Film
„Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.“
Im Jahr 2022 erinnern wir uns bereits an den 40. Todestag von Rainer Werner Fassbinder (31. Mai 1945 - 10. Juni 1982), dem berühmten deutschen Regisseur, Schauspieler und Drehbuchautor. Lesen Sie ein Interview mit dem tschechischen Filmjournalisten und -historiker Vladimír Hendrich über Fassbinders Werk.
Von Vladimír Hendrich
Schon zu Lebzeiten warfen seine Werke oft unbequeme und sehr sensible Fragen auf und sein Lebensstil erregte in Deutschland Aufsehen. Fassbinder setzte sich auf radikale und bahnbrechende Weise mit Themen wie Antisemitismus, Migration und klischeehaften Lebensrollen auseinander. Er galt als tabuloser und brillanter Künstler.
Vladimír, was fasziniert dich heute noch an Fassbinders Autorenfilmen?
Zum Beispiel die Geschwindigkeit, mit der er sie gedreht hat. Wenn man die ersten drei Kurzfilme von 1966-1967 nicht mitzählt, dauerte seine gesamte Filmkarriere weniger als 14 Jahre. In dieser Zeit hat er 41 Filme gedreht. Darunter befinden sich aber auch mehrere Serien - Acht Stunden sind kein Tag mit 470 Minuten, der Zweiteiler Welt am Draht mit 200 Minuten, die 14-teilige Serie Berlin, Alexanderplatz mit der Rekordzeit von 930 Minuten. Der Film Bolwieser aus dem Jahr 1977 war einst in den tschechischen Kinos zu sehen, aber nur wenige wissen, dass Fassbinder auch eine ebenso bemerkenswerte 200-minütige Fernsehfassung dieses Werks gedreht hat.
Zum Vergleich: Der berühmte Stanley Kubrick drehte in seiner gesamten Karriere (von 1951 bis 1999) nur 13 Spielfilme. Sicher, Kubrick war als großer Perfektionist bekannt - aber das war Fassbinder auch.
Tatsächlich wurde Fassbinder scherzhaft "FASTbinder" genannt - in Anspielung darauf, wie unglaublich schnell er alle seine Filme drehte. Aber wie hat er es geschafft, eine so große Anzahl von Filmen zu schaffen, von denen man die schwächeren oder weniger erfolgreichen an einer Hand abzählen kann?
Das habe ich zwei seiner engsten Mitarbeiter gefragt, die Schauspielerin Hanna Schygulla und den Schauspieler Harry Baer. Beide antworteten, dass Fassbinder in der Regel mit kleinen Skizzen von aufeinanderfolgenden Kameraeinstellungen zum Drehort kam, so dass er schon im Vorfeld eine klare Vorstellung von der Handlung hatte. Daher gab es bei seinen Filmen nicht viel zu schneiden; sie waren bereits am Set fertig. Mit etwas Übertreibung könnte man sagen, dass er gleichzeitig gedreht und geschnitten hat.
Als Jeanne Moreau zum Beispiel zu den Dreharbeiten von Querelle nach Berlin kam, war sie etwas schockiert, dass alle so gut arbeiteten, obwohl Fassbinder in der ersten Woche nicht am Set auftauchte. Die Crew wusste genau, was der Regisseur wollte und wie er es wollte, und sie haben es der Schauspielerin im Voraus mitgeteilt. Als Fassbinder endlich auftauchte, küsste er nur die Hand von Jeanne Moreau, sie erhielt keine einzige Anweisung von ihm, er gestikulierte nicht einmal, er gab ihr völlige Freiheit und Vertrauen. Und sie, obwohl sie kein Deutsch sprach, hat sich der kreativen Absicht angeschlossen und alles richtig gemacht. Franco Nero, ein weiterer Darsteller in Querelle, schüttelte jedoch ungläubig den Kopf und stellte entsetzt fest, dass Fassbinder im Gegensatz zu den italienischen Studios, in denen sieben oder acht Aufnahmen pro Tag gemacht werden, vierzig davon in Windeseile drehen würde.
"Ich habe gelernt, Filme zu machen, indem ich sie gemacht habe..."
Rainer Werner Fassbinder
Fassbinder brach das Gymnasium freiwillig ab und wurde nicht an die Münchner Filmhochschule angenommen - wie schaffte er es, sich als kompletter Autodidakt und Außenseiter zu einem angesehenen Solitär zu entwickeln?
Fassbinder selbst sagt: "Ich habe gelernt, Filme zu machen, indem ich sie gemacht habe..." Er hatte das Glück, in den späten 1960er Jahren begonnen zu haben, als die Revolte sozusagen "trendy" war - aber Fassbinder ging seinen eigenen Weg als scharfer Kritiker des heuchlerischen Gütesiegels der deutschen Nachkriegskonsumgesellschaft.
Pasolini, der der Gesellschaft ebenfalls skeptisch gegenüberstand, hatte eine ähnliche Einstellung. Aber es lohnt sich, daran zu erinnern, dass Pasolini 1922 geboren wurde, während Fassbinder seine ersten markanten Filme über emotionale Manipulation, die Ausbeutung von Gefühlen sowie über Liebe, Verrat und Parasitismus in zwischenmenschlichen Beziehungen im Alter von 24 Jahren, ganz am Ende der 1960er Jahre, drehte.
Wie sieht es mit dem familiären Hintergrund aus? Wir wissen, dass Fassbinder ein Einzelkind war. Seine Eltern ließen sich scheiden, als er sechs Jahre alt war. Er blieb bei seiner Mutter, die jedoch häufig und chronisch krank war. Hatte das einen Einfluss auf seine Arbeit?
Ja. Er erinnert sich zum Beispiel daran, wie seine Mutter einen 17-jährigen Liebhaber hatte, der den Vater spielen wollte, als er ein Kind war, und er fand das zu Recht lustig. Erst in den 1970er Jahren gelang es ihm, ein freundschaftliches Verhältnis zu seiner Mutter aufzubauen, und sie erhielt Cameo-Rollen in seinen Filmen.
Da er ganz auf sich allein gestellt war, war er schon in jungen Jahren sehr einsam. Nach seinen eigenen Worten wuchs er auf wie ein Pfahl im Zaun. Da es zu Hause keine Kinderbücher gab, versuchte Rainer bereits im Alter von fünf Jahren, Goethes Faust zu lesen und Monografien von Dürer, Michelangelo und anderen Malern zu verstehen. Er war ein ungewöhnlich frühreifes Kind. Schon als Junge ging er leidenschaftlich gern und oft ins Kino und sah sich Filme an, oft vier oder fünf am Tag. Statt zu nörgeln, entschied er sich in der Schule für handwerkliche und bürotechnische Arbeiten und lernte nach einiger Zeit, perfekt zu tapezieren - was ihm als professioneller Maler ein gutes Einkommen verschafft hat.
Fassbinder wird oft als einer der Hauptvertreter des Neuen Deutschen Films bezeichnet. Sind Sie damit einverstanden?
Nicht wirklich. Es ist durchaus verständlich, dass er als solcher wahrgenommen wird, aber er befindet sich in einer ziemlich ungenauen Schublade. Sehen Sie, in Westdeutschland sprach man in den 1960er Jahren nicht von einer neuen Welle des Films, sondern vom Neuen Deutschen Film. Die Ursprünge dieser jugendlichen Bewegung, die sich gegen das so genannte deutsche "Papas Kino" auflehnten, reichen zurück in den Februar 1962, als das so genannte Oberhausener Manifest veröffentlicht wurde.
Fassbinder war zu diesem Zeitpunkt erst 17 Jahre alt. Im Laufe der Zeit wurden auch andere deutsche Filmemacher, deren Handschrift im Oberhausener Manifest fehlt - Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta, Werner Schroeter und Wim Wenders - in die Kategorie des Neuen Deutschen Films eingereiht. Obwohl Fassbinder fast alle namhaften Führer der Bewegung und ihre Anhänger persönlich kannte und eine gewisse Generationskritik mit ihnen teilte, gibt es doch einige bemerkenswerte Unterschiede.
Soweit ich das verstanden habe, war Fassbinder weit davon entfernt, die "deutsche Frage" programmatisch unter einem Banner zu thematisieren.
Sie haben Recht. Er hat einfach am eigenen Leib erfahren und dann über die Tatsache nachgedacht, dass er Deutscher war, was ein kollektives Schicksal und eine kollektive Schuld nach dem Zweiten Weltkrieg war. Der Schlüssel zu seinem Werk sind nicht die Abhandlungen gelehrter Ästheten, sondern das Sehen mit den Augen einer verbitterten Seele, die sich mit einer groben Maske schützt und versucht, aus dem Schatten des Stigmas auszubrechen und sich einen Platz an der Sonne zu suchen, um ihren eigenen, selbstbewussten Schatten zu werfen. Fassbinders Geschichten wollen also so gesehen und geteilt werden, wie er sie gemacht hat: ohne intellektuellen Schnickschnack und vor allem ohne Scham vor Emotionen.
Wie ist Fassbinder mit dem Thema Homosexualität umgegangen? In seinen Filmen ist es sicherlich kein Tabu.
Anders als heute galt zu Fassbinders Zeiten Homosexualität als etwas Perverses. Doch Fassbinder hatte bereits 1975 das Melodram Das Faustrecht der Freiheit gedreht, das ebenfalls nackte Männer beim Küssen mit bewundernswert ungeschminkter Direktheit zeigt. Die zentrale homosexuelle Figur des plebejischen Außenseiters Franz wird von Fassbinder selbst mutig und brillant verkörpert. Das Interessanteste an Fassbinders Darstellung der schwulen, lesbischen und transsexuellen Figuren im Film ist aus heutiger Sicht, dass ihre sexuelle Orientierung für die Botschaft des Films überhaupt nicht relevant ist. Das macht die Filme natürlich umso subtiler und zeitloser.
Fassbinder wurde zu Lebzeiten viel kritisiert. Worin genau bestand seine Provokation? Welche Tabus hat er gebrochen?
Ich würde sagen, er war - wie zum Beispiel der tschechoslowakische Liedermacher Karel Kryl - sehr unbequem in der Art und Weise, wie er geistig und ethisch äußerst wichtige Dinge offen kommunizierte, die konsum- und konformitätsorientierte Politiker und Ökonomen verständlicherweise ignorierten und immer noch ignorieren, weil sie in krassem Widerspruch zu ihren Geschäftsplänen stehen. Und Fassbinder hat ihnen in ihrer moralischen Vulgarität sozusagen freiwillig "die Nase gerümpft" und sie haben ihn - wie Marlon Brando in den USA - zeitlebens mit Dreck beworfen, ihn ein "dreckiges Monster" genannt und so weiter.
Und wie sieht es mit der Ästhetik von Fassbinders Filmen aus? Ist sie in irgendeiner Weise besonders?
Ich glaube, er war spontan, unerprobt, und er schämte sich nicht für eventuellen Kitsch. Er hat sich alles selbst ausgedacht. Er hat sich lediglich an literarischen Figuren und Filmemachern orientiert, die ihm nahe standen.
Ihm nahestehend waren nicht die heroischen, sondern die anti- oder unheroischen Charaktere verschiedener sozialer Außenseiter und Gastarbeiter. Seine Filme können jedoch nicht als realistisch bezeichnet werden - sie sind vielmehr eigentümlich stilisierte, traumhafte, poetische Fantasievisionen, die auf das Wesen des sozialen Übels abzielen.
Gibt es einen Filmemacher, der maßgeblich von Fassbinder beeinflusst worden ist?
Aki Kaurismäki, zum Beispiel. Als ich ihn 2011 fragte, ob Fassbinder für ihn wichtig sei, antwortete Kaurismäki: "Ja, er hat mich sehr beeinflusst... Als ich meine ersten substanziellen realistischen Filme drehte, war ich stark von Fassbinder beeinflusst, insbesondere von seinem Film Fear Eats the Soul. Dieser Film hat mir den Mut gegeben, Filme über Außenseiter zu machen, über Menschen am Rande der Gesellschaft, über Menschen, die absolut keine Chance haben, die aber Liebe haben. Und vielleicht hätte ich ohne den Einfluss von Fassbinder nie den Mut gefunden, einen Film über sie zu machen."
War Fassbinder ein Feminist?
In Martha demonstriert Fassbinder vielleicht am deutlichsten ein Modell dafür, wie eine Person eine andere durch die Institution der Ehe terrorisiert. Auch hier scheint Fassbinder verstärkt darauf hinzuweisen, dass unsere Welt eine Männerwelt ist, die von männlichen Prinzipien regiert wird, die Frauen gegenüber ungerecht sind. Diese Haltung wird von Fassbinders zwei rebellischen Zwillingen geteilt: Marco Ferreri und Aki Kaurismäki.
Andererseits muss man sagen, dass Fassbinder sich keineswegs mit der feministischen Bewegung identifiziert hat. Für Fassbinder sind Frauen interessanter als Männer, weil sie einerseits unterdrückt werden, andererseits aber auch ihre Position als Instrument des Terrors nutzen können. Fassbinder empfindet Männer als emotional eher primitiv, während Frauen seiner Meinung nach ihre Emotionen viel besser zeigen.
Die Frauenfiguren, die er in seinen Filmen porträtiert, sind also oft außerordentlich starke menschliche Wesen?
Das sind sie in der Tat. Fassbinder sagt ausdrücklich: "Meine Filme sind für Frauen, sie sind nicht gegen Frauen gerichtet. Aber fast alle Frauen sind gegen meinen Film Die bitteren Tränen der Petra von Kant - immer Frauen, die ähnliche Probleme haben wie die im Film, es aber nicht zugeben wollen. Das kann ich nicht ändern. Ich weiß nur, dass mein Verhalten gegenüber Frauen ehrlich ist... aber ich weiß nicht, wie ich den Frauen sagen soll, dass sie zu ihrer Befreiung kommen müssen. Das muss jede Frau für sich selbst entscheiden."
Zusammenfassend kann man sagen: Fassbinder steht auf der Seite der Feministinnen, aber gleichzeitig bezeichnen ihn einige Feministinnen seit 1972 als Frauenfeind. Der Witz ist, dass es Fassbinder um wesentlichere Dinge geht als um sexuelle Orientierung. Vielmehr sieht er Ausdrucksformen echter Liebe als Material, mit dem ein Modell der Kontrolle einer Person über eine andere demonstriert werden kann.
Zurück zu Martha. Welche Konventionen kritisiert Fassbinder hier?
Es handelt sich um eine Art Tragikomödie mit dem Thema der ehelichen Konventionen. Fassbinder selbst formuliert es so: "Meine Absicht ist es, die Ehe so deutlich wie möglich als eine sadomasochistische Beziehung zu zeigen."
Zu Hanna Schygulla, die er vor seiner Filmkarriere im Schauspielunterricht kennen gelernt hatte, soll er gesagt haben, dass er viele Filme machen, aber nicht lange leben würde.
Ja, das ist wahr. Er hat es mehr als einmal gesagt. 1969 wurde Fassbinder bei einer ärztlichen Untersuchung mitgeteilt, er habe ein schwaches Herz und solle sich nicht überbelasten. Harry Baer hat ausgesagt, dass er in seiner Jugend ein Bedürfnis nach Schlaftabletten hatte. Gegen Ende des Lebens wurde er immer kräftiger, schlief aber noch nur drei oder vier Stunden. Das war sein Fluch.
Außerdem war er es gewohnt, durchschnittlich drei Schachteln Zigaretten pro Tag zu rauchen. Fassbinder war der Typus des schwer neurotischen Workaholics, der ständig arbeiten musste und so manchmal 48 Stunden am Stück in einer extrem hohen kreativen Spannung bleiben konnte. Obwohl er die Drogensucht beklagte, beflügelte das Kokain, das er in den letzten Jahren seines Lebens in immer höheren Dosen zu sich nahm, seine schöpferische Phantasie, und er konnte mit noch größerer Intensität und Ausdauer schreiben und Filme drehen. Oder wie Boris Jachnin in einer meiner Radiosendungen sagt: "Er hat die Kerze an beiden Enden abgebrannt". Er war nicht gewillt und in der Tat nicht in der Lage, vorsichtig zu leben.
Als Fassbinders Leiche am 10. Juni 1982 in seiner Münchner Wohnung aufgefunden wurde, lag neben ihm ein unvollendetes Drehbuch. Er hat bis zu seinem Tod gearbeitet.
Das Gespräch mit Vladimír Hendrich führte Klára Arpa, Filmfachfrau am Goethe-Institut Tschechien.