Debatte
„Den Like-Button zu überdenken ist entscheidend“

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Ativistinnen und Aktivisten sowie Expertinnen und Experten für aktuelle digitale Prozesse diskutieren im Rahmen des Projekts Tramas Democráticas über deren Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft.

Von Tânia Caliari

„An was denken Sie, wenn Sie ‚kollektive Dummheit‘ hören?“ Mit dieser Provokation eröffnete Caio Werneck als Kurator der Tramas Democráticas das erste einer Reihe von Gesprächen von Aktivistinnen und Aktivisten sowie Forschenden an Organisationen in Südamerika und Deutschland. Es ging um Herausforderungen, die sich aus der Interaktion von Technologie und Politik bei der Suche nach neuen Formen digitaler Demokratie ergeben.

An der Begegnung über den Youtube-Kanal des Goethe-Instituts São Paulo beteiligten sich im Oktober 2020 Debora Albu vom Instituto Tecnologia Social (ITS) Rio de Janeiro, Marek Tuszynski vom Berliner Tactical Tech, sowie Pablo Ortellado, Koordinator der Forschungsgruppe Öffentliche Politik für den Zugang zur Information der Universität São Paulo. Moderiert wurde die Debatte von Gabi Juns, Koordinatorin des Programms zur Stärkung politischer Innovation des Instituto Update, der Partnerorganisation des Tramas Democráticas für diese Phase.

Weniger naheliegende Konzepte

Wernecks Ansatz ist, wichtige Themen für Öffentlichkeit und Demokratie anhand von weniger naheliegenden Konzepten zu betrachten — über kollektive Dummheit zu sprechen, um sich Gedanken über zivilgesellschaftliche Intelligenz zu machen; Undurchsichtigkeit, um die Transparenz politisch-digitaler Prozesse zu erörtern; Trägheit, um der angesichts digitaler Phänomene so wichtigen gesellschaftlichen Bewegung auf die Spur zu kommen.

„Ich glaube, man sollte Dummheit fast als delay betrachten, einen Zeitversatz zwischen gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen und der Zeit, die diese brauchen, um uns zu erreichen. Manche Transformationen sind viel zu schnell, als dass wir mit ihnen Schritt halten könnten“, vermutete Albu, sekundiert von Ortellado: „Es ist eine treffende Provokation, denn wir erleben derzeit Prozesse, in denen die Interaktion über Technologie uns, wenn sie uns zu automatischem, unreflektiertem Verhalten zwingt, eher schadet als weiterbringt“.

Dubiose Einflüsse

Tuszynski stört die Annahme, dass manche Personen dümmer seien als andere. „Man muss sich klar machen, dass die Gesellschaft und Gruppen von Individuen genau diesen unglaubliche Raum [der digitalen Plattformen] wünschen. Auf der einen Seite steht ein Geschäftsmodell, das bestimmte Maschinen erschafft, Bots, Scripts, die uns stets dazu bringen, bestimmte Dinge zu tun. Auf der anderen Seite steht die Möglichkeit, jemandem Daten in die Hand zu geben, um damit Individuen zu beeinflussen, ohne dass dieses Individuum weiß, dass es im Visier steht. Dies verengt den Raum für demokratische Debatte, denn wir betrachten nicht alle dasselbe. Jede Person sieht nur das, was auf Basis der Verhaltensdaten, die sie selbst erzeugt, genau für sie ausgewählt wurde.“

Als eine Folge der Kommunikation über digitale Plattformen sieht Ortellado vor allem unser hyperpolitisiertes Verhalten im Netz, das er in weiten Teilen als dümmlich und als Herdenverhalten bezeichnet, hervorgerufen durch das, was er einen kontextuellen Kollaps nennt. Indem es nicht zulässt, dass Posts aus unterschiedlichen Sphären unseres Lebens an ein jeweils unterschiedliches Publikum  gerichtet werden, vermische Facebook die unterschiedlichen Personen, aus denen wir uns zusammensetzen, was zu einem Wettbewerb unter diesen führe und letztlich zum Kollaps der Repräsentation.

In dieser Auseinandersetzung ragt unsere politische Dimension hervor, extrem stimuliert vom System der Likes und unter Vernachlässigung unserer affektiven, professionellen, philosophischen oder reflexiven Ausdrucksfähigkeit. „Wir haben es also mit einer Hyperpolitisierung der Gesellschaft zu tun, die nicht autonom, reflektiert, libertär ist, sondern innerhalb derer wir zunehmend eingebunden sind in Gruppendynamiken und Massenprozesse, die zu dieser sehr polarisierten Situation führen, die wir heutzutage erleben.“ Laut Ortellano gab es seit 2010 in Lateinamerika einen sprunghaften Anstieg politischer Identitäten auf Facebook, und die auf der Plattform am meisten zu findenden Botschaften sind solche, die starke Gefühle hervorrufen, wie Angst, Wut oder Empörung.
 

Wer steckt hinter den Bildschirmen?

Tuszynski legt sein Augenmerk darauf, der Gesellschaft zu übersetzen, wer die Player sind und welches Geschäftsmodell hinter den Plattformen steckt, deren Dynamik über das Virtuelle hinausgeht und sich auf Politik, Wirtschaft und unser wirkliches Leben ausbreitet. „Ganz zweifellos erleben wir ein Empowerment durch den Zugang zur Information über diese Technologien, die immer als gut dargestellt werden. Aber wer steckt hinter den Bildschirmen? Wer zieht einen Nutzen daraus?“ Laut dem Experten geht unsere Konditionierung als Nutzer weit über Facebook hinaus, denn unsere Daten werden auch vom Internet der Dinge oder Sensoren auf dem Handy gesammelt.

„Die Unternehmen und ihre Werkzeuge vermitteln den Eindruck, dem Nutzer zu nützen, aber die gesammelten Daten werden vermarktet, und dies schafft komplett disproportionale Situationen und macht die entsprechenden Unternehmen sehr reich. Sie sind die reichsten in der Geschichte der Zivilisation“, betont Tuszynski und verweist darauf, dass der Zugang zu diesen Daten auf jene beschränkt ist, die dafür zahlen, sie akkumulieren können und mit großem Beeinflussungspotenzial als Grundlage für Entscheidungen und politisches Handeln aller Art verwende

Äquivalenz von wissenschaftlichen Daten und bloßen Meinungen

Albu wiederum ist überzeugt, dass wir derzeit einen Paradigmenwechsel erleben, der sich im Zeitalter der Postmoderne, in dem insbesondere die aufklärerischen Grundpfeiler der Moderne infrage gestellt werden, noch verstärkt. „Die Frage steht vor allem anderen, aber als Frage, auf die ich schon die Antwort weiß, und ich will, dass die Antwort genau diese ist und keine andere.“ Das Hinterfragen betrifft inzwischen Dinge wie die Gestalt der Erde und wird noch beschleunigt von digitalen Prozessen, in denen es die zunehmenden Tendenz zu einer Gleichwertigkeit wissenschaftlicher Daten und schlichten Meinungen gibt.

Und welche Rolle spielen Regierungen in dieser Situation? Für Ortellado sollten Regierungen die Plattformen regulieren: „Ist es sinnvoll, eine Plattform zu haben als heute wichtigstes Diskussionsmedium in der Gesellschaft, die einer bestimmten Art Botschaft den Vorrang gibt und andere nicht berücksichtigt? Ich glaube, dem müssen wir mit staatlicher Regulierung begegnen und uns ein bisschen von der alten Idee der 1990er Jahre verabschieden, dass das Internet ein Freiraum sei und Regulierung etwas Schlechtes. Wenn keine Regulierung da ist, regieren die Plattformen.“

Wer soll wen kontrollieren?

Tuszynski stimmt der Notwendigkeit einer Regulierung zu, sähe diese aber nicht gern in der Hand von Regierungen, sondern lieber in der qualifizierter Institutionen mit Kenntnissen über die Funktionsweise der Plattformen. Für Albu müsste eine Lösung multistrategisch und multisektoriell sein unter Beteiligung von Regierungen, Zivilgesellschaft und der Plattformen selbst. „Die Ausprägung dieser Plattformen hat mit ihrem Geschäftsmodell zu tun, das nicht dafür gedacht ist, eine gesunde öffentliche Sphäre zu schaffen. Die Plattformen stehen in der Pflicht, ihr Design zu überdenken. Den Like-Button zu überdenken ist entscheidend.“

Wir erleben derzeit eine recht paradoxe Situation: eine Gesellschaft, „die nach Freiheit über allem strebt, gleichzeitig aber keine Möglichkeit hat, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen“, da sie vor lauter undurchsichtiger Prozesse nicht überblicken kann, was passiert, schließt die Moderatorin Gabi Juns und leitet so über zum Thema des nächsten Podiums der Tramas Democráticas.



 

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