Bilder der Erinnerung
Der Malecón von Cartagena oder das Initiationserlebnis von Gleichheit
In unserer neuen Reihe „Bilder der Erinnerung“ erzählen verschiedene Kolumnistinnen und Kolumnisten von Orten, die für sie eine besondere Bedeutung haben. Im Rahmen des Regionalprojekts der Goethe-Institute in Südamerika, „Die Zukunft der Erinnerung“, laden wir regelmäßig Autorinnen und Autoren ein, ihre Erinnerungen mit uns zu teilen. Der kolumbianische Schriftsteller Roberto Burgos Cantor über sein Bild der Erinnerung: das Leben am Meer von Cartagena.
Der Malecón ist nicht. Er war. Nichts ist mehr übrig. Er ist verschwunden. Die Erinnerung habe ich aus meiner Kindheit in diesem Stadtteil von Cartagena namens El Cabrero. Ein sehr eigentümlicher Ort. Teil davon war die Straße Calle Real, asphaltiert, wenngleich etwas holperig, weil der Asphalt dem Gewicht der Überschwemmungen nicht standhielt. Die andere Straße war der Malecón, ein Weg am Meer. Haben Sie schon ein Bild vor Augen?
Die Flut drang in die Häuser und womöglich war das in diesem Augenblick die einzig wirkliche Tragödie. Dass das Meer in die Häuser eindrang, war für die Kinder aber ein Anlass zu großer Aufregung und Freude.
El Cabrero war ein langgezogener Stadtteil, der sich von der nördlichen Seite der Stadtmauer bis zu einem anderen, sonderbaren Stadtteil hin erstreckte, der Marbella hieß. Auf einer porösen steinernen Mole stellten sich in aller Frühe die Angler auf, um ihr Glück zu versuchen. Die Häuserreihen, die El Cabrero zugewandt standen, blickten zur Kirche La Ermita. Hinterher kam ein für diese Zeit moderner Bau, der Reisbauern gehörte. Die Menschen, die auf dieser Seite wohnten, waren Bootsbesitzer.
Eine der Eigentümlichkeiten des Stadtteils lag darin, dass er gewisse Kleinigkeiten an sich zog, die ihm seinen Charakter gaben. Wir, meine Familie und ich, wohnten in der gegenüberliegenden Häuserreihe, unter den Akademikern, die gerade ins Leben starteten: Ärzte, Architekten, Ingenieure. Durch unsere Haustüren trat man auf die Calle Real, wenn man aber über die Hinterhöfe hinausging, gelangte man auf den Malecón.
Zwischen zwei Häusern befand sich eine unbebaute Fläche, die El Solar genannt wurde. Dort stand immer eine schwarze Frau, Agripina. Sie war die mit den Fritos, den frittierten Speisen. Ihre Kinder, Neffen und Nichten, ebenfalls schwarz, bildeten das Verkaufsteam und erfanden Lieder zu ihrer Arbeit. Ich lieh ihnen mein Fahrrad und sie liehen mir das Tablett mit den Fritos und am Ende schenkten sie mir etwas davon.
Wenn ich denselben Malecón in Richtung Marbella entlanglief, traf ich auf einen Herrn, Giacometti, muss wohl Italiener gewesen sein. Er präparierte Seegetier, um es zu verkaufen. Und ein Stückchen weiter stand immer der mit der dünnen Stoffhose und nacktem Oberkörper. Jeden Tag klappte er mitten auf dem Malecón sein Bügelbrett auf. Er war Mulatte – und er war Bügler. Ich habe nie erfahren, ob er auch wusch. Er sorgte für großes Erstaunen, da Bügeln nicht als männliche Tätigkeit galt.
Das Potpourri mit dem Bügler, dem Präparator und den Kindern, die die Fritos verkauften, werde ich nie vergessen. Zum Glück war mein Vater ein Liberaler, der den Leuten nie sagte, wie sie zu denken hatten. Er war ein guter Lehrer, aber wir gehörten nicht zu seinen Schülern.
Das ist mein Erinnerungsort, denn hier gab es Dinge, die mein Sein in der Welt beeinflusst haben. Durch die Gegenwart dieser Dinge war ich auf eine Idee von Gleichheit eingestellt. Erst später kam die Entdeckung, dass die übrige Gesellschaft von Cartagena ausgrenzend und rassistisch war. Da machte ich schon das Abitur. Wenn ich dagegen an den Malecón denke, fühlt es sich an wie ein Initiationserlebnis von Gleichheit.