Artist in Residence: Ein Monat in Nanjing
An einem der letzten Augusttage klingelt das Telefon, Nora Gomringer ist dran. Wir kennen uns nur flüchtig, ich bin einigermaßen überrascht. Noch überraschter bin ich, als sie fragt, ob ich für einen Monat nach China möchte, und zwar noch dieses Jahr. Als „Artist in Residence“ auf Einladung des Goethe-Instituts und der Uni Nanjing.
Erste Reaktion: China? Woher soll ich denn wissen, ob ich das möchte?
Zweite Reaktion: Die wollen mich doch gar nicht. Die wollen eine „richtige“ Autorin; eine, die einen Roman geschrieben hat, mit dem das Goethe-Institut sich schmücken kann. Keine Übersetzerin, die ein kleines Spaßbuch geschrieben hat.
Dritte Reaktion (und erste vernünftige): Was für eine Frage, natürlich will ich!
Am 6. September kommt die offizielle Einladung, und am 3. November sitze ich im Flugzeug nach Nanjing. So schnell kann’s gehen.
China! Was für ein Land! China haut mich erstmal um.
In Nanjing ist es immer und überall laut und voll. Die Leute rempeln, drängeln und rotzen. Letzteres, nachdem sie unter beträchtlicher Geräuschentwicklung offenbar ganze Möbelstücke aus ihren Bronchien heraufbefördert haben. Und dann der Straßenverkehr! Autos halten sich einigermaßen an rote Ampeln, die unzähligen Mopeds nicht. Wenn ein Fußgänger im Weg ist, bremsen sie nicht, sie hupen. Das ist gut, denn sie sind elektrisch betrieben, und man hört sie nicht. Über den chaotischen Straßenverkehr sagt man mir zweierlei: erstens, es würde trotzdem nie-nie-niemals irgendwas passieren, zweitens, es gebe natürlich am laufenden Band Unfälle.
Die Leute machen „heimlich“ Fotos von Ausländern, vor allem von solchen, die über 1,80 groß und blond sind. Manchmal auch nicht heimlich, manchmal kommen sie auf mich zu, kichern kurz (es sind fast immer Frauen) und geben mir dann zu verstehen, dass ihr Freund jetzt ein Foto von sich und mir machen wird. Das ist keine Frage, sondern eine Mitteilung. Sie gucken einem in die Handtasche, ins Portemonnaie und lesen auf dem Handy mit. Ich kämpfe mit dem Jetlag und möchte in den ersten Tagen ziemlich oft einfach meine Tür und die Augen zumachen. Das nennt man wohl Kulturschock. Und Jetlag.
Aber alle Leute, die ich kennenlerne – allen voran Frau Xu vom Goethe-Institut, die Professorinnen Yin und Kong von der Deutschabteilung der Uni und die Studierenden – sind ganz unglaublich reizend. Sie kümmern sich rührend um mich („Als erstes brauchst Du Taschentücher, es gibt nirgends Klopapier“), sie betüddeln mich und sorgen dafür, dass ich in den ersten Tagen abgeholt, zur Uni gebracht und zum Einkaufen begleitet werde, und sie sagen mir immer wieder, ich solle sie jederzeit anrufen, wenn etwas ist. Ich werde genau im richtigen Maß umsorgt und in Ruhe gelassen. Das hilft mir sehr, denn tatsächlich spricht da draußen niemand auch nur ein Wort Englisch, und ich bin anfangs wirklich nicht sicher, wie ich allein zurechtkommen soll.
Aber im Laufe der Zeit stelle ich natürlich fest: klar komme ich allein zurecht. Natürlich kann ich allein U-Bahn fahren, und natürlich kann ich irgendwo hinfahren und herumlaufen und mir die Sehenswürdigkeiten oder Museen suchen oder einfach durch die Stadt stromern und gucken. Mich irgendwo hinsetzen und dann weitergehen und hoffen, dass mir die nächste Metrostation schon von allein begegnen wird. Ich habe einen Stadtplan, der sowohl chinesisch als auch alphabetisch beschriftet ist, was soll denn passieren? Natürlich komme ich zurecht. Und Essen gibt es sowieso an jeder Straßenecke für fast kein Geld, es gibt unzählige Köstlichkeiten (und einiges Undefinierbares), es gibt kleine Supermärkte und Kioske, und wenn man sich nicht verständigen kann, dann verständigt man sich eben nicht. Man kommt ja trotzdem immer an, und man bekommt immer etwas zu essen und zu trinken.
In der ersten Zeit bin ich meist mit den deutschen Studierenden unterwegs. Sie nehmen mich abends mit zum Essen, was nett ist, weil es meistens weder englische Speisekarten noch Fotos gibt, und sie machen ein paar Ausflüge mit mir. Die erste richtig große Sache, die ich allein mache, ist eine Fahrt nach Shanghai, für drei Tage. Dort habe ich auch den ersten ganz großen „Wow!“-Moment. Aber vorher streite ich mich noch mit dem Taxifahrer, der mir viel zu viel Geld abknöpfen will. Ich bin schon lange genug in China, um zu wissen, dass das ein Phantasiepreis ist. Also steige ich wieder aus, nehme ein anderes Taxi, das den Taxameter anmacht, und fühle mich schon ganz professionell. Ich lasse mich ins Hotel bringen und gehe dann bald los, biege nach hundert Metern um die Ecke und stehe am Bund. Es ist herrliches Wetter, auf der anderen Seite des Flusses liegt das Finanzviertel, diese Skyline, die man von Bildern kennt, die Wolkenkratzer glitzern, der Fluss glitzert, und ich denke: Wow, wow, wow. Du bist in Shanghai! Das ist doch irre.
Ich habe das Gefühl, jetzt geht es erst richtig los. Ich bin allein unterwegs, was natürlich wunderbar funktioniert, laufe drei Tage herum und gucke und mache Sachen und besichtige und lasse mich massieren und erkunde die Stadt und finde alles toll.
Und dann fahre ich zurück nach Nanjing und empfinde alles gar nicht mehr als so erschlagend, sondern habe plötzlich das Gefühl, die Zeit rennt mir davon, es sind keine zwei Wochen mehr, ich will doch noch so viel machen und sehen! Also lege ich auch in Nanjing richtig los, ich besichtige Tempel und Pagoden, steige auf Berge und gucke runter und bin immer wieder aufs Neue fasziniert vom Smog. Fast alle meine Fotos sehen aus wie durch ungeputzte Fenster geknipst.
Aber ich bin schließlich nicht als Touristin hier, sondern gehe auch vier Stunden pro Woche an die Uni, um über „Das literarische Leben in Deutschland“ zu berichten und auch praktisch mit den Studierenden zu arbeiten. Erst spreche ich über das Übersetzen und wie das Leben als Übersetzerin in Deutschland so ist. Wir versuchen, ein Stück aus Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ ins Chinesische zu übersetzen. Ein Experiment, denn zum einen ist das Original recht anspruchsvoll, zum anderen kann ich zur chinesischen Übersetzung gar nichts sagen. Dann lesen wir zusammen eine Weihnachtsgeschichte, und die deutschen Studierenden und ich erzählen von deutschen Weihnachtsbräuchen. Zum Abschluss spreche ich über das Schreiben und lasse die Studierenden dann selbst Texte produzieren; auf Deutsch, also für sie in der Fremdsprache. Die Ergebnisse sind beeindruckend, wir lachen beim Vorlesen viel und sind manchmal sehr berührt.
Ich habe mich an die Stadt gewöhnt, an das Treiben auf der Straße, und empfinde auch die Leute gar nicht mehr als so rüpelhaft. Kleine Kinder zum Beispiel – sie sind meistens mit ihren Großeltern unterwegs – sind unfassbar friedlich, freundlich und gut gelaunt. Man sieht fast nie ein Kind weinen, quengeln oder Theater machen. Wieder bekomme ich zwei Thesen zu hören, die eine sagt, sie wären halt strenger erzogen als die verwöhnten deutschen Blagen, die andere sagt, das seien ja alles Einzelkinder, sie würden daher total verwöhnt und hätten nie Grund, sich zu beschweren.
Oder die Gruppen von älteren Leuten, die sich mit ihren Diabolos auf einem großen Platz treffen und die unglaublichsten Kunststücke vorführen. Wundervolle Stimmung, wundervolle Leute! Wir gucken lange zu und dürfen es am Ende kurz auch ausprobieren.
Ich besichtige noch mehr Tempel, Freilichtmuseen und nachgebaute Altstädte und gehe in die Kun-Oper. Alles großartig, ich staune und will mehr davon. Aber was mich in Nanjing spontan am meisten begeistert, ist die Librairie Avant-Garde, eine Buchhandlung in einer ehemaligen Tiefgarage. „Chinas schönste Buchhandlung“, heißt es. Die Buchhandlung ist riesig, fast viertausend Quadratmeter, und voll mit Übersetzungen europäischer Klassiker aus Literatur, Philosophie, Wirtschaft, Politik, ich bin schwer beeindruckt. Eine Ecke mit Kunstbüchern. Erstaunlicherweise gibt es keine fremdsprachigen Bücher, es ist alles auf Chinesisch. Dazu ein Café und ein kleiner Schnickschnackbereich. Ich setze mich ins Café, trinke einen Kaffee, es läuft „Perfect day“ von Lou Reed, und ich fühle mich zu Hause. In einer Tiefgarage am anderen Ende der Welt, wo ich (fast) keins der vorhandenen Bücher lesen kann.
Als letztes großes Highlight vermitteln Frau Xu und Frau Yin mir noch einen Besuch bei Zhu Yingchun, einem der renommiertesten Buchgestalter Chinas. Einer der deutschen Studenten geht mit, Jan Risser, der sehr gut Chinesisch spricht und Zhu und mich dolmetscht. Zhu zeigt uns sein Büro und seine Schätze – wunderschöne Bücher, die ich am liebsten gleich alle kaufen würde (na gut: die ich tatsächlich gleich kaufe, wenn auch nicht ganz alle). Er kocht uns Tee und erzählt von seiner Arbeit, wir haben einen unglaublich netten und inspirierenden Nachmittag.
Und es ist der letzte. Ich habe das Gefühl, mich gerade erst eingelebt zu haben, da ist der Monat schon rum, und ich reise ab. Dabei habe ich so vieles nicht gemacht! Ich muss mir noch ein Buch von Zhu signieren lassen, das ich dummerweise nicht sofort gekauft habe. Ich war nicht im Ausgehviertel „1912“. Ich war nicht in Peking, und ich habe die Mauer nicht gesehen. Ich habe viel zu wenig gegessen, vor allem zu wenig Ungewöhnliches. Ich war nicht in Hongkong und nicht in Hangzhou. Ich habe mir kein Kleid nähen lassen, ich habe keine Wasserkalligrafie gesehen und kein Tai Chi gemacht. Das geht so natürlich nicht, ich werde noch mal hinmüssen.
Isabel Bogdan, *1968 in Köln, studierte Anglistik und Japanologie in Heidelberg und Tokyo. Lebt in Hamburg, weil es da so schön ist. Liest, schreibt, übersetzt (u.a. Jane Gardam, Jonathan Safran Foer, Nick Hornby, Jasper Fforde). 2012 erschien ihr erstes eigenes Buch, „Sachen machen“, bei Rowohlt, 2016 der erste Roman, „Der Pfau“, bei Kiepenheuer und Witsch. 2006 erhielt sie den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzung, 2011 den für Literatur. Isabel Bogdan ist Vorsitzende des Vereins zur Rettung des „anderthalb“ und wurde 2014 zusammen mit Maximilian Buddenbohm für das Interviewprojekt „Was machen die da?“ zur „Bloggerin des Jahres“ gekürt.