Literatur
Cao Kou
Eine Stadt mit gutem Erinnerungsvermögen
Anders als kleinere Städte, wie Göttingen oder Hamilton, ist Berlin eine Metropole. Ihre Größe zeichnet sich wie in China am Menschengewimmel und herumliegenden Abfall ab. Deutsche Kleinstädte sind da ganz anders, da sieht man kaum Abfall. Das heißt also auch: Größe zieht Verwaltungsprobleme mit sich, ist aber auch toleranter. Das Dulden von Abfall entspricht ihrer Toleranz.
In Filmen, oder in meinem Eindruck, ist Berlin ein düsterer, verschlossener Ort, mit manteltragenden Männern, deprimierten und bisweilen hysterisch wirkenden Gesichtern. Dies wegen der Herrschaft von Hitler, und aufgrund von Filmen wie Berlin Station. Heute ist es natürlich nicht mehr so, und womöglich war es auch gar nicht so. Es ist einfach eine Hauptstadt wie andere auch, mit hoch entwickeltem Verkehr wie in Beijing, oder vermutlich besser als in Beijing, jedenfalls sind mir keine Staus aufgefallen. Mit seinem Baumbestand erinnert Berlin auch entfernt an Nanjing, an dessen gar nicht so breiten und ähnlich gewundenen Straßen. Gewiss, das waren in Zeiten des Kalten Krieges womöglich auch „natürliche“ Schutzbereiche für Spione beider Seiten.
Ursprünglich hatten mir Freunde in Frankreich geraten, nach Paris zu gehen. Sie meinten, Deutschland sei zu sehr vom Krieg zerstört worden, erst in Paris bekäme man wirklich etwas von der europäischen Stadtkultur zu sehen. Allerdings, die Brandmale des Krieges sind in Berlin allgegenwärtig, ganz besonders auch am Reichstag. Dieser ist heute nur noch eine Fassade, innen besteht er gänzlich aus einer modernen Glas-Konstruktion. Einst kreisten englische und amerikanische Flieger beständig über Berlin (bildhaft als „Hitlers Nest“ bezeichnet) und warfen unzählige Bomben ab. Eine blühende Stadt mit jahrhundertelanger Handelstradition, die 1936 mit großer Prunk- und Machtdemonstration die Olympischen Spiele gefeiert hatte, stürzte in sich zusammen. Freilich fand der Wiederaufbau Berlins noch in der Zeit vor der Teilung Deutschlands statt, als Berlin noch größtenteils unter der Kontrolle Ostdeutschlands stand. Um dem westlichen Imperialismus eine gewisse Überlegenheit zu demonstrieren, wurden Bombenkrater, Einschusslöcher und andere Spuren der Zerstörung schnell beseitigt, abgelöst durch breite Alleen mit stabilen Bauwerken im sowjetischen Stil, wie etwa an der Karl-Marx-Allee. Das war in der Tat eine „mustergültige Allee“, eine „Vorzeigestraße“. Die städtische Ästhetik im osteuropäischen Sozialismus ist von einer Gleichförmigkeit, dass man sie bildhaft als „Ostdeutschlands Chang’an-Straße“ auszeichnen könnte. Glücklicherweise hat die deutsche Regierung all dies nach der Wiedervereinigung nicht aus ideologischen Gründen niedergerissen. Sogar die riesigen Bronzebüsten von Marx und Engels stehen noch da, jeder auf seinem Sockel, mit buschigem Haar und Bart, revolutionär in alle Ewigkeit.
Die Berliner Mauer, womöglich noch bekannter als die Chinesische Mauer, ist zwar abgerissen worden, doch an den Stützpfeilern sind Kennzeichen abgebracht, die an ihre einstige machtvolle Existenz erinnern. Nicht selten sieht man auch übriggebliebene Mauerruinen. Von Graffitikünstlern mit allerlei Bildern und Schriftzügen in buntgrellen Farben vollbesprüht, erinnert nichts daran, dass die Mauer einst ein Sinnbild von Trennung und Terror war. Allein die Porträts von ehedem erschossenen Mauerspringer erinnern uns noch an das, was hier einst geschah, und von Passanten hingelegte, verdorrte Blumen zeugen noch von schmerzvoller Trauer.
Was mir besonders zusagt, ist die Art und Weise, wie die Deutschen mit ihren Kulturdenkmälern umgehen. Man hat den Eindruck, als ob gar nicht auf deren „lehrreiche Bedeutung“ Acht gegeben würde. Sie werden nicht eingezäunt und Touristen vorgeführt, sondern einfach weiter genutzt, so lange sie ihren Zweck erfüllen. Und zwar nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Städten Deutschlands, die ich besucht habe. So auch der bereits erwähnte Reichstag: Von außen betrachtet sieht er aus wie einst, während das von Bomben zerstörte Innere, seit es neu ausgestattet wurde, weiterhin den Abgeordneten als Raum zum Debattieren dient, genau wie vor hundert Jahren, Gerede am laufenden Band, ein endloser Stimmenlärm.
Ich weiß nicht, wie ich über die „europäische Stadtkultur“ denken würde, wenn ich nach Paris gegangen wäre. Ehrlich gesagt mag ich Städte wie Berlin, und zwar nicht nur deshalb, weil sich diese Stadt für Chinesen besonders eignet (man kriegt die ganze Nacht über zu essen und kann Zigarettenstummel achtlos zu Boden werfen), sondern auch weil es eine Stadt mit starker Erinnerung ist – eine Stadt, in der Geschichte und Gegenwart ineinanderfließen, der man nie überdrüssig wird.
Cao Kou, geboren im September 1977, ist Romanautor.
Veröffentlicht wurden die Romansammlung Cao (操, Huaidan-Verlagsplan, 2009), Zum Sterben gern (喜欢死了, Jiangsu Wenyi Verlag, 2010), Immer mehr (越来越, Jilin Publishing Group Ltd., 2011), Ein Baum auf dem Dach (屋顶长的一棵树, Zhejiang Wenyi Verlag, 2012), Leg dich nieder, dann ist’s wohler (躺下去会舒服点, Huaqiao Verlag, 2014), sowie die Essaysammlung Lebensfragmente (生活片, Chongqing University Verlag, 2013).