Sozialwissenschaftler
Jan Assmann
In einer Gesellschaft, die all ihre Hoffnungen in die Zukunft setzt, behaupten allerdings Akademiker wie Jan Assmann, dass es wichtig ist, zurückzuschauen.
Von Vanesa Díaz
Die Gedächtnisforschung tauchte in den 1980er Jahren in den französischen Sozial- und Geisteswissenschaften auf, um die Möglichkeiten und Herausforderungen des Studiums dieser menschlichen Fähigkeit in einem anderen Licht zu betrachten: Woran wollen wir uns erinnern? Welche Quellen sind gültig, um die Vergangenheit zu erfassen? In einer Gesellschaft, die all ihre Hoffnungen in die Zukunft setzt, behaupten allerdings Akademiker wie Jan Assmann, dass es wichtig ist, zurückzuschauen. In der Tat argumentiert dieser deutsche Autor, dass Vergangenheit und Gegenwart eng miteinander verbunden sind: Gerade in Bezug auf die Vergangenheit formt der Einzelne seine Identität.
Dieser Prozess der Identitätsbildung ist laut Assmann keine ausschließlich subjektive Tatsache. In der Tat ist es durch die Loslösung der Erinnerung von der individuellen menschlichen Erfahrung möglich, über die Mechanismen nachzudenken, die am Prozess der Identitätskonstruktion eines Kollektivs beteiligt sind. Er erklärt dies in seinem Buch Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und Politische Identität in Frühen Hochkulturen, (C.H. Beck 1992/2005), wo er die Rolle des Gedächtnisses bei der Konfiguration kultureller Identitäten beleuchtet. Durch den Vergleich dreier großer Mittelmeerkulturen der Antike, Ägypten, Israel und Griechenland, analysiert er die Art und Weise, wie gemeinsame Erinnerungen kulturell organisiert sind und welche Transformationen sie im Laufe der Zeit erfahren.
Obwohl es scheint, dass die Studie des deutschen Professors durch ein paar Jahrtausende von der Gegenwart getrennt ist, erlauben uns diese Fortschritte, uns der Idee des Gedächtnisses als einem aktuellen kulturellen und sozialen Phänomen zu nähern. Die Idee des kommunikativen Gedächtnisses gestattet es uns, Generationen als zeitlich weit voneinander entfernt, aber kulturell und sozial durch ihre Prozesse des Erinnerns und Vergessens verbunden zu verstehen: das kulturelle Gedächtnis. Diese Perspektive hinterfragt, wie wir uns auf die Vergangenheit beziehen und postuliert, dass sich eine historische Tatsache zwar nicht notwendigerweise ändert, jedoch die Art und Weise, wie sich eine Gemeinschaft auf sie bezieht, von sozialen Variablen abhängt und tatsächlich verändert werden kann.
Woran wollen wir uns erinnern? Welche Quellen sind gültig, um die Vergangenheit zu erfassen?
Die Art und Weise, wie wir Erfahrungen benennen, beeinflusst notwendigerweise, wie wir die Vergangenheit wahrnehmen und welchen Platz wir in Bezug auf sie einnehmen. Diese Botschaft wird deutlich in Wem gehört die Geschichte? (Supposé, Audio-CD, 2011), eine Diskussion, in der Jan Assmann und die Wissenschaftlerin Aleida Assmann aufzeigen, dass die Identifikation mit der Geschichte der Schlüssel zum Verständnis ist wem sie gehört: Wenn die Erzählung oder die Fakten uns in keiner Weise herausfordern, fällt es uns schwer, uns mit dem, was sie vermitteln, zu identifizieren.
Assmanns Kulturanalysen sind auch deshalb relevant, weil sie die Bedeutung der Begegnung mit anderen Kulturen aufzeigen; diese Möglichkeit der Konfrontation zwischen dem Eigenen und dem Fremden wird gerade durch das kulturelle Gedächtnis ermöglicht. Professor Assmann erklärte bei der Verleihung des Preises der Balzan Stiftung (2017) an ihn und Aleida Assmann, dass „Kulturen keine abgeschlossenen Einheiten bilden, sondern ineinandergreifen und aufeinander reagieren. In diesem Sinne erweist sich das kulturelle Gedächtnis Europas als eine spannungsreiche Beziehungsgeschichte, die niemals stillzustellen ist.“ Die Botschaft hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können, denn die internen Spannungen in der Europäischen Union scheinen stärker zu sein als die gemeinsamen Bande, die durch Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte entstanden sind.