia Dignidad eindrigen konnte in Zeiten, in denen es sonst unmöglich war, und das Buch der Chilenen Claudio Salinas und Hans Stange. Von all dem, was in der Colonia Dignidad stattgefunden hatte, interessierte ich mich für die intimen Vorgänge und Erfahrungen der chilenischen Kinder, die in die Schule der Enklave kamen und die Beziehung, die Paul Schäfer zu ihnen hatte.
Obwohl Paul Schäfer nur wegen Pädophilie verurteilt wurde, scheinen alle anderen Verbrechen öffentlich bekannter zu sein. Der Missbrauch an chilenischen Kinder kommt in dem deutschen Film „Colonia“ mit Daniel Brühl und Emma Watson gar nicht vor. Warum hast du es doch aufgenommen?
Ich habe den deutschen Film
Colonia noch gar nicht gesehen, aber soweit ich weiß, ist die Perspektive des Filmes in einem anderen Zeitrahmen gesetzt und zwar in der Beziehung zwischen der Colonia Dignidad und der Diktatur in Chile. Das Projekt
In the shade of the trees entwickelt sich am Anfang der 90er Jahre und nimmt die Entstehung der Schule für chilenische Kinder innerhalb der Enklave und die Beteiligung dieser Kinder in der „permanenten Jugend“ als historischen Referenzpunkt.
Für mich war es besonders interessant, diese historische Perspektive anhand der Erfahrung der chilenischen Kinder in Colonia Dignidad zu bearbeiten, weil sich alles mit meinem Interesse an Prozessen der Erinnerung und Erfahrung vereinen lässt. Es ist eine interessante Herausforderung, wenn ein Drehbuch auf realen Geschehnissen basiert.
Wie war deine Erfahrung mit diesem Projekt beim Coproduction Market der Berlinale? Gab es Interesse, deinen Film zu unterstützen?
Dieses Projekt ist schon einen langen Weg gegangen. Obwohl wir schon an verschiedenen Coproduction-Treffen, Workshops und Pitches teilgenommen haben, wie der Bolivia Lab, wo wir den Preis des besten iberoamerikanischen Projektes gewannen, und auch beim Coproduction Meeting vom Festival in San Sebastian, Coproduction Market der Berlinale und L`Atelier in Cannes waren, haben wir erst vor kurzer Zeit die ersten zwei Förderungen bekommen. Und ich glaube, die Teilnahme an dem Coproduction Market der Berlinale war der Schlüssel zum Erfolg. Es ist eine sehr wichtige Instanz, die mir und dem Executive Producer Giancarlo Nasi ermöglichte, interessierte Koproduzent*innen zu finden. Derzeit handelt es sich um eine chilenisch, deutsche, französische und kolumbianische Koproduktion. Vor einigen Monaten haben wir den Ibermedia-Fond für die Produktion mit Kolumbien und auch den französischen Aux Cinemas du Monde bekommen. Jetzt bereiten wir die Anträge für die deutsche und die chilenische Förderung vor.
Was hat die Produktion des Filmes verzögert? Wann sollte die Premiere stattfinden? Und was würdest du am liebsten dem deutschen Publikum aus deiner Perspektive erzählen?
Aktuell haben wir schon zwei internationale Fonds bekommen, aber wir müssen den Rest der Finanzierung zusammenbringen. Unsere Idee zusammen mit dem Fimteam ist es, die Dreharbeiten Ende diesen Jahres oder Anfang 2017 zu beginnen, um die Premiere Ende 2017 oder Anfang 2018 ansetzen zu können. Die Absicht unseres Filmes ist es, die Geschichte der Teilnehmer*innen eines der dunkelsten Kapitel unserer jungen Vergangenheit zu erzählen, aus einer intimen Perspektive, die für die Zuschauenden aus Chile, Deutschland oder irgendeines anderen Landes gemeint ist.
Es wäre sehr wichtig, sowohl für mich als für das ganze Filmteam, dass dieser Film in die deutschen Kinos kommen könnte, denn es wäre eine interessante Chance nicht nur eine historische oder faktische Perspektive zu präsentieren, sondern auch die der Vorgänge hinter den Fakten.
In the shade of the trees strebt nicht danach, durch die harten Machenschaften dieses Ortes zu schockieren, sondern anhand der menschlichen Erfahrungen zum Nachdenken anzuregen.
Matías Rojas Valencia wurde 1984 in Santiago de Chile geboren und absolvierte sein Studium an der Filmschule der Universität Mayor, wo er sich auf die Bereiche Drehbuch, Regie und Montage spezialisierte. Das bisherige Schaffen des Künstlers umfasst sowohl diverse Spiel-, Experimental- und Dokumentarkurzfilme als auch Videoclips. Sein erster abendfüllender Spielfilm Raíz / Root hatte seine internationale Premiere auf dem Filmfestival in San Sebastián und gewann 2013 auf nationaler Ebene als bester chilenischer Film den Wettbewerb auf dem Festival de Valdivia. Sein zweiter Spielfilm In the shade of the trees, derzeit im Stadium der Vorproduktion, wurde bereits von verschiedenen internationalen Filmtreffen eingeladen, darunter der Coproduction Market der Berlinale und L’Atelier des Filmfestspiels Cannes. Für seine Produktion wurde das Projekt außerdem zum Gewinner des Filmförderungsfonds Ibermedia und des französischen Fonds Aide aux cinémas du monde erwählt.
Im Jahr 2015 war Matías Rojas Valencia einer von vier chilenischen Regisseuren, die für das Chile Factory Stipendium auserwählt wurden. Im Zuge dessen realisierte er gemeinsam mit der japanischen Regisseurin Mariko Saga den Kurzfilm Need to know, welcher auf dem vierzehntägigen Festival de Cannes seine Erstaufführung hatte.