Gesundheit als oberstes Prinzip
Im Mittelpunkt des Werks von Juli Zeh stehen soziale Themen und drängende Fragen zur menschlichen Natur, zu Moral und Recht. Das gilt auch für die Dystopie
Corpus Delicti. Ein Prozess (2009, tsch.
Ve jménu Metody, 2021), die ursprünglich als Theaterstück unter dem Titel
Corpus Delicti. Ein Prozess geschrieben und 2007 bei der Ruhrtriennale in Essen aufgeführt wurde. Mit ihrer Zukunftsvision griff sie nicht nur das Problem der Einschränkung der Freiheit zur Erhebung personenbezogener Daten auf, sondern nahm auch die Fallstricke der strengen Coronabeschränkungen um zehn Jahre vorweg. Die Gruppe RAK (Recht auf Krankheit), die sich im Roman gegen den kompromisslosen Totalitarismus auflehnt, erinnert an die immer stärker werdenden Stimmen der heutigen Impfgegner. Es ist also kein Wunder, dass die tschechische Übersetzung in dieser turbulenten Zeit in die Buchhandlungen kommt und uns zeigt, in welche Richtung wir uns unter der Herrschaft der Politik der Angst vor Krankheiten entwickeln könnten.
Der Roman
Ve jménu Metody zeigt Elemente der klassischen Anti-Utopie, wie wir sie aus der Feder von
George Orwell oder
Margaret Atwood kennen, während die Handlung uns in die Welt einer Gesundheitsdiktatur im Deutschland der Mitte des 21. Jahrhunderts versetzt, in der die körperliche Gesundheit zum A und O jeglichen staatlichen Funktionierens wird. Das Buch beginnt mit einer kurzen Definition des Begriffs "Gesundheit" aus Heinrich Kramers fiktivem Werk, gefolgt von der Verurteilung der jungen Naturforscherin Mia Holl, die wegen feindlicher Handlungen gegen die Methode "eingefroren" werden soll. Letztere wird als unfehlbare staatliche Ordnung dargestellt, die sowohl das persönliche als auch das allgemeine Wohlbefinden ohne Krankheit garantiert. Das Buch weist auch Elemente eines Polit-Justiz-Thrillers auf, da Mia versucht, den Tod ihres Bruders Moritz aufzuklären, der aufgrund von DNA-Analysen als Mörder verurteilt wurde. Die Protagonistin, die anfangs eine Anhängerin der Methode ist, versetzt dem Regime einen schweren Schlag, indem sie die Unschuld ihres Bruders aufdeckt. Die kompromisslosen Prinzipien der Methode werden von der bis dahin rationalen Mia als legitim angesehen, da das einzige biologische Ziel aller Organismen die Gesundheit ist. Der Geist tritt in den Hintergrund, und der Körper wird als Apparat, der das reibungslose Funktionieren des Staates ermöglicht, über alles andere gestellt. Als Mia, die sich weigert, ihren Geist dem Staat zur Verfügung zu stellen, vom Gericht verboten wird, privat zu trauern, und sie gezwungen wird, sich einer Behandlung zu unterziehen, beginnt sie allmählich, sich dem System zu widersetzen. Mit ihren "ansteckenden Gedanken" wird sie für die Methode zu einem "überaus gefährlichen Virus".
Kramer gegen Holl
Der geistige Vater des absoluten Prinzips "Gesundheit als staatliche Legitimation" ist Moritz' und Mias Gegenspieler Heinrich Kramer, der in den Medien Plattitüden über gesunden Menschenverstand und den Weg zum Wohlstand verbreitet. Um die Stabilität und das Gedeihen der Gesellschaft zu gewährleisten, heiligt er jedes Mittel. Er nutzt den Fall Mia Holl, um die Methode zu testen und zu stärken, und schreckt auch nicht davor zurück, die Fakten zu manipulieren. Bei dem Versuch der Heldin, Kramers Werk zum Einsturz zu bringen, wird sie von einer materialisierten Halluzination einer "imaginären Geliebten" angetrieben, die ihr ihr Bruder vor seinem Tod vermacht hat. Die Geliebte kann Gegenstände bewegen, bespricht ihre Situation mit Mia und bezeichnet sie als Hexe. Sie bewegt sich am Rande der Normalität, ist weder Opfer noch Täterin, und als Kämpferin für persönliche Freiheit in Kramers Diktatur muss sie von einem Inquisitor verfolgt und gefoltert werden, und zwar von einem fast diabolischen, denn Kramer zieht die Protagonistin gewissermaßen an. Die bewusste Namenswahl für die beiden Protagonisten wird den Leser nicht überraschen -
Heinrich Kramers Namensvetter war ein Mitverfasser der Schrift
Der Hexenhammer (1486), während Maria Holl (Mia ist ursprünglich eine Koseform von Maria), die ein Jahrhundert später lebte, bei den Prozessen im schwäbischen Nördlingen als Hexe gefoltert wurde. Dieses Vermächtnis stellt die Rückkehr zu inszenierten Prozessen im Namen extremer Rationalität auf eine Stufe mit den fanatischen mittelalterlichen Prozessen und zeigt, dass die Menschheit im Namen "höherer Prinzipien" immer wieder fatale Fehler begeht, die zu einem vegetativen Zustand des Lebens des Körpers ohne Geist führen können. Mias Entwicklung zu einer wagemutigen "Terroristin", die Kramers kranke Vision des Staates zerschlagen will, indem sie sich den Chip, der alle Aktivitäten überwacht, drastisch aus dem Arm reißt, ist das, was wir in der Handlung sehnsüchtig erwarten. Eine Katharsis bietet der Schluss der Lektüre jedoch bewusst nicht.
An einigen Stellen erinnert die Zukunftsdarstellung des Romans an den Actionfilm
Demolition Man (1993), in dem die analoge Strafe "kryogenisches Gefängnis" heißt. In beiden Dystopien gelten Kaffee, Zigaretten und Alkohol als illegale Giftstoffe, unhygienischer Körperkontakt wird kaum praktiziert, und die Menschen stehen unter ständiger staatlicher Gesundheitsüberwachung. Der Staat überrascht jedoch mit Zehs inkonsequenter Nachsicht, denn Moritz zum Beispiel bekommt jedes Mal problemlos sowohl Zigaretten als auch eine unerlaubte Zone in seiner Wald-"Kathedrale", so wie Mias Anwalt eine Flasche verbotenen Champagner bekommt. Die scheinbare Freiwilligkeit, im Namen der Methode zu leben, wird durch die Notwendigkeit untergraben, eine große bewaffnete Truppe bereitzuhalten, um gegen potenzielle Gegner vorzugehen. Die Prämisse der kollektiven Gesundheit der Gesellschaft ist die gemeinsame Anstrengung aller Bürger. Der allwissende Große Bruder wird in dem Buch also nicht nur durch den obligatorischen Chip unter der Haut repräsentiert, sondern auch durch die gesamte Bevölkerung, die bereitwillig jede noch so kleine Übertretung an die zuständigen Behörden meldet.
Das Joch der empirischen Daten
Die Liebe wird zu einem "Produkt immunologischer Optimierungsverfahren", und da alles von einem pathologisch gesunden Staat gesteuert wird, kann eine gesunde Familie nur mit einem kompatiblen Typ gegründet werden. Die Erfassung und Manipulation präziser biometrischer Daten sowie die Einschränkung des Lebensraums aufgrund der Ansteckungsgefahr sind eine prophetische Satire auf die heutige Zeit, in der jeder Klick im Internet oder jeder Arztbesuch eine leicht verwertbare, unauslöschliche Datenspur hinterlässt. Leider dient die Datenerhebung selten dem Schutz des Einzelnen, auch wenn Kramer versucht, das Gegenteil zu vermitteln. Eine positive Parallele zu dem, was heute in der Welt geschieht, findet sich in der "Verlangsamung" und "Beruhigung der Menschheit", die der Natur geholfen hat, wieder tief durchzuatmen. Aber ein sauberer Planet kann die negativen Auswirkungen der Gesundheitsdiktatur nicht ausgleichen. Der Angriff auf die persönliche Freiheit lässt Zeh auch in ihrem Privatleben nicht in Ruhe. Sie sprach sich 2008 öffentlich gegen die Fingerabdruckpflicht in biometrischen Pässen aus, ist eine der Initiatorinnen der Charta der Digitalen Grundrechte in einer digitalen Welt und spricht sich seit Beginn der Covid-19-Pandemie gegen Lockdowns und die Einführung einer Impfpflicht aus. Im Jahr 2020 veröffentlichte sie ein fiktives Interview
Fragen zu "Corpus Delicti", in dem sie Antworten auf den Verfall von Werten und Moral in der modernen demokratischen Gesellschaft formuliert.
Corpus Delicti. Ein Prozess zeichnet sich durch sorgfältige Komposition, bissige Dialoge und Minimalismus aus - kurze Kapitel mit Romantiteln werden schnell mit einfachen Szenen (Mias Wohnung, der Gerichtssaal, die Zelle oder die verbotene Zone am Fluss) durchsetzt, was dem ursprünglichen Genre des Dramas entspricht. In knapper und einfacher Sprache lässt die Autorin die Verteidiger der Methode ihre Plattitüden zum Besten geben und betont dadurch die Kälte und Entmenschlichung der beschriebenen Zukunft. Durch präzise Gleichnisse gelingt es ihr, die schwer zu beschreibende Tiefe von Mias Trauer anschaulich darzustellen ("Niemand", sagt Mia, "kann nachvollziehen, was ich durchmache. Nicht einmal ich selbst. Wäre ich ein Hund - ich würde mich ankläffen, damit ich nicht näher komme"). Zeh arbeitet auch mit Übertreibungen - der Ausdruck der Überraschung ist oft der Satz "Hol mich der Virus!" und der obligatorische Gruß "Santé", was "Prost" bedeutet. Einige Rezensenten werfen Zeh trockene, mechanische Charaktere und unnatürliche Konflikte vor, aber diese spiegeln erfolgreich die Seelenlosigkeit des scheinbar idealen Staates wider. Der Roman wurde bald zu einem viel beachteten Werk in der deutschen Oberstufe und ist nicht nur wegen seiner Aktualität lesenswert, sondern auch, weil er auf beiden Seiten überzeugende Argumente liefert und das Problem einer (anti-)utopischen gesunden Gesellschaft von allen Seiten beleuchtet.
© Adéla Grimes
Die Autorin ist Redakteurin und Hochschullehrerin an der Palacký-Universität.
Die Rezension wurde in Zusammenarbeit mit dem Online-Literaturmagazin
iLiteratura verfasst.