Architekturspaziergang Leipzig
Immer wieder von Neuem grandios
Anderthalb Jahrzehnte wirkte die Stadt, die sich nach 1989 selbstbewusst als Boom-Town apostrophierte, wie eine riesige Baustelle. Allerorten wurde neu gebaut und rekonstruiert: die dreigeschossige Shopping Mall im Hauptbahnhof, Zaha Hadids BMW-Werk, der Neubau der Galerie für Zeitgenössische Kunst. Die Bewohner hatten sich an das Stakkato der Großprojekte fast schon gewöhnt.
Selbst als zehn Jahre nach der Wende mehr und mehr klar wurde, dass Leipzig längst zu den Shrinking Cities zählte, machte man aus dieser Tatsache tausend neue Projekte: Leere Fabriken wurden zu Galeriezonen, Ladenlokale zu Grafik-Design-Büros, der Makel zum selbstbewusst zur Schau gestellten Image. Leipzig konkurrierte mit London um die Olympischen Spiele 2012. In den letzten Jahren allerdings ist das Baufieber merklich abgeklungen: Ergänzungsbauten dominieren, Großbaustellen werden seltener. Ein Spaziergang durch eine Stadt, die ihr neues Gleichgewicht sucht – und mittlerweile sogar wieder wächst.
Gondwanaland
Pfaffendorfer Straße 29, 04105 Leipzig51°21'4"N, 12°22'20"E
Henchion und Reuter, 2011
Das neueste Großprojekt Leipzigs gleich zu Beginn: Gondwanaland – die Riesentropenhalle des Zoos, in der der südliche Urkontinent en miniature nachempfunden ist. Hier leben 300 tropische Tiere und 17.000 Pflanzen – darunter auch Heidi, das schielende Opposum, das 2010 durch alle Medien geisterte. Die Halle besteht aus einem imposanten dreiecksförmigen Stahlkörper, sie ist 35 Meter hoch und hat eine Spannweite von 160 Metern. Die Dachhaut aus pneumatischen Folienkissen ist Klimatechnik auf allerneuestem Stand.
Höfe am Brühl
Am Brühl 1-3, 04109 Leipzig51°20'36"N, 12°22'23"E
Grüntuch Ernst Architekten, 2012
Kein Highlight, eher ein Tiefpunkt: Am Brühl, dort wo vor 100 Jahren jüdische Kaufleute Leipzig zum Zentrum des europäischen Pelzhandels machten und 50 Jahre später drei Wohnscheiben die sozialistische Variante einer funktionalistischen Stadtutopie markierten, klafft derzeit eine riesige Lücke. Die hoch verschuldete städtische Wohnungsbaugesellschaft hatte 2006 eine der besten Innenstadtflächen günstig an einen Investor verkauft. Nun wird Ladenfläche gebaut, was sonst. Bemerkenswerter als die Architektur, die jetzt hier entsteht, waren die Debatten um den Abriss und die Neubebauung am Brühl.
Katharinum
Böttchergäßchen, 04109 Leipzig51°20'30"N, 12°22'30"E
Entwurf: Gregor Fuchshuber & Partner, Leipzig
Fassadengestaltung: Christoph Kohls (Büro Krier-Kohl Berlin), Hilmer&Sattler u. Thomas Albrecht München, Berlin, Gregor Fuchshuber & Partner Leipzig, Büro Spengler Wiescholek Hamburg, 2011
Eklektizismus, der Spaß macht: Das Katharinum wirkt neben dem Glaskubus des Bildermuseums äußerst grazil. Das Wohn- und Geschäftshaus, das 2011 eröffnet wurde, lehnt sich an die Typologie klassischer Kaufmannshäuser an. Es bildet den zweiten von vier Eckriegeln, die das Bildermuseum einmal einfassen werden. Die Fassaden des sechsgeschossigen Komplexes wurden von vier Architekturbüros gestaltet. Am gelungensten ist die New-Urban-Fassade von Krier-Kohl – über der Touristen-Information thronen Neo-Barockplastiken, Sandsteinverblendungen zitieren die Leipziger Gründerzeit.
Paulinum und Neues Augusteum
Augustplatz 11, 04109 Leipzig51°20'18"N, 12°22'44"E
Erick van Egeraat associated architects, Rotterdam, 2012
Das Gegenteil von einem Fehler ist auch ein Fehler: Mit dem Abbruch des 1970 erbauten Hauptgebäudes der Karl-Marx-Universität wurde 2007 Platz für das Paulinum am Augustusplatz geschaffen. Der Architekt Erick van Egeraat versuchte, es allen recht zu machen: Sein Entwurf erinnert an die 1968 gesprengte Paulinerkirche – bis heute ein traumatischer Moment für viele ältere Leipziger –, und ist dennoch kein originalgetreuer Nachbau. Das Ergebnis wirkt, als hätte man ein Feininger-Gemälde in Stein nachgebaut.
Integrationskindergarten „EinSteinchen“
Brüderstraße 14, 04103 Lipsko51°19'59"N, 12°22'52"E
Hoffmann&Hofmann Architektur- und Ingenieurbüro, 2011
Kitaplätze sind auch in Leipzig rar, neue Kindergärten deshalb eine interessante Bauaufgabe: Beim Umbau der Kinder- und Jugendsportschule – einem Plattenbau aus den Achtzigerjahren – bestand das Studentenwerk auf einer Kita in Zentrums- beziehungsweise Hochschulnähe. In der Mitte des großzügig geschnittenen Gebäudes befindet sich die „Piazza“ – ein quadratischer Raum mit Oberlichtfenstern und einem Kletterturm, von dem aus die Kinder in den Garten blicken können. Für alle Räume wurden eigens kindgerechte Möbel entworfen.
Zentrum für Frauen- und Kinderheilkunde am Universitätsklinikum Leipzig
Ecke Liebigstraße/Stephansstraße, 04103 Leipzig51°19'54"N, 12°23'12"E
Wörner+Partner, 2007
Die Liebigstraße bildet die Hauptader des Universitätsklinikums: Neben dem historischen Gründerzeitgebäude „Alte Chirurgie“ entstand 2007 das Zentrum für Frauen- und Kinderheilkunde mit einer hellen, dreigeschossigen Eingangshalle. Erstmalig in der Geschichte Leipzigs sind damit unter einem Dach alle Fachrichtungen der Pädiatrie gemeinsam mit der Gynäkologie vereint. Von außen bildet der Neubau zusammen mit der „Alten Chirurgie“ einen wirkungsvollen Spannungbogen, durch den der historische Bestand besonders zur Geltung kommt.
Sonderlabore Universität Leipzig
Liebigstraße 18, 04103 Leipzig51°19'53"N, 12°23'6"E
Schulz & Schulz Architekten, 2009
Der weiße Solitärbau, der die Sonderlabore der Universität beherbergt, wirkt durch die tiefen, dunklen Quadrate der Fenster auf den ersten Blick sehr geheimnisvoll. Der Neubau wurde 2009 eingeweiht und ist als Würfel mit circa 19 Metern Kantenlänge auf die Ecke des Baublocks gesetzt. Seine Fluchten und Höhen orientieren sich an den umgebenden Altbauten. Genutzt wird das Gebäude zur Unterbringung der Speziallabore, die nicht in die vorhandenen Gebäude integriert werden konnten, wie Schalllabore, molekularbiologische Labore, Isotopen- und Gentechniklabore.
Gedenkort für die Opfer der Kindereuthanasie-Verbrechen
Friedenspark, gegenüber Linnéstraße, 04103 Leipzig51°19'43"N, 12°23'37"E
Landschaftsarchitektin Antje Schuhmann, Amt für Stadtgrün und Gewässer Leipzig, 2011
Der Gedenkort für die Opfer der Kindereuthanasie-Verbrechen wirkt wie ein verwunschener Flecken mitten im Friedenspark: Hinter einer hüfthohen Hecke liegt ein roter Schlängelweg versteckt. In den Boden eingelassen ist der Satz „Das ist die Wiese Zittergras und das der Weg Lebwohl“. In Leipzig, wo der erste Fall einer Kindstötung durch Ärzte der Universitätskinderklinik im Juli 1939 belegt ist, wurden bis 1945 über 600 behinderte Kinder systematisch ermordet. Über 100 von ihnen wurden auf dem Neuen Johannisfriedhof, dem heutigen Friedenspark begraben.
Erweiterungsbau der Deutschen Nationalbibliothek
Deutscher Platz 1, 04103 Leipzig51°19'20"N, 12°23'41"E
Gabriele Glöckler, Stuttgart, 2011
Als die Deutsche Nationalbibliothek 1912 gegründet wurde, war bereits geplant, sie baulich immer wieder zu erweitern. Der vierte Erweiterungsbau wurde 2011 fertiggestellt. Er hat die Form eines mächtigen Bucheinbands, dessen silberner Metallrücken sich vor den fensterlosen weißen Büchertürmen stark abhebt. An der Schauseite ist der Bau mit einer gläsernen Farbflächenfassade gestaltet. Das Gebäude beherbergt das Buch- und Schriftmuseum und das Deutsche Musikarchiv. Außerdem besitzt es ausgedehnte Magazinbereiche und damit Platz für viele neue Bücher.
Semmelweisbrücke
Semmelweisstraße, 04275 Leipzig51°19'14"N, 12°23'9"E
Böger + Jäckle & Partner, 2010
Parallel zum Bau des S-Bahn-Haltepunktes Semmelweisstraße entstand 2010 die Semmelweisbrücke als neue West-Verbindung innerhalb der Stadt. Diese zugegebenermaßen recht unspektakuläre Brücke ist mein ganz persönliches Architektur-Highlight. Durch sie sind meine Kinder jetzt im Handumdrehen im Kindergarten und in der Schule. Die Brücke hat unseren Alltag erleichtert – und wenn man am Morgen mit dem Fahrrad über sie rollt, eröffnet sich ein Blick auf Leipzig, der immer wieder von Neuem grandios ist.