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Wolfgang Borchert 100
Ein Dichter als Symbol der Nachkriegszeit

Wolfgang-Borchert-Briefmarke, 1996
Wolfgang-Borchert-Briefmarke, 1996 | Briefmarke: Deutsche Post. Foto: Goethe-Institut

Einhundert Jahre sind seit der Geburt des Dichters und Dramatikers Wolfgang Borchert schon vergangen. Bis heute ist er Symbol der Nachkriegszeit und der damit verbundenen schwierigen Epoche in der deutschen Geschichte, deren Literatur mit Begriffen wie „Trümmerliteratur“, „Literatur der Stunde null“ oder „Kahlschlagliteratur“ treffend bezeichnet wird. Dieses Literaturphänomen, das jedoch nur von kurzer Dauer war, entstand unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und setzte sich mit der Zeit nach Kriegsende, in der es materiell und geistig an allem mangelte, auseinander und beschrieb nüchtern und ohne Umschweife die erbärmlichen Lebensverhältnisse in den zerbombten Städten und in Gefangenenlagern, die Heimkehr aus dem Krieg und die Schuldgefühle. Über dieses Thema schrieb auch Borchert in seinem Musterbeispiel der Nachkriegsliteratur, dem Drama Draußen vor der Tür.

Von Tereza Semotamová

Wolfgang Borchert wurde am 20. Mai 1921 in Hamburg geboren. Sein Vater war Lehrer und seine Mutter niederdeutsch schreibende Heimatschriftstellerin. Borchert war Einzelkind. Schon mit fünfzehn schrieb er Gedichte und war außerordentlich produktiv. Mit 17 Jahren schrieb er sein erstes Drama Yorick der Narr, inspiriert von Hamlet und dem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, das er auch in anderen Werken durchblicken ließ. Danach folgte seine Komödie Käse, in der er sich über den beginnenden Nationalsozialismus lustig machte.  
 
Im April 1940 kam Borchert erstmals in Konflikt mit der Staatsmacht. Er wurde von der Gestapo festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, in seinen Gedichten die Homosexualität zu verherrlichen und ein Verhältnis mit einem jungen Mann zu haben. Seine Familie war schon vorher überwacht worden, denn seine Mutter wurde verdächtigt, ein kritisches Verhältnis zum Nationalsozialismus zu haben. Wolfgang Borchert konzentrierte sich nichtsdestotrotz weiterhin auf sein Schauspielstudium und nahm nach dessen Abschluss im Jahre 1941 ein kurzes Engagement im Tourneetheater Landesbühne Osthannover an. Obwohl er hier nur kleine Rollen spielte, bezeichnete er diesen Abschnitt seines Lebens – auch wegen seiner Liebesbeziehung zur Schauspielerin Heidi Boyes – als wunderbare Zeit. 

Zu Fuß ins Nachkriegsleben

Im Juni 1941 wurde Borchert zum Wehrdienst einberufen. Für seine feinfühlige pazifistische Natur war das ein Schock. Nach drei dramatischen Kriegsjahren, u.a. an der Front im russischen Smolensk, aus denen er schwere gesundheitliche und psychische Schäden davontrug, folgte noch eine kurze Kriegsepisode an der Westfront bei Mainz. Doch da lag der Krieg schon in den letzten Zügen. Und als sich ein Teil seiner Einheit ergab, floh Borchert auf dem Weg in das Gefangenenlager und geriet in amerikanische Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung machte er sich, obwohl er krank war, zu Fuß auf den 600 km langen Weg in seine Heimatstadt Hamburg, seinem Leben in der Nachkriegszeit entgegen.  
 
Nach dem Krieg war Wolfgang Borchert beseelt davon, die verlorene Zeit nachzuholen und „etwas ganz Verrücktes auszuhecken“, wie er selbst in einem Brief an einen Freund schrieb. Trotz seiner Gelbsucht und seiner Fußverletzung war er in der Hamburger Theater- und Kabarettszene aktiv.  Seine gesundheitliche Verfassung verschlechterte sich zusehends, auch ein Krankenhausaufenthalt brachte keine Abhilfe. Borchert war von nun an bettlägerig und auf die Pflege seiner Eltern angewiesen. Gegen seine Krankheit kämpfte er durch obsessives Schreiben. So entstand 1946 auch sein bereits erwähntes Drama Draußen vor der Tür. Angeblich hat Borchert dieses Stück innerhalb von acht Tagen geschrieben.

Als er damit fertig war, lud er Freunde ein und las ihnen sein Werk vor. Irgendwie gelangte der Text in die Hände von Ernst Schnabel, Mitarbeiter des Hamburger Nordwestdeutschen Rundfunks. Auf Schnabels Empfehlung hin hat Borchert das Stück überarbeitet und gekürzt, und in extrem kurzer Zeit wurde es dann in dieser Form als Hörspiel adaptiert und ausgestrahlt. Das Hörspiel wurde ein Riesenerfolg. Es fand bei den Hörern großen Anklang und wurde häufig wiederholt.   
Wolfgang Borchert. Letztes Foto als Zivilist im Sommer 1941 Wolfgang Borchert. Letztes Foto als Zivilist im Sommer 1941 | © Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky

Ein Held, den niemand mehr will

Das Drama Draußen vor der Tür war Borcherts erster Versuch seiner Auseinandersetzung mit dem, was er im Krieg erlebt hatte. Er beschrieb die Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht, die – obwohl der Krieg zu Ende war – in der Bevölkerung vorherrschten. Und doch musste das Leben weitergehen. Der Untertitel, den er für sein Stück gewählt hatte „Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will“, ist einerseits Provokation, und bringt andererseits die Zweifel des jungen Autors, wie die Welt wohl sein Werk aufnehmen werde, zum Ausdruck.  
 
Mit der Hauptfigur des Stücks, Soldat Beckmann, konnten sich die meisten Hörer sofort identifizieren. Warum wohl? Weil er aus Russland heimgekehrt war, wo er im Krieg gekämpft hatte, und nun feststellt, dass er eigentlich kein Zuhause mehr hat und niemanden, zu dem er zurückkehren kann. Er will sich ertränken, doch die Elbe will ihn nicht annehmen. Im Traum erscheinen ihm alle diejenigen, die ihm Hilfe verweigert hatten. Da greift Gott in die Handlung ein und meint, seine Kinder würden nicht mehr an ihn glauben, so wie er an sie. Beckmann bemerkt, dass seine Stimme für das „Donnern unserer Zeit“ zu still sei. Damit spielt der Autor auf die phlegmatische Reaktion der Kirche auf die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges an und erinnert an die typische Frage: Wie konnte Gott so etwas zulassen? Ein Straßenfeger, der den Todesbesen schwingt – der personalisierte Tod – lehnt Beckmanns Bitte, ihn zu sich zu nehmen, ab. Er verschwindet und hinterlässt ihn in der Welt der Lebenden. Beckmann wäre lieber tot als lebendig. Aber was soll er machen, wenn der Tod ihn nicht mitnehmen will?  
 
Der Oberst, der alle hohen Militärs verkörpert, lacht Beckmann aus und wirft ihm vor, ein Schwächling zu sein, da er keinen höheren militärischen Rang erreicht habe. Hier kommt ganz klar die verachtende Haltung des Autors gegenüber dem militärischen System und der Sinnlosigkeit des Krieges zum Ausdruck. Der Kabarettdirektor, der für alle etwaigen Arbeitgeber Beckmanns steht, will diesen nicht engagieren. Schauspieler wie er seien für tragische Rollen bestimmt. Doch diese wolle das Publikum heute nicht sehen, das heutige Publikum wolle sich nur noch amüsieren. Damit prangert der Autor die Oberflächlichkeit der kommerziellen Kunst an. Selbst die Nachbarin weigert sich, ihm zu helfen, und auch der einbeinige Kriegsveteran und das Mädchen seines Herzens. Doch dieses ist letztendlich auch Quelle der Hoffnung. Alle diese Szenen sind eine vielfarbige Palette von Haltungen zu dem widersprüchlichen Thema der Aufarbeitung des Krieges. Und dem Hörer läuft es kalt den Rücken hinunter bei den vielen Türen, die sich direkt vor Beckmanns Nase verschließen. Der Krieg hat alles vernichtet. Nicht nur das Land, sondern auch die Hoffnung und die Identität des Menschen.
Plakat der Uraufführung als Theaterstück in den Hamburger Kammerspielen Plakat der Uraufführung als Theaterstück in den Hamburger Kammerspielen | © Gemeinfrei

Eine wohltuende Injektion Nihilismus

Die Premiere des Hörspiels wurde am 13. Februar 1947 vom Norddeutschen Rundfunk, trotz örtlicher Stromsperren, gesendet. Wegen Stromsperre konnte auch Borchert die Premiere seines Stücks nicht verfolgen. Doch diejenigen, die das Stück hören konnten, waren ergriffen. Und diejenigen, die es nicht hören konnten, baten um die Wiederholung des Hörspiels. Die Rundfunkredaktion erhielt ungewöhnlich viele Hörerbriefe. Innerhalb von wenigen Wochen übernahmen auch andere deutsche Rundfunksender das außergewöhnliche Werk, um es in allen Teilen Deutschlands ausstrahlen zu können. Die Bühnenpremiere des Stücks fand im November desselben Jahres in den Hamburger Kammerspielen statt, mit Hans Quest, dem das Stück gewidmet war, in der Hauptrolle. Borchert feierte Erfolge, doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Er starb am 20. November 1947, einen Tag vor der Uraufführung seines Werkes.

Das Stück Draußen vor der Tür sprach den Hörern sozusagen aus der Seele und beschäftigte sich mit einem Thema, mit dem sich alle auseinandersetzten und auseinandersetzen mussten: Borchert stellte für ganz Deutschland Fragen, die sich die meisten Menschen in ihrem Innern auch stellten, und wurde damit zur Stimme der gesamten emotional verwirrten Gesellschaft und – in Anbetracht seines Alters – auch der „verlorenen“ jungen Generation. In der Ankündigung vor der Uraufführung des Hörspiels hieß es: „Man spürt Skepsis und Ernst. Und weiter spürt man den Hunger, den sie haben, einen Hunger nach allem, auch nach dem Leben, von dem sie so viel Furchtbares erfahren haben, beinahe nur das Furchtbare.“ Das Hörspiel stand außerdem unter dem Motto: „Eine Injektion Nihilismus bewirkt oft, dass man aus lauter Angst wieder Mut zum Leben bekommt.“  
 
Die Bemerkung über Nihilismus in Kombination mit Existenzialismus ist hier gewiss am Platze und wird auch von vielen Aussagen Beckmanns bestätigt. Viel mehr jedoch als auf den Einfluss philosophischer Strömungen weist sie auf die Lebensumstände des Autors hin, die den Geist des im Krankenbett geschriebenen Stücks geprägt haben: Todesnähe, Pazifismus, Fatalismus, Hoffnungslosigkeit, Schuldgefühle für den Tod eines Soldaten im Krieg, Ausschluss aus der Gesellschaft, nicht nur bewirkt durch äußere, körperliche Verkrüppelung. Der Tod des Autors, der in jungen Jahren an den Folgen seiner Kriegsverletzungen verstarb, machte die Wirkung seines Werkes nur noch intensiver.      

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