Kultur

Wer hat das so bescheuert kaputt gemacht?

Quelle: Film Servis Festival Karlovy VaryQuelle: Film Servis Festival Karlovy Vary
Věra Chytilová, Quelle: Film Servis Festival Karlovy Vary

Věra Chytilová ist gestorben. Eine Regisseurin, die sich an der kaputten Zeit abarbeitete – vor und nach der Samtenen Revolution.

Als am Mittwoch, den 12. März 2014 die berühmteste tschechische Regisseurin Věra Chytilová im Alter von 85 Jahren gestorben ist, reagierten die sozialen Netzwerke nicht nur mit den obligatorischen, unpersönlichen „RIP-Posts“ oder der Aufzählung ihrer bekanntesten Filme, so wie es normalerweise üblich ist, wenn irgendein Filmstar stirbt. Věra Chytilová, eine führende Protagonistin der Tschechoslowakischen Neuen Welle, war nämlich alles Mögliche, nur nicht „irgendjemand“.

Die Regisseurin war auch lange Jahre als Dozentin an der Prager Filmhochschule FAMU tätig. Und auch wenn sie in den letzten Jahren vielleicht nur einmal wöchentlich lehrte, hat sie die Studenten offenbar nach wie vor außerordentlich geprägt. Und so gab es jetzt auf Facebook Mitteilungen darüber, wie es bei ihr nie etwas umsonst gab, wie sie von den Studenten forderte, ständig über ihre Arbeit nachzudenken, wie sie, wenn sie gut gelaunt war, fragte „Wo verdammt ist dein Thema?“ oder „Können Sie überhaupt lesen?“, wenn sie mal nicht so gut aufgelegt war. Sie hat das nicht böse gemeint, das war ihre kompromisslose Art, mit der sie das Beste aus den Menschen herauskitzeln wollte. Und den gleichen Anspruch hatte sie an sich selbst.

Věra Chytilová war energisch, ehrgeizig, verbissen, und sie nahm kein Blatt vor den Mund. „Wer hat das so bescheuert kaputt gemacht?“ fragt sie in dem unvergessenen Trailer für das Karlsbader Filmfestival und versucht, mit Klebstoff, der „nicht fließt“, den kaputten Kristallglobus zu flicken, den sie im Jahre 2000 für ihren Beitrag zum Weltkino verliehen bekam. Auch in ihren Filmen hat sie sich stets mit der „kaputten“ Zeit auseinandergesetzt, ob nun mit der so genannten Normalisierung der 70er und 80er Jahre oder mit der postkommunistischen Realität nach 1989. Věra Chytilová hatte nie Hemmungen, die Gesellschaft anzuprangern, und in der Darstellung der „tschechischen Kleingeistigkeit“ ist sie bis heute konkurrenzlos.

Wie eine Offenbarung

Mit dem Film kam die in Ostrava geborene Chytilová über ihre Tätigkeit als Model in Berührung. Auf einer Modenschau wurde Drehbuchautor Jiří Brdečka auf sie aufmerksam und gab ihr daraufhin eine kleine Rolle als eine der Hofdamen im Film Der Kaiser und sein Bäcker (Císařův pekař a pekařův císař). Vor der Kamera blieb sie jedoch nicht lange – zuerst schlug sie in den Barrandov-Studios die Filmklappe, dann schrieb sie sich für das Fach Regie an der FAMU ein. An der Filmhochschule hatte sie es zu Beginn nicht leicht, einmal drohte sogar der Rausschmiss. Dennoch erntete sie bereits 1961 mit ihrem Abschlussfilm Strop (Die Decke) Respekt. Vier Jahre später war sie als Regisseurin an dem berühmten Episodenfilm Perličky na dně (Perlen auf dem Grund) beteiligt, der nach einem Roman von Bohumil Hrabal entstand. Ein Jahr darauf präsentierte sie ihren ersten abendfüllenden Spielfilm.

Er hieß Sedmikrásky (Tausendschönchen), und innerhalb der tschechischen Filmgeschichte wirkt er bis heute wie eine Offenbarung. Der Film erzählt die Geschichte zweier junger Frauen, die „ihr ganzes Leben vor sich haben“ und die sich entschließen, verdorben zu sein. Sie spielen mit reichen Männern, die sie zu opulenten Festmahlen einladen, sie sind eitel und machen sich über Konventionen und das herrschende Patriarchat lustig. Der visuell beeindruckend gestaltete Film ist vor allem ein Fest des Nonkonformismus – die beiden Maries sind genau das Gegenteil dessen, was man sich nach geltenden gesellschaftlichen Konventionen als „anständige, ordentliche und bewusste“ junge Frauen, werdende Mütter und Beschäftigte vorstellt. Tausendschönchen ist ein vollkommen zeitloser Film, den man auch als Bild einer gelangweilten jungen Generation verstehen kann, die nicht weiß, warum und ob sie überhaupt existiert.

Mit etwas Übertreibung ähneln die von Männern umschwirrten Heldinnen auch Chytilová selbst, als sie zwischen 1957 und 1962 gemeinsam mit Jiří Menzel an der FAMU studierte und ihre Schönheit nicht ohne Resonanz blieb. Die Männer luden sie angeblich ständig zu Rendezvous ein, sie genoss es jedoch manchmal, sie wie lächerliche Bittsteller aussehen zu lassen. Für Filmregisseur Jiří Menzel war das eine wertvolle Erfahrung, bekannte er später in seiner Autobiografie Rozmarná léta (Launige Jahre): „Die Männer mit den Augen einer klugen Frau zu sehen war für mich eine nützliche Lektion.“

Quelle: Film Servis Festival Karlovy Vary
Aus dem Film „Sedmikrásky“ („Tausendschönchen“, 1966), Quelle: Film Servis Festival Karlovy Vary

Kompromisslose Gesellschaftskritik

Nach der Besetzung der Tschechoslowakei im Jahre 1968 musste Věra Chytilová eine Zwangspause einlegen, denn mit der sogenannten „Normalisierung“ ging ein Arbeitsverbot einher. Die Kämpferin Chytilová schrieb jedoch einen Brief an den damaligen Präsidenten Gustav Husák und kehrte 1976 mit dem Film Hra o jablko (Spiel um den Apfel) zurück. Dabei ging es jedoch nicht um Zugeständnisse an das Establishment. Die Regisseurin hat in zahlreichen Interviews geschildert, wie sie den kommunistischen Funktionären einen gewissen künstlerischen Freiraum abtrotzen konnte, um mit den dann entstehenden Filmen dem Regime die Stirn zu bieten. Gut zu sehen ist das beispielsweise in dem Film Panelstory aneb Jak se rodí sídliště (Geschichte der Wände oder Wie eine Siedlung entsteht) von 1979, ein depressiv freudloser Blick auf das Plattenbaugebiet der Prager Südstadt.

Der Film könnte ohne weiteres ein Porträt sozialer Planungspolitik sein, die für tausende junger Familien anständigen Wohnraum bereitstellte und es Rentnern vom Land ermöglichte, einen würdigen Lebensabend zu verbringen. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine beißende Satire über die chaotischen Zustände in einem Plattenbau, in dem nichts ordentlich funktioniert und deren Einwohner am Rande des Nervenzusammenbruchs knöcheltief durch Schlamm waten müssen, um in ihre Kojen zu gelangen. Junge Mütter, eingesperrt zwischen vier geschmacklos tapezierten Wänden, holen sich das Teewasser aus dem Toiletten-Spülkasten, und in Plattenbauwohnungen entsorgte Rentner leiden unter der Anonymität und den fehlenden nachbarschaftlichen Beziehungen. Dieses totale Chaos und die habsüchtige Kleinbürgerlichkeit wird von Chytilová mit einem feinnervig unsteten Blick perfekt entlarvt; konsequenterweise durfte der Film erst mit Verspätung in die Kinos.

Auch nach der Revolution rieb sie sich an den neuen Verhältnissen. Es störte sie, wie die Filmbranche privatisiert – also verändert – wurde, auch die geringe Vertretung von Frauen in der Politik war ihr ein Dorn im Auge. „Männer sind weniger verantwortungsbewusst, sie wollen vor allem ständig spielen, alles ist wie Fußball für sie, und dementsprechend sieht die Welt aus“, sagte die Regisseurin einmal in einem Interview für die Zeitung Právo. 1992 drehte sie dann die Komödie Dědictví aneb Kurvahošigutntág (The Inheritance or Fuckoffguysgoodday), die später Kultstatus erreichte. Darin erbt der Hinterwäldler Bohuš (gespielt von Chytilovás Stammschauspieler Bolek Polívka) im Zuge der Restitution ein riesiges Vermögen. Clevere Investitionen sind seine Sache jedoch nicht. Vielmehr verprasst er das Geld, kauft sich eine Satellitenschüssel, einen Strauß, einen Swimming-Pool, ein Riesen-Karussell. Er holt sich eine üppig gebaute Prostituierte ins Haus, die ihm nur das Geld aus den Taschen zieht, dabei ist die nette Wirtin seiner Dorfkneipe schon lange in ihn verliebt. Von der Kritik wurde der Film seinerzeit nicht einhellig gelobt; im Laufe der Zeit erkannte man aber seine Qualitäten immer deutlicher. Heute schätzt man den Streifen als gnadenloses Zeitporträt, in dem die verantwortungslosen neuen Millionäre, die keinen Schimmer davon haben, was sie mit ihrem Reichtum anfangen sollen, auf ironische Art und Weise lächerlich gemacht werden. Hauptdarsteller Polívka, der auch am Drehbuch mitarbeitete, steuerte kernige Sprüche bei, die oft zitiert wurden und ebenfalls Kultstatus erreichten. Der Karikatur als Stilmittel bediente sie sich auch in ihren drei letzten Filmen Pasti, pasti, pastičky (Große Fallen, kleine Fallen, 1998), Vyhnání z ráje (Die Vertreibung aus dem Paradies, 2001) und Hezké chvilky bez záruky (Schöne Augenblicke ohne Garantiey, 2006). Ihr Wunschprojekt, einen Film über die Schriftstellerin Božena Němcová, konnte sie leider nicht realisieren, und die Regie der Fortsetzung von Dědictví übernahm im vergangenen Jahr Robert Sedláček.

„Ich bin alt und will sitzen!“

An die Regisseurin erinnerte in den sozialen Netzwerken auch die Programmdirektorin des Filmfestivals Mezipatra Lucia Kajánková. Ihre unwiderstehlich komische Beobachtung sagt viel mehr über Věra Chytilová aus, als alles andere: „Meine liebste Erinnerung: Karlsbader Filmfestival, Mitternachtsvorstellung im Kino Čas, überfüllter Saal, auf dem Boden sitzende und dicht gedrängt stehende junge Filmfreaks. Auf einmal ein paar schmerzhafte Aufschreie derer, die mit dem Stock einen Schlag ins Bein bekommen, als sich Věra Chytilová mit einem kompromisslosen ‚Aus dem Weg! Ich bin alt und will sitzen!‘ ihren Weg durch die Menge bahnt. Sie kämpft sich bis zur Mitte des Saales durch, mit ihrem Stock und viel Geschrei bringt sie eine ganze Reihe zum Aufstehen, um sich dann schön in die Mitte zu setzen. Schnitt – der Film läuft ungefähr zehn Minuten, in die faszinierte Stille von uns Pseudointellektuellen ertönt es auf einmal ‚Das ist ein Scheißßßßßdreck! Steht auf, ich verschwinde!‘ Unter den ehrfürchtigen Schmerzschreien der Getroffenen verschwindet sie in die Nacht… Diese wundervolle, kompromisslose Frau, egal wo sie jetzt ist, gut soll es ihr dort ergehen, auf dass sie da gefälligst für Ordnung sorgt.“

Jan Škoda
Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
März 2014

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