Future Perfect
Das Brot der Anarchisten

Brot Backen
Brot Backen | Foto: (CC BY-SA) La conquête du pain

Die Bäcker von La conquête du pain beglücken ihren Stadtteil in Montreuil mit Baguettes – und leben dabei den Anarchismus.

Dort, wo Montreuil dörflichen Charakter annimmt, mit kleinen Häusern beschützt von Bäumen und Kletterpflanzen, steigt die Straße leicht an. Am Nachmittag begegnet man hier Eltern, die mit ihren Kindern von der Schule kommen. An einer Straßenecke befindet sich La conquête du pain, zu Deutsch Die Eroberung des Brotes: eine Bäckerei, die herrlich nach warmem und knusprigem Brot duftet.

Betritt man die Bäckerei, um etwa ein Baguette zu kaufen, fallen einem verwunderliche Details ins Auge. Wie diese Tafel, die die angebotenen Sandwiches auflistet. Es ist auszuwählen zwischen dem Bakunin (Bacon mit Mayonnaise), dem Angela Davis (Hühnerfleisch mit Mayonnaise und Salat) oder dem Louise Michel (Ziegenkäse mit Pesto). An einem kleinen Tresen an der Wand kann man sich einen Kaffee aus der Thermoskanne servieren und die ausliegenden Flyer und Zeitschriften lesen, wie Le Monde libertaire. In der Nähe des Ladenfensters lädt ein von einem weißen Laken bedecktes Sofa zum Verweilen ein. Hier könnte man sich niederlassen und sich daran erinnern, dass Pjotr Kropotkin, einer der wichtigsten anarchistischen Denker des 19. Jahrhunderts, La conquête du pain geschrieben hat, neben vielen anderen Büchern, darunter die fundamental bleibende Gegenseitige Hilfe (engl. Original: Mutual Aid: A Factor for Evolution).

Aber man befindet sich wohlgemerkt in einer Bäckerei, und davon zeugt die aus dem Untergeschoss vom Backofen aufsteigende Hitze, wie auch der feine Geruch des Mehls. „Die Leute kommen nicht, weil wir selbstverwaltet und anarchistisch sind, sondern weil das Brot gut ist“, sagt Pierre Pavin. „Der Rest amüsiert sie.“ Aber diese Bäckerei gäbe es nicht, wenn Pierre und seine Kameraden keine Anarchisten wären.

Aus der Hierarchie in die Selbstverwaltung, von der Monotonie zur Qualität

Pierre hat schon früher als Bäcker gearbeitet. Seine Arbeit mochte er sehr, aber er hatte genug von den als monoton empfundenen Aufgaben und den oft hierarchischen Arbeitsverhältnissen. Als Mitglied des Anarchistenverbandes kam ihm im Frühjahr 2010 – damals war er arbeitslos – die Idee, Brot an Erzeuger-Verbrauchergemeinschaften (zum Beispiel die Association pour le Maintien d’une Agriculture Paysanne, kurz AMAP) zu liefern. Er sprach darüber mit Thomas Arnestoy, Informatiker und Mitglied eines linksradikalen antifaschistischen Netzwerkes, und mit Mathieu , mit dem er in derselben Hotelfachschule gelernt hatte. Zustande kam das Projekt aus Freundschaft und politischer Affinität. Prinzip sei es, eine Bäckerei als kooperative Produktionsgemeinschaft aufzubauen, „selbstverwaltet, mit sozialem Bezug, umweltbewusst und die vor allem qualitätsvolles Brot herstellt und rentabel ist.“

Ein geeignetes Geschäft war schnell gefunden, und im Herbst 2010 haben die Freunde angefangen, Brot zu kneten und zu backen. „Am Anfang war es sehr schwierig. Das war eine Bruchbude hier“, sagt Pierre. „Und es mussten sofort 300 Brote täglich geliefert werden. Es war die Hölle, wir schufteten 20 Stunden am Tag. Einmal habe ich einen Schwächeanfall gehabt und bin ohnmächtig geworden.“

  • Seitenansicht der Bäckerei Foto: © La conquête du pain

    Seitenansicht der Bäckerei

  • Vorderansicht der Bäckerei Foto: © La conquête du pain

    Vorderansicht der Bäckerei

  • Straßenansicht der Bäckerei Foto: © La conquête du pain

    Straßenansicht der Bäckerei

  • Laib aus Sauerteig Foto: © La conquête du pain

    Laib aus Sauerteig

  • Brot - Formung Foto: © La conquête du pain

    Brot - Formung

  • Brot - Buchweizen Foto: © La conquête du pain

    Brot - Buchweizen

  • Brot - Der Baum Foto: © La conquête du pain

    Brot - Der Baum

Hilfe, Vertrauen, Solidarität

Aber die drei Genossen haben durchgehalten, Freunde und Familie haben finanziell geholfen, damit die Bäckerei wieder instandgesetzt werden konnte, und ein fester Produktions- und Lieferrhythmus stellte sich ein. Heute zählt die Kooperative acht Angestellte – vier in der Bäckerei, drei im Verkauf sowie ein Auslieferer.

Und vor allem setzen sie ihre Projektidee um. „Wir interessieren uns mehr für das soziale Projekt“, sagt Pierre, der nach der Frühschicht (drei bis acht Uhr morgens) und vor seiner Mittagsruhe Auskunft gibt. Im Oktober 2012 hat die Bäckerei einen Sozialtarif eingeführt: 75 Cent das Baguette für diejenigen, die danach fragen, anstelle von einem Euro. „Wir machen das ohne Einkommensnachweis, wir möchten den Leuten vertrauen. Diese Ideologie, die aus Armen Profitjäger macht, lehnen wir ab.“ Die anarchistischen Bäcker organisieren auch Stadtteilmahlzeiten in der Cité Jules Ferry oder liefern Brot an streikende Arbeiter, zum Beispiel von der Autofabrik PSA in Aulnay, oder im vergangenen Jahr an die der Erdölraffinerie von Grandpuits.

Zeit für Aushandlungen, Zeit für gutes Brot

Intern wird Demokratie in die Tat umgesetzt. Alle Mitarbeiter erhalten 1350 Euro netto pro Monat. Eine Vollversammlung findet alle 15 Tage statt. Entscheidungen werden einstimmig getroffen. „Es ist schon vorgekommen, dass wir gewählt haben, aber nicht bei wichtigen Angelegenheiten.“, sagt Pierre Pavin. Das große Problem im Moment ist die Diskussion um die Arbeitszeit: Die Bäcker arbeiten zwar sehr früh am Morgen, aber weniger Stunden als diejenigen, die im Laden verkaufen. Und der Mitarbeiter im Lieferdienst wird oft kurzfristig zu jeder denkbaren Uhrzeit angerufen. Man muss eine für alle gerechte Übereinkunft finden.

Und dann ist da noch das Produkt selbst: Die verwendeten Zutaten sind qualitativ hochwertig, stammen fast alle aus ökologischer Landwirtschaft, und das Mehl (zwei Tonnen pro Woche) wird von einem Müller geliefert, der sein Getreide mit Stein mahlt. Insbesondere wird sich Zeit genommen, den Brotteig gut gehen zu lassen, den Prozess zu bremsen, die Gärung langsam geschehen zu lassen.

Im Untergeschoss erläutert Mathieu die Etappen für die Erzeugung von gutem Brot. Er ist seit drei Monaten bei der Kooperative, dafür hat er seinen Beruf als Grafiker aufgegeben, denn Bäcker ist für ihn „ein lebensnotwendiger Beruf, um Menschen zu ernähren“. Die Etappen also: Die Teigmasse in der Knetmaschine vorbereiten, in Behälter füllen, den Teig gehen lassen - 14 Stunden, das ist eines der Qualitätsgeheimnisse. Im Anschluss: den Teig teilen, formen und schließlich im glühend heißen Ofen backen. Ein Beruf, für den Aufmerksamkeit und Geduld notwendig sind, in dem man schnell handeln muss und dies in großer Hitze. „Im Sommer kann es bis zu 40 Grad heiß werden“, sagt Mathieu. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob das schlimmer ist, als den ganzen Tag vor einem Computer zu sitzen.“

Nun ist es Zeit zu gehen. Dabei kann man nicht widerstehen, in ein Pain au chocolat zu beißen wie die Kinder, die im Geschäft ein- und ausgehen. Ob es Kropotkin oder Elisée Reclus heißt, weiß man nicht, aber es schmeckt richtig gut.

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