Sprechstunde – die Sprachkolumne
Fruchtbare Worte
Immer wieder kommt unserem Kolumnisten seine geliebte Großmutter in den Sinn. Für ihn verkörperte sie die Einheit von Sprache und Leben. An ihre Ratschläge erinnert er sich oft – gerade auch in schwierigen Zeiten.
In jenen wiederkehrenden Augenblicken, in denen ich nicht weiter weiß, mich vor dem Leben fürchte, erwische ich mich dabei, wie ich an meine Großmutter denke. Genauer: An Sätze, die sie, als sie noch lebte, hin und wieder sagte, und die ich nun wie Talismane verwahre. Worte, die für manche belanglos klingen könnten, mir aber Kraft, Hoffnung oder einfach Trost geben.
Aufruf zur Tat
Ja, ich weiß: Was sind schon Worte? Wir alle kennen irgendeine Variante des Gemeinplatzes „Taten, nicht Worte!“ – sei es als didaktische Aphorismen („Schöne Worte sind nicht viel wert, wenn keine Taten folgen“), Ermahnungen („Rede nicht, handle!“) oder weise und auch etwas kitschig anmutende Sentenzen („Die Wahrheit erkennt man nicht an schönen Worten, sondern an leisen Taten“). In meiner lateinamerikanischen Kindheit, geprägt von einem christlichen Weltbild, war der Appell biblischer Natur. Man sagte oder hörte oft den Satz „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, womit man – vielleicht, ohne es immer bewusst zu tun – die Lehren Jesu aus dem Matthäus-Evangelium zitierte.All diese Worte drücken dasselbe aus: Du kannst so viel sagen und beteuern, wie du willst – wenn auf deine Worte keine Taten folgen oder noch schlimmer, wenn dein Verhalten deinen Worten widerspricht, dann waren diese wirkungslos. Oder: Man erkennt, wer jemand wirklich ist, an seinen „Früchten“, nicht seinem Gelaber. Und doch sind es die Worte meiner Großmutter, die mich begleiten und ermutigen, wenn ich zweifle. Warum?
Worte als Wegweiser
Weil es besondere Menschen gibt, bei denen Worte und Taten zusammenkommen. Wenn das, was sie gesagt haben, das einzige ist, was uns von ihnen bleibt, werden ihre Worte zu mächtigen Wegweisern. Die Mutter meiner Mutter war eine einfache, unauffällige Hausfrau, die es nie leicht im Leben hatte, kein Gymnasium besuchte, sehr bescheiden lebte – und doch, wie es mir scheint, einige wichtige Dinge verstanden hat. Und sie lebte, wie sie sprach. Es rührt mich heute, wenn ich feststelle, wie manche ihrer Sprüche aufeinander aufbauen und sich gegenseitig abrunden. Sie sind wie Elemente einer nie komplett ausgesprochenen Lebensansicht, die ich hoch schätze.Manchmal sagte meine Großmutter: „Man stirbt und nimmt nichts mit.“ Damit meinte sie auf ihre Art, es hätte wenig Sinn, materielle Reichtümer anzuhäufen. Man könne ja nichts davon mit ins Grab nehmen. Und so hätten all die Gegenstände, die sie uns nach ihrem Tod hinterließ, in einem einzigen Koffer Platz gehabt – wohingegen am Tag ihrer Bestattung die trauernden Verwandten und Bekannten gar nicht alle in die Kirche passten.
Den oben erwähnten Satz ergänzte sie oft mit dem – unter Umständen kühnen, ja sogar riskanten – Ratschlag: „Wenn dir jemand etwas anbietet, sag ja!“ Das bedeutete nichts anderes als: Das Leben ist jetzt, genieß also die Chancen, die sich dir bieten, zögere nicht, sie anzunehmen. Denn man weiß nicht, ob sie so bald wieder kommen werden. Dabei bezog sie diese Neugier, Lebensbejahung und Großzügigkeit nicht nur auf sich selbst, sondern wusste sie auch auf ihre Mitmenschen zu richten. So reagierte sie – etwa wenn ich mit einem Freund zur Mittagszeit bei ihr auftauchte und sie fragte, ob er bei uns essen dürfte – mit blasphemischen Worten, die ich liebte: „Wenn es für uns alle in der Hölle genug Platz gibt, gibt es den bestimmt auch hier.“ Der Freund durfte also bleiben.
Den Moment genießen
Unter all den bewahrten und den vergessenen Sätzen meiner unvergessenen Großmutter gibt es einen, der in diesen Tagen (aber eigentlich an allen) immer wieder in meinem Kopf hallt: „Alles kommt und alles vergeht.“ Die Bedeutung des Satzes ist klar, auch wenn es schwer ist, konsequent danach zu handeln: Die Probleme, Sorgen und Ängste, die uns plagen, sind nicht für immer. Aber eben auch nicht der Erfolg, die Freude über einen Sieg, die Glücksgefühle. Auch sie vergehen. Aus dem Mund meiner Großmutter war dieser Leitsatz aber nicht entmutigend, im Gegenteil: Er enthielt eine andauernde Aufmunterung. Und er war die Quelle der gelebten Formeln ihres eigenen, großherzigen „Carpe diem“.Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle vier Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.