Literatur
Ulrike Syha
In der Mitte des Wohnheimzimmers ist ein Loch entstanden. Ein Schwarzes Loch, wie sich herausstellen soll, das zunächst nur Gegenstände, später dann aber auch eine nachts heimkehrende Studentin verschluckt.
Währenddessen geht das Leben auf dem Campus weiter, Paare finden und trennen sich, Freunde diskutieren ihre Zukunftspläne oder die der angesagten Filmstars, und manchmal fliegen auch ganz schön die Fetzen: Einer schnarcht zu laut, klaut dem Nachbarn eine Waschmünze oder beschallt die anderen im Acht-Bett-Zimmer schon wieder mit einem Zuviel an koreanischen Seifenopern. Vor vielen Jahren hat es in eben diesem Wohnheim einen ungeklärten Mord gegeben, ab und an werden unheimliche Doppelgänger gesichtet und manchmal verschwinden sogar ganze Gebäudeteile auf mysteriöse Weise, während die Studenten – das We-Chat-Programm auf dem Smartphone immer geöffnet – vom Seminar in die Bibliothek oder vom Sportplatz in die Mensa hetzen.
Dieses Wohnheim gibt es natürlich nicht. Oder besser gesagt: Es will sich einfach nicht so leicht lokalisieren lassen. Irgendwo zwischen dem alten Campus im Zentrum von Nanjing und dem gigantischen neuen Campus draußen vor den Toren der Stadt muss es liegen, irgendwo zwischen der Provinz Jiangsu und dem herbstlich ungemütlichen Göttingen. Die Germanistik-Studenten und ich haben dieses Wohnheim gemeinsam erfunden und darüber zwei kleine Stücke geschrieben, eines im 4. Studienjahr und eines in der Klasse der Master-Studenten. Und fairerweise muss man dazusagen: Der Anteil der Studenten an dem Projekt war vergleichsweise größer als meiner, denn sie haben die eigentlichen Szenen geschrieben (und das auch noch auf Deutsch!) – ich habe nur korrigiert und aus der Textsammlung eine lockere Szenenfolge gebaut, die wir zum Abschluß den anderen Studenten und Dozenten in einer kleinen Lesung vorgestellt haben.
Ich bin diesen Herbst über das Writer-in-Residence-Programm des Goethe-Instituts und der Universität Nanjing nach China gekommen, von Haus aus bin ich eigentlich Dramatikerin. Kurz nach meiner Ankunft habe ich in der Germanistik-Abteilung einen Einführungsvortrag über die aktuelle deutsche Theaterlandschaft und ihre historischen Bedingungen gehalten, den ich später auch an der Universität Suzhou wiederholt habe. In den wöchentlichen Seminaren wollte ich aber nicht nur über Dinge reden, mit denen ich mich berufsbedingt gut auskenne. Meine schriftstellerische Neugierde hat mal wieder gesiegt, die beinahe diebische Freude daran, sich mit etwas auseinanderzusetzen, mit dem man sich eben NICHT auskennt. Und so haben wir uns im Laufe des Schreibworkshops einem Thema zugewandt, über das die Studenten deutlich mehr wissen als ich: das Leben im „sushe“, dem Wohnheim auf dem Campus.
Diese Idee ist für mich völlig aufgegangen. Durch das Schreiben und den gemeinsamen Austausch über das Geschriebene habe ich einen sehr persönlichen, sehr vielschichtigen Einblick in das Leben junger Chinesen erhalten.
Außerdem habe ich selbst auch auf dem Campus gewohnt: auf dem lebendigen Gulou-Campus ganz in der Nähe der Stadtmitte mit ihrem zentralen Platz und der darauf thronenden Statue von Sun Yat-Sen. „Zhongshan“, wie er auch genannt wird, der auch heute noch omnipräsente „Vater“ der ersten chinesischen Republik, deren Hauptstadt Nanjing Anfang des 20. Jahrhunderts einmal war.
Die Reise nach Nanjing war nicht meine erste Reise nach China. Ich komme seit einigen Jahren regelmäßig ins Land, aus beruflichen wie aus privaten Gründen, aber die Unterbringung auf dem Campus und die Nähe zum Alltag der Studenten hat diesen Aufenthalt wirklich besonders gemacht. Direkt vor meinem Fenster gab es einen faszinierenden Kosmos zu entdecken, unzählige Szenen und Geschichten, die sich irgendwo zwischen völliger Fremdheit und plötzlicher Vertrautheit bewegten.
Wenn ich nicht gerade an der Uni zu tun hatte (und nicht gerade damit beschäftigt war, Geschäftsbesitzer und Stadtbewohner mit meiner nach Jahren des Lernens immer noch sehr eigenwilligen Verwendung der chinesischen Töne in die Verzweiflung zu treiben), bin ich oft einfach stundenlang durch die Stadt gelaufen. In China spielt das Leben sich viel mehr auf der Straße ab als in Deutschland, und die Schriftstellerin in mir kann sich einfach nicht satt sehen an all seinen Facetten.
Nanjing ist als Stadt für lange Streifzüge zudem mehr als geeignet. Groß, aber eben doch nicht ganz so groß wie Beijing oder Shanghai, nicht ganz so hektisch, nicht ganz so überlaufen (nicht mal in der Nähe der Touristen-Attraktionen, von denen es durchaus zahlreiche gibt). Dazu eine fast liebliche Landschaft mit Seen, baumbestandenen Bergen, Palmen, Bambus und platanengesäumten Alleen. Selbst im Oktober herrscht noch ein angenehmes Spätsommer-Klima und bei Zugfahrten in die Städte der Umgebung kann man sich einen plastischen Eindruck von der immensen Größe dieses Landes verschaffen.
Gut, im Vergleich zur Hauptstadt oder den Ballungszentren an der Küste ist das kulturelle Angebot vielleicht etwas kleiner, aber dennoch passiert auch im Bereich der Gegenwartskunst einiges. Besonders das Toki-Festival hat mich fasziniert, bei dem der Versuch gemacht wurde, zeitgenössische und traditionelle Künstler aus China, Japan und Singapur zusammenzubringen. No-Theater, Peking- und Kun-Oper treffen auf Theaterformen des 21. Jahrhunderts, immer im gleichen rudimentären Bühnenbild, immer in zwanzigminütigen Kurzstücken. Ein Ritt durch die Zeiten.
Genau dieser Ritt durch die Zeiten ist ein Gefühl, das einen in China ohnehin nie ganz loslassen will. Die scheinbare Simultaneität von allem, die Überlagerung von unterschiedlichen Kulturen und Lebensstilen, das Verschmelzen von Gestern und Morgen in einer vibrierenden Gegenwart.
Ich möchte mich herzlich bei allen bedanken, die meinen Aufenthalt in Nanjing ermöglicht und mir das Einleben vor Ort so leicht gemacht haben, vor allem bei den Kollegen in der Germanistik-Abteilung und der Kontaktstelle des Goethe-Instituts. Ich hoffe, dass noch viele andere Künstler von diesem Austauschprogramm profitieren werden, sowohl auf deutscher als auch auf chinesischer Seite.
Meine Begeisterung für China und seine unzähligen Gesichter ist jedenfalls ungebrochen - ich denke bereits darüber nach, wann und wie ich wiederkommen kann. Aber schon vorher werden viele der Eindrücke und Beobachtungen aus Nanjing ihren Weg in meine schriftstellerische Arbeit finden, da bin ich mir sicher.
Ulrike Syha wurde 1976 in Wiesbaden geboren. Nach einem Studium der Dramaturgie in Leipzig und einer längeren Assistenz-Zeit am Schauspiel Leipzig lebt sie heute als freie Autorin und Übersetzerin von Dramatik in Hamburg. Ulrike Syha war u.a. Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude, des Literarischen Colloquiums in Berlin, der Deutschen Akademie Rom (Casa Baldi) und des Hessischen Literaturrats (Aufenthaltsstipendium Litauen).
Sie wurde u.a. mit dem Kleist-Förderpreis für Junge Dramatiker, dem Hamburger Förderpreis für Literatur, dem Robert-Gernhardt-Preis und dem Walter-Serner-Preis ausgezeichnet, und ihre Stücke wurden mehrfach zu den Mülheimer Dramatikertagen eingeladen. Außerdem ist sie seit 2014 Koordinatorin des Deutschsprachigen Komitees von EURODRAM. Ulrike Syha war 2015 „Writer in residence“ in Nanjing und wird im Jahre 2016 im Rahmen eines Grenzgänger-Stipendiums der Bosch-Stiftung nach China zurückkehren.