Literatur
Lea Schneider

herbst in nanjing
 
dies ist die südlichere hauptstadt, die hauptstadt, die keine mehr ist. ihr regierungspalast ist nicht europäisch. ihr regierungspalast ist so europäisch wie eine kolonialvilla. ihr regierungspalast kann für 40¥ besichtigt werden, und dann bleibt man den ganzen tag. die regierung blieb bis zum winter 1937. als sie ging, wurden die stadttore versperrt. in den nächsten sechs wochen tötete die japanische armee 400.000 zivilisten. in den nächsten vier wochen vergewaltigte die japanische armee 20.000 frauen. die stadtmauer steht noch, sie kann für 20¥ besichtigt werden, und dann bleibt man den ganzen tag. es ist die einzige komplett erhaltene stadtmauer in china. ich habe das nicht gewusst.
 
im wulongtan-park klebt die hitze. alles könnte sehr neu oder sehr alt sein, der unterschied will sich nicht einstellen. ich schreibe briefe an t., der neben mir im schatten liegt. ich schreibe briefe an c., der sie in einer europäischen kleinstadt liest, das heißt: ich schreibe briefe in die vergangenheit. l. sagt, das liegt daran, dass hier alles gleichzeitig passiert; dass die gegenwart eine auf 350km/h beschleunigte gleichzeitigkeit ist.
 
genau das ist das problem, sagt b., und greift nach ihrem bier: wir haben keine zeit zum nachdenken. meine studenten brauchen 30 jahre um zu merken, was sie eigentlich wollen, und dann haben sie schon das gemacht, was alle anderen tun. was wir dringend brauchen, sagt b., ist individualismus. sie meint damit etwas anderes als ich.
 
x. sagt, der individualismus wird kommen, es dauert nur noch ein bisschen.
 
h. sagt, er muss in letzter zeit ständig an die 70er denken, es fühlt sich an, als kämen die 70er zurück, und ich frage mich, was würde ich alles nicht für selbstverständlich halten, wenn ich die generation meiner eltern wäre, oder die generation davor, wofür würde ich mehr kämpfen, wovor hätte ich mehr angst. in den 70ern gab es keine presse, nur regierungszeitungen, sagt h. vor drei monaten hat er seinen job als chefredakteur aufgegeben und eine werbe-firma gegründet.
 
dies ist nicht die stadt der schwalben. es ist die stadt, die man vergessen hat. vergessen: wàngjì, wörtlich: vergessen, sich etwas zu merken. natürlich, man kann das auch anders sagen. dies ist kein gedicht über den zu kurz gedachten zusammenhang von sprache und denken. dies ist im besten fall: ein loch im papier, das groß genug ist, um durchzuwollen. groß genug, um die fische dahinter schwimmen zu sehen. die pokémon.
 
also alles sammeln, weil alles verschwinden wird: die ingwerscheiben und die muskatbrühe, die 20x20cm großen gehwegplatten, je ein kreis, vier schwünge und sechzehn quadrate am rand – ein auge mit sehr viel schlaf in den ecken. den nudelstand und den pfannkuchenstand, den mann vom mobilen schlüsseldienst, der am straßenrand seine zeitung liest, einen wasserschlauch im garten der universität. die fetten, schlafenden campus-katzen, radios, lautsprecherdurchsagen, ein auto-alarm, der sich in den platanen verfängt, rote bänder in den ästen und fahrräder, lastenräder, zìxíngchē. liùshí niándàii de zìxíngchē, sagt s., fahrräder wie aus den 60ern: wo immer sie hinfahren, fahren sie durch staubiges nachmittagslicht.
 
nostalgie, sagt s.: eine hitze, in der sich alles verschläft, schwer wird und an wichtigkeit verliert. die straßen gehen an hügeln entlang, an etwas vertraut mediterranem. in nanjing denke ich zuerst an italien und dann an etwas, das ich nicht mehr vergleichen muss, um es gern zu haben.
 
in nanjing sehe ich eine armut, die wie müdigkeit aussieht, eine armut, die alles verkauft, dessen sie habhaft werden kann, dinge, von denen ich nicht wusste, dass man sie verkaufen kann, eine armut, die riesige plastiksäcke mit sich herumträgt, eine armut, von der ich nicht weiß, wo sie schläft.
 
in nanjing sehe ich platanen, wo immer ich hinkomme, die meisten davon wurden gepflanzt, bevor die regierung ging. nanjing ist eine stadt aus platanen, eine stadt aus parks und seen, deren große glücksgeschichte noch nicht geschrieben ist. in nanjing gibt es ein beständiges sägen, das keines ist, ein schubsen heiserer zirper vom ast. wenn ich vorbeikomme, dimmen die grillen kurz ihre lautstärke. als ob sie ihnen peinlich sei.
 
dieses land ist kompliziert, sagt b. schwer zu sagen, ob das gut oder schlecht ist, es ist auf jeden fall interessant. keine ahnung, was in zwei jahren sein wird; ich weiß ja kaum noch, wie es vor zwei jahren war.
 
also alles sammeln, weil alles verschwinden wird: sonnenschirme, tomaten mit zuckerguss, die kneipenmeile hinter dem campus, den xuanwu-see, wenn man von der stadtmauer herunterschaut, die regattastrecke der ruderboote – winzige nadeln zwischen den inseln, dicken blumenkohlköpfen im see. y. sagt, nach der schule sei sie hierhergekommen, wenn sie allein sein wollte. y. sagt, ich soll mehr trinken, duō hē diǎn, und das sagen alle. gekochtes wasser, kāishuǐ: geöffnetes wasser.
 
y. sagt, alle warten darauf, dass die immobilienblase platzt; y. sagt, sie weiß noch nicht, ob sie dann wieder nach berlin geht. als y. zum ersten mal nach berlin ging, dauerte es zwei monate, bis die mauer fiel. 1989, das war ein furchtbares jahr für china, sagt y., ich bin danach lange nicht mehr zurückgekommen. während ich sie ins herz schließe, frage ich mich, was ich eigentlich von ihr hören will. y. arbeitet für den staat. y. sagt, sie hat keine lust mehr auf auswärtige kulturpolitik, die nur aus kalligraphie-kursen besteht; y. sagt, china ist komplizierter als das. ja, sage ich, und darum ist es ja so interessant. y. lächelt müde.
 
und unter uns liegt der see, liegt die ruhe einer stadt, die man vergessen hat, auf chinesisch: die ruhe einer stadt, an die man vergessen hat, sich zu erinnern; die ruhe einer seit den 50er jahren irgendwie übersehenen stadt; die ruhe einer stadt mit 8 millionen einwohnern.
 

Lea Schneider (*1989 in Köln) lebt nach längeren Studienaufenthalten in China und Taiwan als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin, wo sie mit dem Lyrikkollektiv G13 an Gedicht-Performances und Formaten des kollektiven Schreibens arbeitet. 2014 erschien ihr Debütband „Invasion rückwärts“ im Verlagshaus Berlin, der u. a. mit dem Dresdner Lyrikpreis ausgezeichnet wurde. 2016 folgte das an der Grenze von Lyrik, Prosa und Bildender Kunst operierende E-Book „O0“ (in Kooperation mit Tillmann und Sebastian Severin). Als Übersetzerin und Kuratorin chinesischer Gegenwartslyrik war sie für das poesiefestival berlin, lyrikline.org und die Bundeskulturstiftung tätig. Zuletzt erschienen ihre Übersetzungen des chinesischen Dichters Yan Jun („internationaler tag der reparatur“, hochroth berlin, 2016) und die Anthologie „CHINABOX. Neue Lyrik aus der Volksrepublik“, die sie als Übersetzerin und Herausgeberin betreut hat.

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