Erinnerungskultur
Pflastersteine gegen das Vergessen
Der Künstler Gunter Demnig verlegt seit 25 Jahren Steine zur Erinnerung an Verfolgte und Ermordete des Nationalsozialismus. Für die Nachgeborenen werden sie zum lebendigen Geschichtsunterricht.
Von Wolfgang Mulke
Wer durch die Crellestraße im Berliner Bezirk Schöneberg läuft, stößt bald an einen der dort verlegten Stolpersteine. Die kleinen ins Pflaster eingelassenen Bronzequader fallen ins Auge: Vier glänzende Steine stehen für das Schicksal der Familie Davidson, zwei für das Ehepaar Marchand. Die einstigen jüdischen Nachbar*innen wurden in Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet. Das soll niemals vergessen werden.
An Menschen wie die Davidsons und Marchands erinnern, all die zwischen 1933 und 1945 verfolgten Mitbürger*innen – das wollte der Bildhauer Gunter Demnig, als er 1996 den ersten Stein in Berlin in die Erde setzte. „Kann es wieder geschehen?“, sagt er, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 geboren wurde. „Diese Frage stelle ich mir immer wieder.“ Allein aus Schöneberg wurden damals 6.000 Juden und Jüdinnen und andere Verfolgte deportiert und ermordet. Besonders viele wohnten im Bayrischen Viertel, nicht weit entfernt vom Bezirksrathaus. Auch für den Physik-Nobelpreisträger Albert Einstein, der vor den Nazis in die USA fliehen musste, ruht ein Stein im Straßenpflaster.
Gunter Demnig ahnte damals nicht, was aus dem als Kunstprojekt einmal werden sollte. Die Idee fand schnell Verbreitung. Heute finden sich allein in Deutschland in rund 1.200 Kommunen die Erinnerungssteine. Und Demnig bepflastert damit auch bereits andere Länder: In allen von Deutschland einst besetzten Gebieten, derzeit in 27 Ländern, lebt die dunkle Vergangenheit wieder auf. Mittlerweile sind es 80.000 Stolpersteine geworden. „Es ist eine Erfolgsgeschichte, die ich mir nicht hätte träumen lassen“, sagt Demnig.
Mit Füßen getreten
Insbesondere in der jüdischen Gemeinde jedoch stößt diese Art der Erinnerung auch auf Kritik. In München darf Demnig zum Beispiel keine Stolpersteine setzen. „Menschen treten auf die Stolpersteine oder gehen achtlos darüber hinweg“, sagte Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München. Die Kritik wirkte: Der Münchner Stadtrat verbot in den 2000ern die Stolpersteine, seitdem dürfen nur noch Stelen an Verfolgte erinnern. Doch die Entscheidung ist in der Bevölkerung bis heute umstritten. Eine Gegeninitiative lässt seit 2018 auf privaten Grundstücken dennoch Steine verlegen, zur Einweihung kommen Angehörige und Mitglieder jüdischer Gemeinden.
Demnig kann die Entscheidung der Stadt München nicht nachvollziehen. „Ich finde den Vorwurf absurd“, sagt er. Mit diesem Argument dürfte auch niemand den Petersdom betreten, unter dessen Bodenplatten Gräber liegen. Viele sehen das offensichtlich ähnlich, denn die Nachfrage nach Stolpersteinen ist ungebrochen. 150 der 10 x 10 Zentimeter großen Quader verlegt Demnig monatlich. Wer bei ihm anfragt, muss bisweilen lange warten, bis der gewünschte Stein gesetzt wird. In Amsterdam sind es mittlerweile vier Jahre.
Neue Freundschaften entstehen
Einen Effekt hat das Projekt auf jeden Fall: Es hält die Erinnerung für die Nachgeborenen wach. Für Schüler*innen sei es wichtig, dass sie in der abstrakten Zahl von sechs Millionen ermordeter Juden und Jüdinnen einen früheren Nachbarn oder frühere Mitschüler*innen ihrer Angehörigen erkennen könnten, erklärt der Künstler. „Wenn die Angehörigen dann davon erzählen, ist es eine andere Art von Geschichtsunterricht.“
Auch bei Simon Lütgemeyer und seiner Familie hat das Projekt etwas angestoßen. „Zwei Stolpersteine vor dem Nachbarhaus brachten mich ins Grübeln“, erinnert sich der Architekt, der in einem Altbauviertel im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg wohnt. Gemeinsam mit seiner Frau forschte er in der Geschichte des Hauses nach, in dem er selbst wohnt – und stieß dabei auf die Nachfahren der einstigen jüdischen Eigentümerfamilie. Die Enkel lebten in den USA. Es entstand ein intensiver Kontakt und bald schauten die beiden über 80-jährigen Brüder Peter und Werner Gossels sogar in Berlin vorbei.
Gerne hätte Lütgemeyer auch für ihre verfolgten Vorfahren Stolpersteine gesetzt. Doch das wollten die Gossels nicht. Sie konnten sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass ihre Namen womöglich mit Füßen getreten werden. Nun wird auch hier anders erinnert, mit einer Gedenktafel im Eingangsflur des Hauses. Mittlerweile ist über die Brüder Gossels auch die Universitätsleitung der Brandeis University bei Boston auf die Nachforschungen Lütgemeyers aufmerksam geworden und hat ihn eingeladen, um mehr über sein Rechercheprojekt zu erfahren.