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Keep Wuhan Walking
DYSTOPISCHES WUHAN

Wuhan bei Nacht
© Roman Kierst

Endlich hat die Uni wieder begonnen. Es ist der 1. September, 145 Tage nach dem Ende des Lockdowns.

Von Liu Lutian (刘璐天)

Fotos von bunten Bettdecken dominieren die Titelseiten der Medien: Nach einem halben Jahr in den verschlossenen und verstaubten Schlafsälen wurden sie zum Lüften hinaus gebracht, liegen auf Sportplätzen, hängen auf lange verwaisten Fußballtoren und in den Fenstern der Wohnheime. Diese Szenen symbolisieren die zurückgekehrte Lebenskraft der Stadt: die jungen Leute sind wieder da. Laut Angaben des Bildungsministeriums und des Wuhaner Statistikamtes gibt es in Wuhan 83 tertiäre Bildungseinrichtungen (2019), beinah so viele wie in der Hauptstadt Peking. Die Zahl aller eingeschriebenen Fach-, Bachelor- und Master-Studierenden beläuft sich auf über 1,16 Millionen. Das sind mehr als ein Zehntel der ständigen Einwohnerschaft Wuhans.

Meine Mutter ist Dozentin an einer dieser Hochschulen. Einer der drei Campus war als Quarantänezone genutzt worden, die Personen aus den Notfall-Krankenhäusern Huoshenshan und Leishenshan aufnahm, welche in engem Kontakt zu Covid-19-Patienten gestanden hatten. Am 2. September ging meine Mutter das erste Mal wieder in die Uni. Da sie Ende des Jahres pensioniert werden wird, sind dies die letzten vier Monate, in denen sie direkten Kontakt mit den Studierenden hat. Ihre erste Stunde begann morgens um acht und dauerte 90 Minuten, es kamen fast 70 Personen. Anders als früher kam niemand zu spät und keiner verließ zwischendurch den Raum, um auf die Toilette zu gehen. Nach der Stunde fragte meine Mutter: „War das jetzt gut so?“, woraufhin alle Anwesenden in Applaus ausbrachen.

Meine Mutter stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Der Online-Unterricht des vergangenen halben Jahres hatte ihr sehr zu schaffen gemacht. Die Studierenden in dieser untergeordneten Lehranstalt kommen fast alle aus der Provinz Hubei, aus Kleinstädten rund um Wuhan. Ihre Familien sind nicht sehr wohlhabend. Zwei Drittel der Schüler in der Klasse meiner Mutter haben zuhause keinen Computer, sodass sie während des Sommersemesters nur über ihre Handys am Unterricht teilnehmen konnten. Um die Qualität der Videos und Audios zu gewährleisten, lernte meine fast 60-jährige Mutter zwischen virtuellen Tencent-Konferenzen und dem schulinternen Netzwerk hin und her zu switschen, außerdem bekam sie einen Kopfhörer mit Mikro für ihr 12 Jahre altes Thinkpad. Aber natürlich konnte das den normalen Präsenzunterricht nicht wirklich ersetzen: „Man hat keinen Blickkontakt und sieht die Reaktionen der Schüler nicht“. Ein Student aus dem zweiten Jahrgang sprach mit ihr nach der ersten Stunde über seine Eindrücke, dabei erwähnte er weder die Pandemie noch den Online-Unterricht, sondern er sprach über seine Sorge, ob er sich an die neue Umgebung gewönnen können würde, nachdem er einer neuen Fachrichtung zugeteilt worden war. 

Meine Mutter und der Student kamen zu einer ähnlichen Schlussfolgerung: Abgesehen davon, dass man überall Gesichtsmasken und Gesundheitscodes sah, hatte sich eigentlich nicht viel geändert. Nach dem das Leben wieder in seine normalen Bahnen zurückgekehrt war, waren die drängenden Probleme nun wieder Kleinigkeiten des Alltags. Im sogenannten „New Normal“ sind die Probleme also immer noch dieselben, denen sich Wuhan schon länger gegenüber sieht.

Der Einzelhandel: ein Aspekt der urbanen Konsumlandschaft

Während die Hochschulen ihren Unterricht online abhielten, wichen die Einkaufszentren auf Live Streaming und elektronische Handelsplattformen aus.

Keine drei Kilometer entfernt von der Hochschule, an der meine Mutter arbeitet, liegt das Optical Valley. In den lokalen Medien wird es oft als „Wuhans Silicon Valley“ bezeichnet. Am 20. Mai traf ich im vierten Stock der World City in der Optical City Fußgängerzone die 43-jährige Zhou Hang aus Anhui. Sie war gerade dabei, ihr Geschäft aufzulösen. Zhou Hangs Geschäft hat die Rückkehr der Studenten nicht erlebt. Vor über zehn Jahren kam Zhou Hang nach Wuhan und arbeite bis 2019 in der Händlerstraße Hanzheng Jie. 2019 mietete sie einen 60 Quadratmeter großen Verkaufsraum an, für den sie eine Monatsmiete von über 20.000 Renminbi zahlte. Hier verkaufte sie Bekleidung für Mädchen und Frauen zu unterschiedlichen Preisen von zwanzig, dreißig bis zu mehreren hundert Renminbi. Ihre Kunden waren vor allem Studentinnen der nahen Hochschulen und manchmal überstieg ihr Tagesumsatz die 10.000 RMB-Marke. „Nach dem Ausbruch der Corona-Epidemie konnte ich froh sein, an einem Tag 200 RMB einzunehmen. Und auch wenn ich am 8. April, also am Tag der Aufhebung des Lockdowns, das Geschäft wieder aufgemacht habe, so hat es doch bis Anfang Mai gedauert, bis die Geschäfte wieder in Gang kamen.“

Weil die Unis noch geschlossen waren und viele Nachbarschaften ihre Isolation noch aufrecht erhielten, liefen die Geschäfte sehr mau. Nach 17 Uhr kamen praktisch keine Kunden mehr. Weil die Ladenlokale in der Fußgängerzone fast alle privat vermietet werden, gab es auch keine Nachlässe, und zur Ladenmiete kamen jeden Monat noch 2000 RMB Nebenkosten hinzu. Zhou Hang sah sich nicht in der Lage, diese Kosten zu stemmen, und beschloss, das Geschäft zuzumachen. Ihre Lagerbestände mit Winterkleidung im Wert von mehreren zigtausend RMB ließ sie von einem anderen Geschäft zu Schleuderpreisen abwickeln.

Im sogenannten „New Normal“ sind die Probleme also immer noch dieselben, denen sich Wuhan schon länger gegenüber sieht.

In den zwei Monaten nach dem Ende des Lockdown waren Konkurse und Ladenschließungen Gang und Gäbe. Wie die Berichte einiger Beratungsfirmen zeigen, lag die Erholungsrate der Kundenzahlen in einigen Wuhaner Kaufhäusern an den Feiertagen zum 1. Mai bei nur 40,6 % und damit unter dem Durchschnitt von 56,6 % in den neuen 1st tier-Städten. Von etwa 20 kommerziellen Immobilienprojekten, deren Eröffnung für 2020 geplant war, werden nach Schätzungen nur etwa ein Viertel realisiert werden. Nach Statistiken des Wuhaner Gastronomieverbandes hatten bis zum 20. Juni nur 43 % der Unternehmen den Betrieb ihrer Gaststätten wieder aufgenommen, bei den Außerhausverkaufsstellen waren es 78 %. 

Dies hat die Einzelhändler, die lange Zeit nur vom „Neuen Einzelhandel” sprachen, endlich dazu gebracht, zu handeln. Dem neuen Phänomen wurden unterschiedliche Namen verpasst wie „Wirtschaft ohne Berührung“, Live Streaming Sales, oder „Heim-Wirtschaft“. Die Hongkonger Shopping Mall K11 und die taiwanisch investierte Qunguang Mall (Chicony Electronics) promoten mithilfe von Wechat Mini-Programmen abwechimmer neue Rabattaktionen im Livestream für Produkte von Kosmetik bis hin zu Möbeln. Hu Chunhui, Manager der Modekette HCH, die ist seit über zehn Jahren in Wuhan ansässig ist und hier fünf Boutiquen betreibt, sagte mir, dass das Unternehmen während des Lockdowns den Kontakt zu den alten Kunden und Kundinnen über WeChat-Gruppen und Freundeskreise aufrecht gealten habe, wodurch die monatlichen Umsätze auf einem Niveau von über 100.000 RMB gehalten werden konnten. Aber der Druck der hohen Lagerbestände habe ihm deutlich gemacht, dass die Verkäufe nicht auf Wuhan beschränkt bleiben durften, und so richte HCH einen Flagship Store auf der Internetplattform Tmall.com ein.

Kaum jemand spricht darüber, was das konkrete Ergebnis dieser Lösungen ist. Aber nach einem Bericht in der Changjiang Daily haben die Umsätze im Online-Handel in Wuhan im zweiten Quartal 2020 53,2 Milliarden RMB erreicht, ein Plus von 46,6% gegenüber dem ersten Quartal. Dazu haben vielleicht auch die Nukleinsäuretests beigetragen, die vom 14. Mai bis 1. Juni an allen Bürgern durchgeführt wurden. Von 9,9, Millionen Einwohnern, die getestet wurden, wurde bei 300 Personen, die keine Symptome zeigten, das Virus festgestellt, sonst aber gab es keine Erkrankten. Danach wurden die Vorschriften zur Sperrung und zu den Beschränkungen der Wohnviertel nach und nach gelockert. So sahen die von verschiedenen Stellen veröffentlichten Zahlen Ende Juni auch schon viel besser aus. In der Chu River Han Straße mit ihren vielen Boutiquen und Geschäften mit Fast-Fashion-Produkten wurden am Drachenbootfest vom 25. bis zum 27. Juni rund 250.000 Besucher gezählt und die Umsätze erreichten in disen drei Tagen 18 Millionen RMB. Der Onlinezahlungsdienstleister Alipay meldete, dass die Umsätze in der für die Gastronomie berühmten Jiqing Straße 61 % höher waren als am Feiertagswochenende zum 1. Mai. Die Zahl der Käufer stieg um 96 %. Auch am Wuhan Xintiandi stiegen die täglichen Umsätze um 37 % gegenüber dem 1. Mai und die Besucherzahlen um 53 %.

Das Virus war ein Katalysator, es hat die Entwicklungen einfach beschleunigt.

Im Juli wurde es dann brütend heiß und gewitterte ständig, das Thermometer stieg auf 39 Grad. Viele Leute, die draußen unterwegs waren, trugen ihre Gesichtsmasken unter dem Kinn. Obwohl an den Eingängen der Shopping Malls immer noch die Codes zum Scannen des Gesundheitszustandes, die Infrarot-Temperaturmessgeräte und Desinfektionsroboter installiert waren, konnten die Leute doch schon ungehindert hinein gelangen und wurden nicht mehr gezwungen, den ganzen Prozess durchzumachen. Die Gespräche drehten sich nun immer weniger um das Virus, sondern wandten sich den Überschwemmungskatastrophen zu.

Tatsächlich ist der sogenannte „neue Einzelhandel“ schon seit Oktober 2016 Teil des Diskurses um eine neue Wirtschaft, und zwar seit Alibabas Gründer Jack Ma diesen Begriff auf einer Apsara Konferenz benutzte. Aber in Wuhaner Einzelhandelskreisen hielt dies nur sehr langsam Einzug. Verglichen mit anderen neuen 1st tier Städten weist Wuhans Einzelhandel einige Besonderheiten auf. Die erste U-Bahnstrecke Wuhans wurde erst 2012 in Betrieb genommen, so dass sich die Geschäftsbezirke erst spät ausweiten konnten. Erst ein Jahr zuvor hatte man begonnen, die Umsiedlung der alten traditionellen Industriebetriebe aus dem Zentrum in die Stadtbezirke außerhalb des dritten Rings ins Auge zu fassen, um im Zentrum Platz für den tertiären Sektor zu schaffen. Weil das Stadtzentrum eigentlich komplett in den Händen von vier börsennotierten Tochterfirmen großer Staatsunternehmen war, nämlich Wuhan Department Store, Zhongbai Holding Group, Wuhan Zhongshang Commercial Group sowie Hanshang Group, konnten Unternehmen von außerhalb und nicht-staatliche Firmen erst sehr spät in Wuhan Fuß fassen. Erst 2010 eröffneten im Wanda Plaza am Lingjiao See in Hankou die ersten Outlets von Zarah und H&M. 2017 eröffnete im Opticical Valley das K11 und versuchte, einige Kundenerlebnisstrategien, die in Shanghai sehr erfolgreich waren, auch in Wuhan einzuführen, zum Beispiel Do-it-yourself-Angebote. Aber sie mussten feststellen, dass das Interesse hierfür nur sehr begrenzt war. Was besser ankommt, sind Milchtee-Stände.

2019 betrugen die Einzelhandelsumsätze in Wuhan insgesamt 745 Milliarden RMB, womit Wuhan landesweit an sechster Stelle lag. Abgesehen von Beijing, Shanghai und Guangzhou kam Wuhan damit gleich hinter Chongqing und Chengdu. Das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen beträgt allerdings nur 60 % von jenem in Beijing und Shanghai. Die Menschen hier legen wert auf ein günstiges Preis-Leistungs-Verhältnis. „Sie sind nicht so modisch und experimentierfreudig wie man denkt“, sagte mir ein Manager des Immobilienberatungsunternehmen Debenham Thouard Zadelhoff, kurz DTZ.

Im September 2019 kaufte der von Tencent kontrollierte Yonghui Superstore Anteile an der Zhongbai Holding Group im Wert von 69 Millionen RMB. 2021 sollen K11 (Hankou), Plaza 66 und MIXC in Wuhan neu eröffnen, so dass neue, diversifizierte Handelsakteure in diese zentralchinesische Stadt Einzug halten. „Früher haben die Leute gedacht: ‚Es ist egal, ob ich ein Online-Geschäft eröffne oder nicht, mein Kundenstamm bleibt doch der selbe‘“, sagte der Manager von DTZ noch, „Das Virus war ein Katalysator, es hat die Entwicklungen einfach beschleunigt.“

East Lake – ein öffentlicher Raum der Stadt

Am 15. August 2020 fand am Fuße des Moshan Berges eine Veranstaltung mit dem Namen „Spring in den See“ statt. Sie dauerte von nachmittags zwei Uhr bis abends um halb acht. Die jungen Teilnehmer trugen fluoreszierende, orangefarbene Rettungswesten und sprangen mit Anlauf von dem roten Bootssteg ins Wasser. Unter den Bäumen standen ein paar weiße Zelte. Ein DJ legte Musik auf und ein lokaler Bäcker und ein Craft-Bierstand sorgten auf diesem improvisierten Markt für das Wohlbefinden der Anwesenden.

„Die Menschen brauchen was, was ihre Stimmung aufbaut, sie brauchen Ermutigung und sie müssen nach vorne schauen“, so der Manager der Bar Nr. 18, genannt „Kahlkopf“, und einer der Organisatoren. Unser Gespräch fand an dem Tag statt, als der Lockdown von Wuhan aufgehoben wurde. Außer Kahlkopf waren noch ein paar Journalisten und Fotografen da. Ob die grandiose Lightshow entlang der Flussufer an jenem Tag notwendig war, darüber waren wir geteilter Ansicht, genauso wie über die Frage, ob die „Spring in den See“-Aktion ein Kulturprodukt und eine Art Marketinginstrument für kommerzielle Interessen werden sollte.

Zu Anfang hatte die „Spring in den See”-Initiative nämlich eine völlig entgegengesetzte Bedeutung: Es war eine künstlerisch inspirierte Protestinitiative gegen die Landgewinnungsmaßnahmen eines Immobilienkonzerns am Seeufer. Ende März 2010 kaufte die OCT Group aus Shenzhen für 4,3 Milliarden RMB Grundstücke mit einer Gesamtfläche von 211 Hektar im Landschaftspark am East Lake in Wuhan. Auf dem Gelände sollten zwei große Themenparks (Happy Valley und Water Fun Park), zwei Luxus-Wohnanlagen und zwei Luxus-Hotels gebaut werden. Wie jedoch die TIME-Journalistin Yao Haiying bei Recherchen herausfand, befanden sich 30 Hektar der verplanten Fläche von OTC direkt am Seeufer oder sogar im See, was Auffüllungen wahrscheinlich erscheinen ließ. Nach dem der Bericht veröffentlicht worden war, riefen die Pläne von OTC zahlreiche Bürgerproteste hervor. Obwohl die OTC Group öffentlich bekannt gab, dass der Medienbericht nicht den Tatsachen entspreche, erschienen danach in den lokalen Medien nur noch positive Meldungen. Bürger aber, die sich die Baustelle ansahen, mussten feststellen, dass die Arbeiten, Teile des Sees aufzufüllen, längst begonnen hatten.

Li Juchuan und der Künstler Li Yu hatten daraufhin die Bewegung „Jedermanns East Lake“ ins Leben gerufen, um „über die Kunst einen Diskussionsraum zu öffnen und jenen, die sich für das Projekt und die Zukunft des East Lake interessierten, eine Gelegenheit zu geben, ihre Meinung zu sagen“. Sie richteten eine Website ein und forderten alle Teilnehmer auf, zu Fuß oder per Fahrrad an den East Lake zu kommen und ein Kunstwerk zu produzieren, das auf den See Bezug nimmt. Zwischen dem 25. Juni und dem 25. August meldeten sich 53 Teams an, die mitmachen wollten, darunter Künstler, Architekten, Designer, Punk-Musiker, Theatermacher, Dichter, Akademiker und Programmierer.  
  
Die Aktion, mit der Liu Zhenyu an dem Projekt „East Lake Plan” teilnahm, hieß: „Mit dem BMX in den See“. Da sein Hobby BMX-Extremfahrradsport war, organisierte er mit anderen BMX-Sportlern vom No Parking-BMX-Laden im Juli 2010 diese Aktion am Seeufer in der Nähe des Lingbo Tors der Wuhan Universität. In seiner Bewerbungsemail an Li Juchuan schrieb Liu Zhenyu, dass er, wenn seine Stimme schon nicht den Willen der Regierung ändern könne, durch sein Projekt zumindest Freude und Freiheit spüren und auch anderen Menschen die Möglichkeit geben wolle, diese Gefühle bewusst zu erleben. Li Juchuan bekräftigte diese Absicht: „Hier wird mit der Schaffung eines individuellen Freiraums gegen die Vereinnahmung des städtischen Raums protestiert.“ Im gewissen Sinn habe Liu kurzfristig die vom machthabenden System eingerichtete Ordnung des Stadtraums gestört.

Die „Jedermanns East Lake“-Initiative hatte letztendlich keinen Einfluss auf die Fertigstellung des OTC Wuhan-Projektes. Anfang 2012 wurde mit „Happy Valley“ der erste Abschnitt offiziell eröffnet. Zuvor war eine Fläche von etwa 13 Hektar des Sees nördlich von Shaojidou sowie ein Teil der ehemaligen Fischteiche in Nullkommanichts aufgefüllt worden. In der Folge wurde auch ein Wohnviertel aus dem Boden gestampft. Der Großteil der Küstenlinie des East Lakes wurde bis heute zur „Grünen Passage“ ausgebaut.

Zwischen 2010 und 2016 fand „Mit dem BMX in den See“ siebenmal statt. Ab dem dritten Mal im August 2012 trat die Bar Nr. 18 Bar dabei als Sponsor auf. 2015, also im sechsten Jahr, traten zwischen Liu Zhenyu und anderen Organisatoren Meinungsverschiedenheiten auf. Während Liu fand, das Ziel der Aktion sei der Protest gegen die illegale Landnahme durch die Immobilienfirma, waren andere der Ansicht, dass es um Umweltschutz gehe. Daher gab es in jenem Jahr zwei „Spring in den See“-Aktionen, eine originale unter der Federführung von Liu Zhenyu sowie eine zweite, die zu einem kleinen Musikfestival wurde, mit professionellem DJ, Trampolinen auf dem Wasser und anderen Vergnügungsattraktionen. Es gab sogar Luftaufnahmen, die auf der ersten Seite von Baidu News veröffentlicht wurden.

Die zweite Veranstaltung wurde natürlich vom Markt besser angenommen. Nach der Epidemie kam sie erneut auf die Agenda. Auch die Bautätigkeit, die zeitweilig pausiert hatte, ging weiter. Genaugenommen wurde der Wunsch nach Umgestaltung der Stadt noch drängender. An verschiedenen historischen Straßenzügen, so im Gebiet der Hualou Street und Qingfen Street, hingen schon wieder die typischen roten Banner mit ihren Abriss-Parolen. Auf einem stand: „Die Epidemie hat uns gezeigt, dass wir nicht wissen, was zuerst eintrifft: das Morgen oder das Unerwartete.“ Diskussionen über Gentrifizierung oder den öffentlichen Raum in der Stadt fanden kaum statt.

2020 hat Liu Zhenyu nicht mehr an „Ab in den See” teilgenommen. Zusammen mit Freunden produzierte er unter der Marke „Whistle“ Kaffee. Andere Künstler, die am Anfang dabei gewesen waren, realisierten am 29. August mit vereinten Kräften einige Performance-Aktionen, wobei sie ständig die Orte wechselten. Dabei performten sie u.a. am Grab eines Man-Barbaren-Königs, einer historischen Stätte, die 1959 unter Denkmalschutz gestellt wurde und heute eine wilde Müllkippe ist, sowie an einem noch nicht zur „Grünen Passagen“ umgebauten Abschnitt des Seeufers. „Wir haben zusammen Orte geschaffen, und danach alles wieder aufgeräumt, so als wären wir gar nicht da gewesen“, erklärte einer der teilnehmenden Künstler im Nachhinein.

Die Einwohner – eine Herausforderung für die Stadtentwicklung

Die 32-jährige Zhang Li ist Verkäuferin in dem Modeladen Urban Rivivo. Früher arbeitete sie 186 Stunden im Monat, aber seit der Epidemie ist ihre Arbeitszeit auf 90 Stunden reduziert und sie erhält monatlich 1000 RMB weniger als vorher. Weil sie zusammen mit ihrem Mann einen Wohnungskredit von monatlich 4000 RMB abbezahlen muss, macht sie sich einerseits große Sorgen, andererseits schätzt sie sich glücklich, dass sie ihre Arbeit nicht ganz verloren hat.

Zhang Lis Sorgen lassen sich mit Zahlen untermalen: Wie eine Untersuchung der Wuhaner Marktforschungsfirma Hengnuo zeigt, haben 41,18 % der Firmen Löhne gekürzt und Personal entlassen, um Fixkosten zu sparen.

Auch die Lage der Absolventen der 83 Hochschulen ist alles andere als rosig: Sie stehen vor der Entscheidung, im In- oder Ausland weiter zu studieren oder sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Wegen der Pandemie haben sich die diesjährige Frühlings-Jobmesse, die Aufnahmeprüfungen für die Masterstudiengänge und die Verteidigungen der Abschlussarbeiten alle verzögert. Nach Angaben der Ämter für Humanressourcen und soziale Sicherung der Stadt Wuhan und der Provinz Hubei werden aktuell 317.000 Studierende ihren Hochschulabschluss machen, 9,3 % mehr als 2019. In der Provinz Hubei werden es über 440.000 Absolventen sein, in ganz China 8,7 Millionen. 

2018 nahmen 2,38 und 2019 2,85 Millionen Menschen an den Aufnahmeprüfungen zum postgraduierten Studium teil. In diesem Jahr sollte diese Zahl um 560.000 auf 3,41 Millionen hochschnellen. Das Bildungsministerium veröffentlichte allerdings nur eine Zahl von 189.000 neuen Masterstudienplätzen.

Die Hochschulen organisieren eine nach der anderen Online-Jobmessen. Eine Absolventin der Universität  Wuhan sagte im Interview mit lokalen Medien, dass sie einerseits Schwierigkeiten damit habe, dass ihr ganzes Leben nur durch ihren Lebenslauf bestimmt werden solle, sich andererseits aber auch sorgte, dass sie, selbst wenn sie eine Stelle fände, diese gar nicht beizeiten nach ihrem Uniabschluss im Juni antreten können Die Hochschulen organisieren eine nach der anderen Online-Jobmessen. Eine Absolventin der Universität Wuhan sagte im Interview mit lokalen Medien, dass sie einerseits Schwierigkeiten damit habe, dass ihr ganzes Leben nur durch ihren Lebenslauf bestimmt werden solle, sich andererseits aber auch sorgte, dass sie, selbst wenn sie eine Stelle fände, diese gar nicht beizeiten nach ihrem Uniabschluss im Juni antreten können werde.

Das Personalamt der Provinz Hubei verkündete im März, dass die Stellen für Staatsbedienstete um 20 % auf etwa 6.800 aufgestockt werden sollten. Der leitende Rechnungsprüfer des Amtes für Humanressourcen und soziale Sicherung der Stadt Wuhan, Wu Gang, sagte auf einer Pressekonferenz im April, dass die Stadt sich anstrengen werde, „das Vorhaben, für eine Million Absolventen von Wuhaner Hochschulen Arbeitsplätze zu schaffen oder ihnen die Firmengründung zu erleichtern, mit konkreten Angeboten zu realisieren“.

Das Vorhaben, für eine Million Absolventen von Wuhaner Hochschulen Arbeitsplätze zu schaffen oder sie zur Firmengründung zu motivieren, wurde im Februar 2017 mit dem Ziel ins Leben gerufen, dass sich innerhalb von fünf Jahren eine Million Absolventen in der Stadt niederlassen sollten. Jene, die sich entschieden, ihren Hukou in Wuhan zu registrieren, erhielten Vergünstigungen von 20 % auf dem Wohnungsmarkt, egal ob beim Mieten oder Kaufen. Die Bedeutung des Hukous in China muss nicht extra betont werden, der Zugang zu Bildung und ärztlicher Versorgung sowie die Sozialversicherung, alles hängt damit zusammen und Hukou-Inhaber werden bevorzugt. Die Initiative zeigte Wirkung, im selben Jahr entschieden sich 142.000 Absolventen zum Bleiben, sechsmal mehr als im Vorjahr.  
 
Die Abwanderung von qualifiziertem Personal war und ist ein Problem für Städte wie Wuhan, die nicht zur ersten Riege gehören. Als erste Stadt hatte Shenzhen, das schon in den Rang einer 1st tier-Stadt erhoben worden war, 2016 eine Vorzugspolitik für Hochschulabsolventen eingeführt. 2017 folgten Xi’an, Urumqi, Fuzhou, Changsha, Chengdu und 14 weitere Städte mit eigenen Programmen, die Fachkräfte anziehen sollten. Wuhan war auch dabei. Das erste Halbjahr 2018 war noch nicht vorbei, als weitere 14 Städte ähnliche Initiativen bekanntgaben.

Am 18. Dezember 2019 gab die Fachkräfteabteilung der Personalstelle des Wuhaner Stadtparteikomitees bekannt, dass mit 31. Oktober 2019 das Ziel von 1 Million bereits erreicht war, also zwei Jahre früher als geplant. 12 Tage später veröffentlichte das Wuhaner Gesundheitsamt jene „Eilmeldung über die Behandlung von Pneumonie-Fällen unbekannten Ursprungs“.

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