Ein Monat in Göttingen
Am Goethe Institut gibt es ein tolles Projekt. Jedes Jahr besuchen ein Schriftsteller aus Nanjing und einer aus Göttingen das jeweils andere Land. Die beiden "Austauschautoren" logieren allerdings nicht als Touristen im Hotel sondern führen mitten in einer Wohngegend ein bodenständiges Leben.
Ich habe offen gesagt schon an allen möglichen Formen des Kulturaustauschs teilgenommen, aber der Monat in Göttingen war doch etwas Besonderes. Ich lebte jeden Tag wie ein echter Göttinger. Ich bereitete mir mein Essen eigenhändig mit deutschen Küchenutensilien zu und hantierte beim Saubermachen mit deutschen Putzgeräten. Ich aß deutsches Brot, trank deutsches Bier und war bei jungen Leuten auf einer Geburtstagsparty eingeladen. Ich habe eine Grund- und eine Mittelschule sowie einen Kindergarten besucht und mich mit Obdachlosen unterhalten. Ich glaube, als der Monat um war, hatte ich diese Stadt bereits in mein Herz geschlossen.
Die Voraussetzung dafür, etwas lieb zu gewinnen, ist, dass man sich darauf einlässt. In meinen Augen ist Kulturaustausch nichts anderes: Man muss sich zunächst einmal einlassen. Wenn man dieser Welt mit einem Mindestmaß an Respekt begegnen will, muss man anerkennen, dass Kulturunterschiede etwas ganz Natürliches sind. Es sind die Unterschiede, die unsere Welt im Wesentlichen ausmachen. Doch wie passe ich mich diesen Unterschieden an? Beim Kulturaustausch ist dies der entscheidende Schritt.
In das Leben einzutauchen, ist dabei natürlich eine der effektivsten Methoden. Am zweiten Tag meiner Ankunft in Göttingen ging ich vormittags in die Stadt. Vor dem Eingang eines Vodafone-Shops begegnete ich einem Straßenmusiker. Er war zwar über sechzig Jahre alt, sang aber überaus ambitioniert. Da ich von dem Lied keine einzige Zeile verstand, fragte ich ihn, ob das ein deutsches Volkslied sei. Er bestätigte das und erzählte mir, er sei in Deutschland der einzige Sänger, der auf Deutsch singen würde. Zur Bekräftigung hob er einen Finger: "Only one." Ich konnte das nicht glauben. Wie konnte es sein, dass er in Deutschland als einziger auf Deutsch singt?
Eines lässt sich allerdings kaum verhehlen, die Popmusik wird weltweit mittlerweile fast zur Gänze von der englischen Sprache dominiert. In London, Paris, Mailand, New York, Zürich und Chengdu, in Neu-Delhi und Hongkong, überall hört man Straßenkünstler englische Lieder trällern. Vor diesem maßgeblichen Hintergrund gibt es aber auch immer Einzelne, die entschlossen sind, an ihren eigenen kulturellen Besonderheiten festzuhalten. Es ist paradox: Einerseits befindet man sich ständig im Austausch und andererseits verteidigt man seine Pfründe. Doch daraus ergeben sich auf unserer Welt auch die spannendsten Konstellationen.
Dieses Paradoxon wiederholt sich auch in meinem Leben. Als ein chinesischer Romanschriftsteller ist es natürlich mein tiefer Wunsch, meine Identität als "chinesischer Autor" zu betonen. Doch gleichzeitig drängt es mich in meinem Innersten genauso danach, ein breiteres Kulturverständnis zu gewinnen. kann ich also Frieden finden, solange zwei Herzen in meiner Brust schlagen? Es gibt darauf eine positive und schöne Antwort: Ja, ich kann. Denn Kultur ist wie ein Hefezopf, der sich aus dem Beharren auf Althergebrachtem und der Absorption von Neuem formt. Ganz gleich, wie man den Zopf auch flechtet, er wird immer duften.
Ich möchte mich beim Goethe Institut und dem Zentrum für Kulturaustausch der Universität Göttingen aufrichtig dafür bedanken, dass man für mich mit viel Sorgfalt eine so originelle Lesung vorbereitet hat. Vor einigen Jahren hatte ein Übersetzer namens Marc meinen Roman Die Mondgöttin (青衣) ins Deutsche übertragen. Nun ließ man einen Auszug aus dem Roman ins Chinesische rückübersetzen. Die Veranstaltung war überaus interessant und wertvoll. Zunächst las ich den Text auf Chinesisch, anschließend wurde der deutsche Text gelesen und schließlich wurde die "chinesische Übersetzung" vorgetragen. In der Gegenüberstellung der zwei unterschiedlichen chinesischen Fassungen, wurden für uns die Erträge der Literaturübersetzung - man könnte auch sagen des Kulturaustauschs - sichtbar.
Der Wert dieser Lesung zeigte sich im Anschluss an den Vortrag, als ich mit deutschen und chinesischen Studenten und selbstverständlich auch mit Leuten, die aus der Stadt gekommen waren, über die feinen Abweichungen zwischen den beiden chinesischen Versionen diskutierte. Am Beispiel des im Roman beschriebenen Banketts fiel uns über die Sprache der eklatante Unterschied zwischen zwei Arten von "Tischkultur" auf. Eine Deutsche, die meinen Roman vor ein paar Jahren gelesen und offensichtlich nicht verstanden hatte, brachte es auf den Punkt: Ihr war damals nicht klar gewesen, dass an dieser Stelle ein "Essen" beschrieben wurde, vielmehr hatte sie vermutet, es würde eine "Sitzung" geschildert. Ich klärte sie darüber auf, dass ein "Bankett" in China zugleich Politik und Wirtschaft sei, sowohl Ethik als auch Hierarchie. Solange man das chinesische "Bankett" nicht verstanden habe und dessen Sprache nicht beherrsche, werde man China niemals richtig kennen.
Unserer Diskussion entspann sich fort und wir kamen auf die Sprache zu sprechen. Uns allen war ein interessantes Phänomen aufgefallen. Während es in meiner originalen Romanvorlage viele "le"-Partikel (了) gab, waren diese in der übersetzten chinesischen Version allesamt weggefallen. So unscheinbar das Wörtchen "le" in der chinesischen Sprache auch erscheinen mag, so bedeutend ist dessen Mission für den sprachlichen Ausdruck. In den westlichen Sprachen haben Verben einen Tempus und eine Konjugation. Diese sprachlichen "Gesetze" gibt es im Chinesischen nicht. Meiner Meinung nach besitzt die Grammatik westlicher Sprachen ein akademisches Element, sie tendiert eher zur Wissenschaft. Das Chinesische hingegen steht der Ästhetik nahe. Es ist weniger streng und genau das macht seinen Charme und seine Faszination aus. Durch ein winziges "le" kann man nicht nur ausdrücken, dass etwas "in der Gegenwart abgeschlossen" ist, ebenso kann man ausdrücken, dass etwas "in der Vergangenheit abgeschlossen" wurde. Mit anderen Worten: Im Chinesischen schwingt viel mehr zwischen den Zeilen mit und die Sprache ist erstaunlich dehnbar. Aus diesen Gründen kann es bei uns zwar keinen Kant und keinen Hegel geben, aber dafür hat die chinesische Zivilisation vor über zweitausend Jahren die Menschheit um einen Laozi (老子) und einen Zhuangzi (庄子,莊子) bereichert.
Das Goethe Institut setzt seine Arbeit fort. Mir ist klar, dass junge und noch jüngere Generationen den Austausch weiterführen werden. Doch werden im Zuge des zukünftigen Austauschs die unterschiedlichen Kulturen weiter verschmelzen? Oder werden sie ihre Eigenheiten deutlicher herausstellen? Zugegeben, ich habe darauf keine Antwort. Aber ich gebe bereitwillig zu, dass ich diese Ungewissheit sehr schön und faszinierend finde. Ich sehe mich gerne als einen Leser des deutsch-chinesischen Kulturaustauschs und ich werde ihn Seite für Seite weiter verfolgen.
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©Deutsch-chinesisches Institut für Interkulturelle Germanistik und Kulturvergleich der Universität Göttingen
Lesergespräch mit Bi Feiyu in Göttingen
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©Deutsch-chinesischen Institut für Interkulturelle Germanistik und Kulturvergleich der Universität Göttingen
Lesergespräch mit Bi Feiyu in Göttingen
Bi Feiyu (毕飞宇), geboren 1964 in Xinghua (兴化), Provinz Jiangsu, ist ein berühmter Schriftsteller und Professor an der Nanjing Universität. Er graduierte 1987 am Institut für Chinesische Sprache und Literatur der Pädagogischen Universität in Yangzhou, wo er anschließend fünf Jahre im Lehrbereich arbeitete. Außerdem war er tätig als Dozent an der Nanjinger Schule für Sonderpädagogik, als Journalist der Nanjinger Tageszeitung und ist seit 2013 Ehrenprofessor an der Nanjing Universität. Sein Roman Sehende Hände (推拿, dt. von Marc Hermann, Blessing-Verlag, 2015) wurde mit dem 8. Mao Dun Literaturpreis ausgezeichnet, der Roman Frau in der Stillphase (哺乳期的女人) erhielt den renommierten Lu Xun Literaturpreis für Kurzgeschichten, der Roman Yu Mi (玉米, engl. Three Sisters) wurde mit dem Lu Xun Literaturpreis und dem Man-Asia-Literaturpreis ausgezeichnet. Weitere bedeutende Werke sind Die Mondgöttin (青衣), Die Ebene (平原) und Der panische Finger (慌乱的指头)